Archiv für den Monat: Juli 2006

Der esoterische Zahn der I.

„Na, ein zweiter Zahn halt. Also ein eigentlich ein dritter, wenn man die Milchzähne mitzählt.“ berichtet die I. über die Zustände in ihrem Kiefer, und versenkt den Löffel in den zerlaufenden Resten einer Eisbombe. „Jedenfalls hat meine Zahnärztin mir dann geraten, mal untersuchen zu lassen, wie das ausschaut, wie sich der Zahn im Kiefer auswirkt, also eine Muskel…jedenfalls, irgendwas mit den Muskeln. Ich also hin, so ein Heilpraktiker.“ – Bei der Erwähnung des Heilpraktikers zieht der B., I.‘s Verlobter, ein wenig missbilligend die Augenbrauen zusammen, und der J. stößt ein komisches Geräusch aus, ähnlich dem, mit dem Luftballons ihren Inhalt in die Atmosphäre freisetzen, öffnet man den Knoten.

Ein Heilpraktiker also. „Ja, mir war auch nicht so klar, dass die Methode mit den Muskeln – dass das also ziemlich umstritten ist. Eher so Humbug, aber jedenfalls klopft der Mann an mir so herum, ich also keinen Schatten Misstrauen, und dann meint er, der Zahn im Kiefer würde also schon stören, liegt ja auch direkt an der Wurzel von dem Zahn darüber, und ich sollte ihn wirklich entfernen lassen. – Gut, sage ich, ich würde mich also bei der Zahnärztin melden, die mich dahingeschickt hatte, und einen Termin machen lassen.“

„Und ist der Zahn jetzt weg?“, frage ich und stürze ein weiteres Glas Wasser hinunter, denn für Wein ist viel zu heiß, und der schwere, spanische Wein zum Roastbeef liegt wie Leim auf meiner Zunge. „Nein, habe ich noch nicht geschafft.“, schüttelt die I. den Kopf. „Aber als ich so sage, ich würde die OP dann mal vereinbaren, da schaut mich der Heilpraktiker also an, und sagt ganz ernsthaft, also als ob das das Selbstverständlichste auf Erden sei, also so ganz normal ‚Frau S.‘, sagt er also, ‚lassen sie die OP aber nur bei abnehmendem Mond machen.‘ – Junge, Junge, habe ich da gedacht. Da bist du schön wo hingeraten.“ – Der B. schaut noch etwas gequälter drein, und der J. hebt kurz, aber missbilligend seinen Löffel.

„Aber wenn ich den Heilpraktiker jetzt wechsele, oder die OP einfach machen lassen, wenn es mir am besten passt, dann muss ich die Zahnärztin wechseln. Die ist da schon sehr überzeugt. Und meinen Orthopäden. Und Zahnärzte gibt es viele, aber gute Orthopäden?“ –„Was hat denn der Orthopäde damit zu tun?“, frage ich und rekapituliere den Bericht der I., in dem meiner Erinnerung nach bisher kein Orthopäde Erwähnung gefunden hat.

„Die hänge da alle irgendwie zusammen.“, deutet die I. ungefähr in die Weite über Berlin, und einen Moment stelle ich mir eine berlinweite Verschwörung von Ärzten vor, die denjenigen Studienfreunden, die das Physikum nicht bestanden haben und sich nun als Heilpraktiker durchschlagen, falls so etwas geht, ab und zu Aufträge zuschanzen.

„Und homöopathisch vor- und nachbereiten lassen soll ich den Eingriff auch.“, fährt die I. fort. „Jedenfalls habe ich mir gedacht, was kann’s schaden. Bis zum 15. August also, oder dann im September nach dem Urlaub.“

„Und du bist dir sicher, dass…“, beendet der J. seinen Satz nicht. „Ich glaube ohnehin nur an Antibiotika und Schneiden.“, gebe ich, nur leicht simplifizierend zum Besten, sammele die Teller ein und verteile den restlichen Wein auf die Gläser.

Die sehr gelungene Hochzeit der Cousine des J.

„Da will ich nicht hin.“, maule ich am Dienstag ein wenig herum und male mir leicht verdrossen die Hochzeit der Cousine des J. aus. Die Reden. Die Hochzeitszeitung. Das Brautpaar, wie es einen Baumstamm durchsägt und die stundenlange Zeremonie in einer Kirche. Sketche. „Und deine Familie…“, hebe ich an, bis der J. leicht gereizt die Augenbrauen zusammenzieht.

„Müssen wir da wirklich hin?“, frage ich einen Abend später und krause die Nase. „Da führt jetzt kein Weg vorbei!“, ordnet der J. an und weist auf das Harmoniebedürfnis seiner Mutter hin. Überdies, so fährt er fort, könne man die Störung, die von auffälligen Abwesenheiten naher Verwandter ausginge, seiner Großmutter nicht zumuten, und ein Kleid – nun, ein Kleid müsse ich mir eben noch kaufen. „Wann soll ich das denn nun noch machen!“, rufe ich dem J. hinterher, und diese Frage ist angesichts des Grades meiner Berufstätigkeit, die sich wirklich eine Vollzeitstellung nennen darf, als ganz und gar rhetorisch zu verstehen.

„Ist dir eigentlich klar, was das kostet?“, spiele ich am Donnerstag eine der letzten Karten aus, die ich auf der Hand habe und erwähne den exorbitanten Preis, de die Deutsche Bahn für die Beförderung von zwei Personen zum Ort der Vermählung berechnet. „Ganz schön teuer.“, gibt der J. zwar zu. Allerdings – und wohl oder übel – müsse man da nun einmal hin. Und immerhin sei das Essen vermutlich gut, seine Großmutter habe er lange nicht gesehen, und es habe deswegen überhaupt keinen Sinn, die Teilnahme an diesem Fest noch länger zu diskutieren.

Am Samstag morgen also laufe ich los. Ich kaufe ein Kleid, altrosa Seide mit aufgestickten Straßperlchen, eine Stola, finde keinen passenden Hut, schwitze, schleppe eine meterlange schlechte Laune hinter mir her und dusche wie eigentlich jeden Tag mehrfach ganz vergeblich. „Bist du fertig?“, brüllt der J. durch die Badezimmertür. „Komm‘ gleich.“, murmele ich zurück, schließe ein letztes Mal die Augen und denke an all das, was man mit dem Wochenende sonst noch so anfangen könnte. Mit der C. und der J. Baden fahren zum Beispiel. Unter einem Baum liegen und lesen. Einen Text schreiben, nach einem Spiegel und einer Garderobe suchen. Telefonieren oder einfach in einem Café sitzen, stundenlang, und über lauter Dinge sprechen, die angenehm sind und nichts zu tun haben mit Hochzeiten oder ähnlich unangenehmen Dingen, die es gibt, ohne dass irgendjemand wüsste, wozu.

„Wir müssen dann mal los.“, greift der J. nach meiner Tasche, und schwitzend, ächzend und ein wenig müde dazu schleppe ich mich über die Schwedter Straße. Im Bahnhof ist es voll.

„Eigentlich eine blöde Idee.“, gibt nun auch der J. zu, einbetoniert in einen dunklen Anzug. „Eigentlich eine miese Sippe.“, und erzählt lauter Details aus dem Familienleben seiner Anverwandten, die man schon aus Diskretionsgründen nicht der Öffentlichkeit anvertrauen mag, und lässt die Mundwinkel hängen. „Du wolltest da doch hin!“, beschwere ich mich und schaue auf die Uhr. Ausreichend Zeit. „Lass uns erst mal was essen.“

„De Sketche!“, jammert nun auch der J. „Meine dicke Tante. Die Hochzeitsreden. Und bestimmt haben die beiden nur ganz komische Freunde.“, lamentiert er weiter. „Eigentlich eine Frechheit, einen einzuladen, und man muss dann dahin.“, und stochert in einer lieblos zusammengerührten Portion Bratnudeln.

„Wir müssen dann wohl mal los.“, schaue ich auf die Uhr und versuche mit zusammengekniffenen Augen zu erkennen, auf welchem Bahnsteig der ICE einfährt. „Oder bleiben wir einfach hier?“, glitzert es sehnsüchtig in den Augen des J. „Sagen, wir hätten den Zug verpasst?“ – Erwartungsvoll sitzt der J. mir gegenüber und schaut mich an. „Teufel werde ich tun, dich und deine Sippe….“, sage ich schließlich, zwei Minuten später, und stehe auf.

Als wir auf dem Bahnsteig stehen, fährt der ICE los. „Tja, dann….“, dreht sich der J. um. „Fahren wir jetzt nach Hause?“, frage ich erwartungsfroh, und der J. schüttelt resigniert den Kopf. Also nein.

Eine geschlagene Stunden streifen wir durch den Bahnhof, kaufen ziellos irgendwelche Gegenstände, trinken Wasser, beobachten aufmerksam die Tätowierungen fremder Menschen und blättern in der Karte einer Eisdiele. „Geht nicht mehr.“, schaut der J. auf die Uhr. „Müssen los.“ – Erneut steigen wir die Treppe aufwärts, der J. trägt die Tasche, ich schleppe schwer an der Last meiner schlechten Laune, und der ICE, so ist der Tafel zu entnehmen, die über dem Bahnsteig hängt, hat zehn Minuten Verspätung.

„Wenn der jetzt noch später kommt, fahren wir nach Hause.“, beschließt der J. und ich nicke, stelle meine Tasche ab, zähle untätowierte Menschen in meiner Nähe und komme auf drei, halte Ausschau nach einem Wagen, wo man Wasser kaufen kann, und warte auf den Zug. Zur Kirche, soviel ist sicher, sind wir zu spät. Wenigstens etwas, denke ich, und betrachte verträumt die Anzeigetafel. Wenn der jetzt noch später kommt…, denke ich.

„…erhöht sich die Verspätung auf etwa dreißig Minuten!“, schallt es über den Bahnsteig, und ich tippe den J. an. „Wir fahren nach Hause.“, sage ich.

Und während der J. seinen Eltern telephonisch zu erklären versucht, warum er mitsamt Begleitung nicht der Hochzeit seiner Cousine beiwohnen wird, segne ich bei mir die Deutsche Bahn AG, die schlechten Bratnudeln, die unerträgliche Hitze und überhaupt alles, mich und den J. und den Samstag und die Sonne und Berlin, während die lustigen Götter der Familienfreiheit unter der hohen Decke des Berliner Hauptbahnhofs mit gnädigem Kichern unseren Abzug begleiten.

Marie Bashkirtseff

Von Nizza nach Rom, von Rom nach Neapel, hin und her, Baden-Baden, Genf, auf ein paar Wochen nach Russland, und immer weiter mit einem Tross Dienerschaft, den langsam verblühenden Tanten, der blassen, schwachen Mutter, um schließlich 1884 in Paris zu sterben, 24 Jahre alt. Notre dame du sleeping car, nennt sie ein Freund, unsere liebe Frau von der ewigen Unruh‘, ein anderer, und unklar bleibt, was es ist, das es sie weiter treibt, von einem Ort des eleganten Europa zum nächsten. Vielleicht ist’s auch gar kein Fernweh, kein Wunsch, an einem anderen Ort das Glück zu suchen, das nie dort ist, wo Maries Koffer gerade stehen. Vielleicht ist es einfach gedankenlose Gewohnheit eines Kindes, das ein Daheim nicht mehr kennt, seit die Eltern sich trennen, schon bald nach der Hochzeit, und die Mutter mit Dienerschaft und Tanten, Zofen und Lakaien, einem Mohrenknaben und mitreisenden Ärzten Russland verlässt, um auf eine endlose Reise zu gehen von Hotel zu Hotel, einmal quer durch Europa.

Fremd erscheint ihr nun der russische Distrikt ihrer frühen Kindheit. Langweilig sind die ländlichen Wolfsjagden und die immergleiche, folgenlose Galanterie der ländlichen Bekannten, besucht sie einmal ihren Vater. Fremd auch ist die russische Sprache geworden, die sie nur noch mit den Dienern spricht. Das Tagebuch, das sie nach ihrem Tode erst bekannt machen wird, führt sie auf Französisch, aber auch das Französische bleibt ihr letztlich fremd, und sie merkt es, wie auch Italienisch, Englisch, ein wenig Deutsch, aber es wird nichts Rechtes mit den Sprachkünsten der kleinen Marie, die nach raschen Lernerfolgen – denn Marie ist begabt – sich gelangweilt abwendet, sobald die Mühen beginnen. Rasch fasst sie auf, bringt es in allem, was sie tut, auf schnelle Kunstfertigkeit. Sie liest, sie spielt, sie tut, was sie tut zum Entzücken ihrer Tanten, aber dieses Entzücken reicht ihr nicht, und alle Bewunderung, die man ihr entgegenbringt, wird ihr nie reichen, denn das eigentliche Ziel des Mädchens, das mit zwölf Jahren sein Tagebuch beginnt, ist der Ruhm, eine vage Vorstellung von Größe und Bedeutung. Ich möchte Cäsar sein, Augustus, Marc Aurel, Nero, Caracalla, der Teufel, der Papst!, wirft sie ungeduldig auf die Seiten ihres Tagebuchs, da ist sie 15 Jahre alt und erträgt es kaum, noch nicht berühmt zu sein, wofür auch immer. Willensstark ist Marie, heftig und schwankend in ihren Wünschen.

Eine große Sängerin will sie sein, singt, bis ihr die Stimmbänder versagen, und sie den Traum von der Bühne begraben muss. Einen Herzog zu heiraten, den Neffen eines Kardinals, eine große Dame zu sein der Gesellschaft, die sich ihr nicht ganz öffnet, denn ein wenig obskur mögen die reichen Russen des kleinen Landadels der ansässigen Gesellschaft erscheinen. Vielleicht wird der Reichtum ein wenig zu laut zelebriert, vielleicht erscheint das fahrende Leben zwischen Hotels und stetigen Aufbrüchen ein wenig anrüchig, oder es reicht schlicht das Geld nicht, um dies vergessen zu machen, und so wird es nichts mit Maries Träumen von einer Hochzeit, die Glanz und Größe ohne eigenes Zutun eröffnet.

Dass es nicht die Liebe ist, die ihr Interesse an den Bewerbern erregt, konstatiert sie selber, denn kühl, erbarmungslos mit jeder Regung der eigenen Seele zeichnet sie die Schwankungen des eigenen Gemüts auf: Wie sie nur in Abwesenheit liebt, die Spottlust und die Kälte in Gegenwart der Verehrer, überhaupt, aus welchen nicht immer reinen Quellen ihre Neigung sich speist, und das eigentlich Abstoßende der Berechnung verwandelt sich beim Lesen in einen leises Mitleid mit der Ziellosigkeit einer kleinen Prinzessin, die nicht fassen kann, das ihr das Leben nicht alles schenken mag, was es anderen zu bieten bereit ist, und auch die Fassungslosigkeit aufschreibt mit der ganzen exhibitionistischen Grazie vollkommener Aufrichtigkeit.

Die Schonungslosigkeit im Umgang mit der eigenen Seele ist es auch, die versöhnt mit ihrer grotesken Selbstverliebtheit, die sich immer wieder in langen Schilderungen ergeht, wie sie am Balkon sitzt etwa, in einem weißen Kleid, was sie trägt, lauter lebende Bilder mit Marie im Mittelpunkt. Die ridiküle Bewunderung ihrer schönen Hände, des reinen Gesichts, denn hübsch ist sie wirklich, den Photographien und Portraits zufolge, ein reizendes Mädchen, dem die Heftigkeit des Temperaments nicht anzusehen ist, das stets schwankende Gemüt, das sich liebt, hasst, vergöttert, das Höchste von sich erwartet und zutiefst enttäuscht ist, bleibt sie sich schuldig, was sie von sich verlangt.

Eine große Sängerin wird sie also nicht werden, der der Tod von den Stimmbändern langsam Richtung Lunge kriecht und ihr den Körper zersetzen wird. Der sie ein paar Jahre später das Gehör kosten wird, noch ist sie keine 21, und die sich beobachtet wie eine Fremde, eine Verdopplung in zweimal Marie: Eine Marie, die sich erregt zu Boden wirft, ihre Handschuhe aus dem Fenster fallen lässt, einen Uhr ins Meer wirft vom Nizzaer Balkon des Hotel Negresco, die weint, die Dienstboten quält, um sodann übertriebene Geschenke zu senden, alle Welt zu umarmen und sich wieder zu versöhnen, so geräuschvoll wie der Streit. Eine andere, die neben sich steht, sich beobachtet, und sich mit jener anderen Person nur vereint, um Stoßseufzer zu Himmel zu schicken, an deren Vergeblichkeit sie von Jahr zu Jahr weniger vorbei kommt. Mein Gott, wenn du mich leben lässt, wie ich es wünsche; ich verspreche dir, mein Gott, wenn du Mitleid mit mir hast, ich verspreche dir von Charkow bis nach Kiew zu Fuß zu gehen wie die Pilger. , schreibt sie, aber Gott, dem sie den zehnten Teil ihrer Einnahmen verspricht, ist nicht gnädig, und der Ruhm kommt nicht zu ihr noch das glänzende Leben.

Einen Versuch unternimmt sie noch, beginnt zu malen, schließt sich einem Atelier an, das auch Frauen ausbildet, und wundert sich, dass die anderen Schülerinnen sie, die mit ihren Dienern erscheint und sich Mahlzeiten aus den Küchen der großen Hotels kommen lässt, nicht mögen. Wie in allem was sie tut, bleiben auch hier die Erfolge nicht aus, sie stellt aus, findet Förderer, und ist doch nicht zufrieden, denn sie selbst, sie selbst hat mehr von sich erwartet als die letztlich nur handwerklichen Fertigkeiten, die ihren Bildern anzusehen sind, auch wenn sie Erfolge einfährt, um die andere sie beneiden.

Sie malt wie besessen, denn der Ruhm muss doch kommen. Sie verlässt Paris nur noch selten, denn da steht das Atelier, das letzte schmale Tor zu Berühmtheit und Größe. Sie übernimmt sich, malt Tag und Nacht und verpasst doch die Maler der jüngsten Generation, die in den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts groß werden, die Impressionisten, den Pointillisten, und eifert den akademischen Lehrern nach, vielleicht auch verblendet von dem Glanz, der diesen sichtbar und sofort zuteil wird, und jenen erst später, aber da ist Marie schon lange tot.

Ein wenig trauert man mit ihr um den vergeblichen Traum von Unsterblichkeit zu Lebzeiten. Ein wenig schüttelt man den Kopf vor der Eifersucht auf jeden Erfolg der anderen Schülerinnen, der Heftigkeit, den immer schriller werdenden Klagen und der Enttäuschung der Zwanzigjährigen, die zusehends müde wird, weil ihr nicht reicht, nie reicht, was das Leben ihr schenkt. Blick- und gedankenlos geht sie vorbei an allem, was das Paris jener Tage zu bieten hat, diese satte, üppige Stadt, strotzend vor Lebenslust und Genussucht, all das, was sich darbietet in den Romanen von Flaubert, Balzac, den Novellen des Maupassant, mit dem sie einen törichten, anonymen Briefwechsel pflegt, um der Größe zumindest nahe zu sein. Das Leben mit dem Duft der Blumen, dem Wirbel der hungrigen, stetig wachsenden Städte, den gesunden Lungen und dem gesunden Appetit auf Skandale und Liebschaften, auf die schweren Braten und Weine dieser prosperierenden Tage: Keinen Niederschlag findet all das in ihrem Tagebuch, und so geht Marie am Leben, das sie haben könnte, vorbei zugunsten des Lebens, das sie nicht haben kann. Sie verbrennt sich dabei, überanstrengt sich, und die Last der Enttäuschung, der Mühe und der Müdigkeit der steten Anstrengungen und allzu kleinen Erfolge frisst an ihrer Gesundheit.

Mit 24 geht ihr der Atem aus. Ein paar Tage vor ihrem Tod ein letzter Eintrag, und man schließt das kleine Taschenbuch mit einer Beklemmung und einigem Mitleid mit dem ungelebten Leben des toten Mädchens, zu dem der Glanz nicht kommen wollte: Jene Gnade der Kunst, die zu erhalten es nicht reicht, sie so heftig zu begehren, dass es einen das Leben kostet, bis man nichts mehr davon haben wird, wenn das Protokoll dieses Scheiterns einmal berühmt werden soll, aber man selbst liegt längst schon im Grab in Paris Passy.

Azur

Ganz durchtränkt von Hitze, mit Sonne vollgesogen auf dem Balkon, und die Hand wird nass, wenn man die Wange darein stützt. Der Abend noch hüllt mich ein in lauter warme, klebrige Luft, und ermattet lächeln mir die Nachbarn zu, denen die Gläser fast zu schwer werden mit Wasser und Zitronen und Eiswürfeln darin. – Leg dich zu mir, flüstere ich des Nachts, aber komm‘ nicht zu nah, und die Luft selbst scheint schwerer zu sein, dichter und ganz, als presse die Hitze sie zusammen, bis man sie greifen könnte und hätte am Ende etwas Festes in der Hand. Langsam, träge, beschwert vom glutvollen Sommer schleppt ein Hund in dickem Pelz sich durch den Hinterhof, während die Sonne selbst, betäubt von der eigenen Hitze, zur Ruhe geht, abgelöst von einem reifen, gelben Mond.

Ein wenig betrunken scheint die Stadt, schwankend taumeln die Tage einher, und ganz von fern, aus der Weite hinter Berlin singt das Meer von Wind und Salz, von Kühle, Flut und Wassereis aus Plastikschläuchen. Noch einmal, denke ich, einen ganzen Sommer am See sitzen, nochmal ein paar Wochen mit zwei Taschen und einem Zugticket umherfahren, Penne mit gebratenem Gemüse auf einer nächtlichen Piazza, und die Jugendherberge in Lucca, eine Absteige in Marseille nahe dem Hafen, Florenz und am Morgen vorbei an San Lorenzo, wo die Medici begraben liegen. – Noch einmal schon morgens im Badeanzug den Hügel herabrollen, im Garten des B., der K., der S., deren Eltern am See gebaut hatten, liegen. Stege ins Wasser, Schwimmen, und mit dem Boot am Abend in die Mitte des Sees. Heimkommen am Abend, mein Vater am Grill, und die großen, getöpferten Schalen voll mit Salat, und die Terrasse voll mit den Freunden meiner Mutter. Tomaten aus dem Garten, Bellini und Prosecco auf Eis. Der betäubende Geruch nach Lavendel und der Kletterrose am Giebel, mit Blüten dichtbesetzt.

Leg dich zu mir, flüstere ich dem Sommer ins Ohr. Bleib, solange du kannst. Komm wieder mit Rosen und Booten, Lampions und nächtlichen Bädern. Schenk‘ die Gläser voll mit kaltem Hibiskustee am Tage und Weinschorle nachts. Leg‘ mir Forellen auf den Grill und lass mir Tomaten reifen, denen fast die Haut platzt vor lauter Duft, und die riechen, wie nur die Tomanten riechen, die man nicht kaufen kann.

Um eine zweite Sonne

Dein Büro, hell, sonnig, und benachbart die Kollegen, die du schätzt, und eine Arbeit, die du nicht missen magst. Unglücklich wärst du doch, würde dieses Band dir abgeschnitten, das klingelnde Telephon, der stete Glockenschlag der Fristen, eins – zwei – drei, ein sachliches Stakkato, und die schnellen Besprechungen, als sei all das ernst, was du tust, und es ginge nicht nur um Geld. Am Morgen früh durch den sich langsam erwärmenden Tag, die Schlagzeilen der Zeitung, und am Abend erst beruhigt sich der Puls des Tages über einem späten Glas Wein, beim Visite ma tente vor der Tür, oder irgendwo auf dem Weg, ein schnelles Essen, und die Zeit legt sich nieder, seufzt und legt den Kopf zwischen die Pfoten wie ein müdgelaufener Hund.

Dann aber gehst du nach Hause, und möchtest doch gern noch bleiben, aber in sechs Stunden klingelt der Wecker und treibt dich aus dem Schlaf. Und die C. hast du ja die ganze Woche nicht gesehen, am Wochenende ist Hochzeit außerdem, drei Stunden weit entfernt im Westen der Republik, und du hast kein Kleid. Die J. wolltest du noch anrufen, der J.² wartet auf Rückruf, und schreiben möchtest du seit Wochen, etwas Längeres vielleicht, einen Essay, eine kurze, kuriose Geschichte, und die Worte und Wendungen sitzen dir schon sperrig und schwer in der Brust, wollen heraus und würgen dir von innen den Hals. Wenn du nach Hause kommst, ist es Mitternacht, vielleicht eins, vielleicht später. Gehst du stracks nach Hause, kehrst nicht mehr ein, dann wird, so fürchtest du, nächstes Jahr keiner mehr fragen, wo du bleibst, und du fühlst dich sehr einsam daheim, weil du den Betrieb brauchst, täglich, stündlich, Geräusche, die dich umgeben, ein schnelles Wort im Vorübergehen, eine Tasse Tee, dir auf den Schreibtisch gestellt, ein Glas Wein an den gläsernen Tischen der Bar, in der du zu Hause bist. Ein wenig Klatsch, den du zwei Tage behältst, um ihn wieder zu vergessen, ein paar Sottisen, ein paar wohlfrisierte Traurigkeiten, und immer wird’s zu spät.

Zu kurz ist der Tag, zu gezählt deine Stunden, und immer, immer bist du müde. Säßest du nur da, ein paar Minuten, und schautest aus dem Fenster, die Augen fielen dir zu, aber du wirbelst, du rufst an, du läufst von der Bahn ins nächste Café und weiter, wohin dich die Telephone rufen, und wünscht dir manchmal auf dem Wege, die Sonne jeden Tages ginge zweimal auf, dreimal, für jedes Leben, das du führst ein neuer Morgen, und es verschlinge nicht dein eines Leben alle anderen, und du littest Mangel, welches Leben dies auch sei.

Obdachlosenzeitschriften

Sie alle, sofern Sie in zumindest mittelgroßen Städten leben, kennen das Phänomen der Obdachlosenzeitschriften, die von ein wenig herabgekommenen Personen an öffentlichen Orten angeboten werden, um diesen, so sagt man, ein würdigeres Auskommen als die Bettelei zu ermöglichen. Ein ehrenwertes Projekt sei das, hört man allerorten, auch wenn die Zeitschriften leider qualitativ meist wenig überzeugend seien, und so kaufen Sie alle ab und zu von diesen Produkten und werfen sie dann auf der Stelle weg. Dass es eine Schande sei, dass die Gesellschaft so gestrickt sei, dass Menschen auf der Straße vegetieren müssten, derlei hört man auch anlässlich der Verkaufskampagnen, aber was man viel zu selten hört – wie soll ich sagen… Es ist aber, glaube ich, kein wirklich rationales Argument:

Der Glaube an einen und allmächtigen Gott, sagt man, gehöre ja schon einer recht fortgeschrittenen Kulturstufe an, setze ein ganz ordentliches Abstraktionsvermögen voraus, und zu recht sei die Theologie deswegen ein vielsemestriges Studium und nicht jeder Dahergelaufene dürfe daherkommen und die Riten der römisch-katholischen Kirche einfach so wirksam vollziehen. Weil aber die Wissenschaft der Gotteserkenntnis in den letzten par Jahrtausenden schöne Fortschritte gemacht hat, weiß der rechte Gottesgelahrte wie auch sein gläubiger Adept heute eigentlich ganz genau, dass das Opfer selbst dem Allgewaltigen eigentlich recht egal sei, und die Gabe an die Armen etwa nur Zeichen einer ordnungsgemäßen Wesensart, der Milde, der Barmherzigkeit und so weiter.

Bei mir aber, bemerke ich leider stets aufs Neue, hat dieser Fortschritt gegenüber der plumpen Erpressung göttlicher Gewalt noch keinen rechten Niederschlag gefunden, und vielleicht steht auch individuelle Bequemlichkeit dem gottgefälligen Wohlverhalten zugunsten eines simplen Kaufs des göttlichen Segens entgegen. Indes sind die rauchenden Altäre in Berlin ja ein leider seltenes Phänomen, und ein Opfer privatissime etwa in der heimischen Badewanne würde wohl schneller, als es mir recht ist, mein Mietverhältnis beenden. Auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser würden sich ja angewidert abwenden von einer Dame, welche in einem Fischgeschäft einen lebenden Karpfen um billiges Geld erwerben würde, um ihn daheim mit einem Filetiermesser abzustechen, auf dass der nächste Prozess gewonnen werde, oder meine Diät möglichst erfolgreich sei. Auch ein pflanzliches Brandopfer findet aus gutem Grund wenig Anklang bei meinen Mitberlinern, und sogar im Tiergarten, wo das öffentliche Rösten ungeschlachter Hammelstücke und ganzer Schweine kein unübliches Phänomen darstellt, wäre eine Person, die zugunsten einer Dissertation „summa cum laude“ einen Rosenstrauß verbrennen würde, und unter beschwörenden Huldigungen dunkler Mächte um das Feuer tanzte, eine ungewöhnliche Erscheinung, die auch von hartgesottenen Berlinern als wenig comme il faut wahrgenommen würde.

Das wirkungsvolle, aber geschmackvolle Opfer muss also dezentere Formen annehmen, und so würden auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, den Opfercharakter derjenigen Handlungen, von denen ich mir günstiges Fahrwasser meines Tuns und Treibens erhoffe, teilweise gar nicht erkennen. Einem der nervenzerfetzenden U-Bahnbettler eine Münze in die Hand zu drücken, etwa, und auf einen erfolgreichen Ausgang einer Verhandlung zu hoffen. Einer steinalten, russischen Blumenverkäuferin einen ihrer mickerigen Sträuße abzukaufen und ihn auf einem Stein im Mauerpark liegenzulassen auf dem Weg zu einer Verabredung. Einen Euro in das Ausgabefach eines Kaugummiautomaten zu schieben, damit irgendein Kollwitzkind sich gleich zehn weitere Kaugummikugeln kaufen kann.

Manchmal klappt’s. Aber wenn einer der beschenkten Bettler mir seine mistigen Zeitschriften aufzunötigen sucht, ärgere ich mich ein wenig über den unwissentlichen Versuch, mir statt des göttlichen Wohlwollens nur eine schlechte Zeitung aufzudrängen.

Das aber, sagen Sie sicherlich, sei kein vernünftiges Argument gegen diese wohltätigen Projekte, die schon vielen Menschen einen Absprung aus der Obdachlosigkeit und ein Leben in Würde ermöglicht hätten. Und derlei egoistische Opfer seien an höherer Stelle ohnehin nicht gern gesehen.

Die äußerst unbefriedigende Abweichung zwischen Sein und Sollen

Morgen zum Beispiel sollte ich bis so ungefähr zehn schlafen. Dann sollte ich langsam aufstehen, eine Tasse Kaffee ans Bett geliefert bekommen, in Ruhe frühstücken und die Zeitung lesen, zumindest die wenig ärgerlichen Teile. Dann sollte ich ein bißchen arbeiten, vielleicht im „Lass uns Freunde bleiben“ einen frischen Pfefferminztee trinken und lauter interessante Gespräche mit lauter reizenden Leuten führen, wieder ein bißchen arbeiten, Kuchen essen, der sich nicht auf der Stelle ringförmig um meinen Bauch lagert, und abends kochen. Hähnchen vielleicht, mit Rosmarin und Knoblauch und Chili und Honig gewürzt, gebackene Kartoffeln dazu und einen Salat aus lauter reifen, roten Tomaten, die nach Sonne schmecken über einem weiten, offenen Land. Später irgendwann sollte ich ausgehen, lange schlafen, nicht aufwachen des Nachts mit Steinen auf der Brust, von denen ich nicht sagen kann, aus welchen Höhen sie auf mich niederfallen, und so schreiben, wie ich es können möchte und doch nicht kann.

Von dem Stapel Bücher, die ich mir am Samstag gekauft habe, möchte ich lesen, einen ganzen Nachmittag im Weinbergspark liegen auf einer Bastmatte, ab und zu eine Flasche Bionade holen, rauchen und de, Rauch hinterschauen, der sich langsam auflöst in der warmen, streichelnden Luft. Am Abend würde ich Freundinnen treffen, die mir lauter amüsante Geschichten erzählen, lachende, perlende Geschichten, und nichts, was schwer aufs Herz drückt, keine Lieblosigkeiten und keine Gleichgültigkeit, Geschichten von mühelosen, eleganten Siegen, Geschichten vom Lieben und Geliebtwerden, und nichts von Männern, die nicht anrufen, wenn sie sollen, und einer zähen, muffigen Langeweile. Nicht nur die A. sollte von ihrem Freund einen Smart Roadster geschenkt bekommen, und nicht nur die Orchideen meiner kleinen Schwester blühen.

Den Doktortitel, um den ich eine sagenhaft langweilige Dissertation geschrieben habe, möchte ich schon besitzen. Der Job, den ich mag, sollte morgens um 11.00 Uhr anfangen. Der Mann, den ich liebe, sollte mir eine Überraschung bereiten, eine Blume, ein Schächtelchen Konfekt, ein Brief, in dem lauter Sachen stehen, die so schön sind, wie ich mir sie nicht ausdenken kann. Mein schwarzer Anzug, den ich vor fünf Jahren gekauft habe, sollte wieder locker über meine Hüften fallen, meine Leserzahlen sollten steigen, und die Stadt sollte mir zulächeln, mit lauter Lachfältchen um die grau-grünen Augen.

Lass es dir gutgehen, Prinzessin, soll die Stadt mir zurufen, und ich winke zurück, und der Sommer zieht mich an seine glatte, feste Brust und streicht mir mit den Händen über den Bauch, und ich schnurre wie eine Katze in der Sonne.

Die Behandlung

Eine grüne Wartemarke war’s, von einem ausgewaschenen, kreidigen Grün, aber die Zahl darauf – ich hab‘ sie nicht gelesen. Vielleicht war der Zettel sogar leer. Niemand sonst war auf dem Korridor, der nur einer Behörde gehören konnte, das stumpfe Linoleum unter meinen Sohlen, das wohl einen Steinboden imitieren sollte, die abwischbaren Wände, halbhoch gelb gestrichen, und von einem tristen, gebrochenen Weiß bis unter die Decke.

Ganz allein saß ich auf dem Gang, die Türen waren noch geschlossen, und hielt mich fest an der Wartemarke, die ich in der Hand drehte, zusammenrollte, knickte und faltete. Ein wenig nervös war ich, weil man mich dahingesetzt hatte, einbestellt von Nacht und Traum, wozu auch immer. Hoch war der Korridor und schmal, ein weißes, diffuses Licht sog die Farbe aus meiner Haut, die käsig schien, farblos, als hätte man etwas abgezogen, was eigentlich noch zu mir gehörte, eine elastische Schicht aus Farbe zwischen mir und der Welt.

„Frau Modeste!“, wurde ich hereingerufen, eine Frauenstimme drang verzerrt aus den Lautsprechern unter der Decke, und hinter einem Tisch saßen drei Maskierte und sahen mich an. Kreisrunde Löcher hatten ihre Masken um die Augen, die ich zu erkennen meinte, zuerst. Aber nein, erschreckte ich mich. Das würdet ihr nicht tun, und ich sprach sie nicht an mit Namen. Vielleicht hätte ich sie rufen sollen, vielleicht erinnern an alles, alte Zeiten, Liebe, Freundschaft und Vertrauen, aber sie sahen mich an, als seien sie’s nicht, und ausziehen musste ich mich und wurde gewogen und gemessen.

„1,67!“, quakte wieder der Lautsprecher, und ich sah an mir herab, rotes, rohes Fleisch und die Tränen liefen mir über die Wangen. „Sie können jetzt in den Behandlungsraum.“, kündigte die Vorsitzende mir an, und ich lächelte ihr versuchsweise ein wenig zu, aber sie schien es wirklich nicht zu sein, denn die Maske behielt sie auf und sah streng an mir vorbei durch die runden Löcher.

Durch eine Tür musste ich gehen, durch eine zweite, und es wurde ziemlich heiß, so warm wie in meinem Schlafzimmer vielleicht, und ich hob die Arme, weil man das so machen musste, um behandelt zu werden. Ein großes Waffeleisen stand zur Behandlung bereit, und ich stellte mich folgsam in die Mitte. „Jetzt schließen sie die Augen!“, sprach man mir beruhigend zu, und die beiden Seiten des Eisens senkten sich und schlossen mich ein.

Heiß wurde es. Sehr heiß, und eng dazu, und die Stacheln des Eisens stachen mir in die Haut. Jetzt erst bekam ich Angst, man hatte mir also eine Falle gestellt. Das hätte ich nicht von euch gedacht, konnte ich nicht mehr sagen, und im Hintergrund tuschelte die Spruchkammer leise, wann man das Eisen in Betrieb nehmen sollte, wie sie sagten, und ich schnappte nach Luft. In meiner Hand begann die Wartemarke zu glühen und zu qualmen, aber um sie fallen zu lassen war es zu eng, und die Marke fraß sich in meine Hand.

Es werde schnell gehen, versprach man mir, und ich versuchte zu nicken.

Von Wäldern

Vorbei fährt der ICE an offenen Feldern, ein einsamer Hochsitz markiert die Grenze zum Wald, und dicht, verschlungen, zugewuchert vom Unterholz bis in die Wipfel quillt der Laubwald den Schienen entgegen. Schon sind wir weiter, vorbei ein baumumstandener, schattiger See, ein abgeerntetes Feld, eine ausgebrannte Scheune, von der nur noch Balken und Streben stehen, und in der Ferne ein paar Windräder. Windmüller sei er, fällt mir ein, sagte mir vor ein paar Tagen ein Fremder am Telefon, und sagte dies so selbstverständlich, als lägen keine russischen, bunten Märchen in diesem Wort von einem einäugigen Müller vielleicht, der des Nachts den Wind drischt, und die Hexen tanzen geschüttelt von Stürmen um seine Mühle auf einem Hügel abseits vom Dorf.

Rotbraun und kahl streckt ein Nadelwald sich der Sonne entgegen, und ich überlege, wie die Bäume wohl heißen, aber es fällt mir nicht ein. Ein Dorf, schon vorbei, eine geweißte Kirche, der Silo am Ortsausgang, und weiter, weiter, gleichmütig, eine gekühlte Dose, fährt der ICE über Land. Einen Moment nur in der lichten Traurigkeit der Birken, Tschechow, eine slawische Melancholie, und ich fahre heim in meine Stadt aus rohen, geborstenen, scheckigen Traurigkeiten, die östlichste Stadt der Republik, die östlichste Stadt des Westens.

Wie lange, überlege ich und ziehe die Beine eng an den Leib, war ich in keinem Wald. In Stahnsdorf, auf dem Waldfriedhof, im letzten Jahr, der schwarze Wein über den Gräbern, und ich lächele einem Abwesenden zu. Am Ufer des Wannsees wohl, letztes Jahr im August, aber ein wirklicher Wald, Bäume, die harzigen, geschlagenen Stämme, und ich muss lange überlegen. Letztes Jahr im Mai vielleicht, grübele ich, und für einen Moment sehne ich mich nach einem federnden Waldboden, nach dem Geruch nach einer guten Fäule und Chlorophyll, nach der Sauberkeit der Bäume am frühen Morgen, und hielte der Zug, ich stiege aus, nur für eine halbe Stunde.

Dann aber beginnen langsam, nach und nach erst und vereinzelt, die Häuser. Schallschutzwände versperren den Blick, und in einigen Minuten, dröhnt es aus den Lautsprechern, werden wir Berlin Hauptbahnhof erreichen. Zwischen den Bögen der gespannten Röhre aus Glas aber und dem Treiben der Passanten ist der Wald so weit, so unwirklich, als gäbe es ihn nicht, und die Bäume an der Schwedter Straße stehen leblos und stumm, als seien sie von allem Anfang an dazu bestimmt, die Fahrbahn zu markieren und Fahrräder anzuschließen, und Wälder, Wälder seien gar nicht wahr, ein Märchen nur oder eine bunte, phantastische Erfindung der Dichter.

Fremde Frauen

Nun aber, meine Damen, hier in der Anonymität des Internets, heraus mit der Sprache: Wie machen Sie das eigentlich? Wie schaffen Sie es, neben einem Mann zu sitzen, der ein saftiges Steak verzehrt, und an Salatblättern zu kauen? Überkommt sie da wirklich kein Fünkchen des Futterneides? Mögen Sie den Salat wirklich? So einen grünen Salat mit Pinienkernen und getrockneten Tomaten, eine feine Sache, aber kein Fetzchen Fleisch dazu, kein Bröckchen Käse? Und mögen Sie eigentlich wirklich kein Bier oder tun Sie nur so?

Und interessieren Sie sich eigentlich wirklich jeden Monat aufs Neue für Stoffe, Schnitte oder Schuhe? Ich gehe ja auch ganz gern einmal einkaufen, aber immerzu Taschen, irgendwelche Designer, schwarz-weiß und geblümt, Sechziger und Achtziger, Pfennigabsätze und Ballerinas? Und warum lesen Sie Frauenzeitschriften? Und warum finden Sie Karriere nicht so wichtig? Ich finde das großartig, wenn die Steine, die rollen, wenn ich beruflich dagegentrete, möglichst groß sind und viel Geld kosten. Und bestimme lieber über andere Leute, als dass ich über mich bestimmen lasse. Und etwas „mit Menschen machen“, fand ich angesichts der Beschaffenheit der meisten anderen Leute schon mit so ungefähr 12 insgesamt eher nicht so. Den meisten Menschen, im Vertrauen gesagt, ist ohnehin nicht zu helfen, hoffnungslose Fälle, alle miteinander, und da soll ich…? Aber Sie machen das ja angeblich gerne.

Kinder, auch so ein Thema. Sie kriechen in jeden Kinderwagen und sprechen die Insassen an mit so ganz hohen Stimmen und sagen Sätze, die Sie keinem Erwachsenen gegenüber vorbringen würden. Hätten Sie so angesprochen werden wollen mit ungefähr drei? Und unterhalten Sie sich gern mit Leuten, die irgendetwas unendlich Idiotisches lallen, wenn Sie Ihnen etwas sagen? Sprechen Sie wirklich gern mit achtjährigen Menschen, die auf Ihre Frage, ob das Essen geschmeckt habe, antworten, bei ihrer Mutter wäre das Schnitzel besser? Und interessieren Sie sich wirklich für die Vollausstattung von Baby Born? Gehen Sie gern mit Menschen um, die komisch riechen, weil sie ihre Ausscheidungsvorgänge noch nicht so im Griff haben? Und warum geben Sie Ihren Job auf, um statt 100 intelligenter, erwachsener Menschen einen einzigen Menschen um sich zu haben, der noch nicht sprechen kann?

Und wie schaffen Sie es eigentlich, immer so gepflegte Füße zu haben? Mir fällt die Notwendigkeit einer regelmäßigen Fußpflege ja regelmäßig ein, wenn ich mit Sandalen an den Füßen an öffentlichen Orten herumsitze. Untenrum bestehe ich bei solchen Gelegenheiten ja eigentlich ausschließlich aus Hornhaut. Und warum haben Sie immer so merkwürdige Männer? Die meisten Menschen ziehen ja amüsante Gesellschaft der langweiligen vor, aber klar, wenn man einen Job hat, in dem Sie so gut wie umsonst „was mit Menschen machen“… Sie lieben Ihren Mann aber? Dafür jammern Sie aber ziemlich viel, Verehrteste. So lange jammere ich selten bis zur Abschaffung des Ärgernisses.

Ach, aber letztlich, tauschen würden Sie wohl nicht wollen, oder? Mit einer Frau, die regelmäßig morgens aus dem Haus stürzt mit nassen Haaren, um erst in der Bahn zu bemerken, dass sie ihren Büstenhalter falsch herum anhat. Die auf allen Vieren durch ihr vollverglastes Büro kriecht, weil sie einen Ohrring verloren hat, und aus lauter Verlegenheit den Vorbeigehenden leicht verkrampft zuwinkt, weil sie gerade nicht so die Kapazitäten hat, um ihr Verhalten zu erklären. Und die sich bei schlechter Laune nicht so weit im Griff hat, einfach einmal zu schweigen, und statt dessen gern Streit anfängt, um vehement Meinungen zu vertreten, an die sie sich morgen nicht mehr erinnert.

Aber wer es besser getroffen hat, meine Damen, das werden wir bei Gelegenheit noch einmal diskutieren, in zehn Jahren oder zwanzig.