Das Leben in der Großstadt ist voller Versuchungen, sagt man so, und wer müde wird mit den Jahren, überdrüssig der allzu vielen Reize, die uns umgeben, der wandert ab und wird irgendwo am Land alt und träge. Wie anders jedoch, meine Damen und Herren, stellt sich das Leben der Tiere dar, die unsere Nachbarschaft bevölkern! Gehätschelt, verwöhnt, und fernab der Gefahren durch Kraftfahrzeuge oder schlechte Menschen, wie die Städte sie bekanntermaßen anziehen, lebt das Haustier auf samtenen Kissen, wird immer dicker und stirbt schließlich am Herzinfarkt nach zuviel Pedigree Pal. Die wilden Tiere jedoch entbehren solcher Rückzugsräume, und nur die härtesten, robustesten Exemplare überleben die außerordentliche Beanspruchung ihrer Nerven und die stetigen Gefahren, denen es auszuweichen gilt.
Sterben aber die sanften, schwachen Tiere vor der Zeit, so vermehren sich nur die gerissensten, bösartigsten und größten Quadrupeden weiter, und was für die Säugetiere gilt, gilt für die Insekten nicht minder. Die Stadtmücke, die urbane Wespe, die Berliner Biene sogar, ist also ein Lebewesen, welches seinen ländlichen Artgenossen durch Gefährlichkeit und Heimtücke weit überlegen ist.
Nicht weiter erstaunlich ist es also, dass der Insektenstich, den ich am Sonntag irgendwo davongetragen haben muss, binnen kürzester Zeit erstaunliche und geradezu ekelhafte Ausmaße erreichte. Vom Knie bis zum Knöchel ist mein linkes Bein rot wie ein Engländer in Italien, pocht wie Gevatter Tod an die Haustür seiner Kunden, und ist dicker als die sprichwörtlich fette Tante des geschätzten Gefährten.
Aber nicht nur groß, nicht nur mächtig unter den geflügelten Bewohnern Berlins, nein, auch hoch infektiös muss das Insekt gewesen sein, so dass am Montag morgen mein ganzes linkes Bein kribbelte, schmerzte, irgendwann wurde die Einstichstelle blau, und nette Kollegen reichten mir Citirizin, um zumindest meine Arbeitskraft zu erhalten, wenn schon mein Wohlbefinden nicht zu retten war. Mit einem Handtuch um das Bein, befestigt mit einer großen Aktenklammer saß ich also an meinem Schreibtisch und schaute ein wenig traurig aus der Wäsche.
Am Montag abend hatte mein Bein einen wahrhaft erheblichen Umfang erreicht. Dick und blau hing ein annähernd länglicher Klumpen an meinem Rumpf, der auf die geringste Berührung dermaßen empfindlich reagierte, dass der geschätzte Gefährte leichtes Spiel hatte, mich aus dem Haus und zur Charité zu treiben. – „Du bist doch privat versichert, das geht ganz schnell.“, hatte der J. mich getäuscht, aber zunächst schien er recht zu behalten und ich fiel auf die zügige Anmeldung herein und nahm Platz. Mein Bein pochte, das einzige in der Schnelle gegriffene Buch erzählte die ganze Geschichte des hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich, und der geschätzte Gefährte schwieg. Und schwieg. Und schwieg.
Mir indes ist das Schweigen nicht gegeben. – „Entschuldigen sie,“, sprach ich ein Mitglied des ärztlichen Personals statt dessen an. „Können sie mir sagen, wie lange es noch dauert….?“ – Man konnte nicht. Ungefähr eine Stunde später humpelte ich zur Tür, die den Warte- vom Behandlungsbereich abtrennt, Wutschaum vor meinem Munde, zitternd vor Insektenallergie und Erregung, und forderte auf der Stelle eine umfassende Behandlung ein.
„Ich kann sie in die Dermatologie schicken.“, sprach ein paar wirklich patzige Minuten später ein junger Arzt mit unvorteilhaftem Seitenscheitel zu mir. „Komm‘ ich denn da gleich dran?“, fragte ich, und packte, als die Antwort zwar wie erwartet, nicht aber wie erhofft, ausfiel, meine Sachen und entschwand unbehandelt, aber entrüstet, und zog den J. hinter mir her.
„Wenn mir heute nacht das Bein abfällt!“, brauste ich auf und erschreckte den J. wie den Taxifahrer durch drastische Schilderungen meines zukünftigen Schicksals. „Der *** Arzt! Die ** Charité! Das vollständige Fehlen von komfortablen und geschmackvollen 24-Stunden-Praxen für gemarterte Berufstätige!“, grollte ich dem Berliner Gesundheitssystem und verwünschte die Tierwelt, insbesondere die Berliner Tierwelt, die deutsche Medizinerausbildung und sprach so laut und schlecht über Menschen mit Seitenscheiteln in hässlichen weißen Kitteln, dass der Taxifahrer den Kopf ein wenig zwischen die Schultern zog, um nicht versehentlich ebenfalls in den Radius meiner Verwünschungen zu geraten.
Es soll dieses Jahr so eine ganz besondere gehässige Spinnenart geben. Da hat man zwei Mini-Bisse aber einen Riesenherd drum herum von dem man nicht weiß, ob er weh tut oder juckt.
Wat geht Ihr auch immer alle in die Charité? Ihr wisst doch, das man da als Sterbender nicht ohne Picknickkorb und Thermoskanne auflaufen soll. Also echt!
und? isses nu ab?
(daß einer hier immer das wesentliche verschwiegen wird… 😉
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Hihi, Frau Engl, der war aber echt super. Ärgert mich beinah, dass mir das nicht eingefallen ist.
Aber mal echt, Frau Modeste, das ist ja wirklich eine himmelschreiende Schande, wie in diesem Land nun schon mit Privatpatienten umzugehen Sitte zu werden scheint. Wo soll das nur hinführen?
Erfreulicherweise wird in wohl keiner Notaufnahme Deutschland die Behandlungsreihenfolge nach Versicherungsstatus entschieden, sondern nach Dringlichkeit. Und so sehr ich denke, dass das Bein dringend ärztlicher Behandlung bedarf – das ginge vielleicht auch tagsüber in einer Praxis. Und krank ist krank – da hat Arbeiten nichts zu suchen. Und die Herzinfarkte und Verkehrsunfälle werden sofort behandelt – da müssen andere manchmal etwas warten, auch wenn’s blöd ist.
sorry, sollte nicht böse rüberkommen, aber ich habe zwar keinen seitenscheitel, aber auch einen weißen Kittel 😉
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herr oder frau marbot,
„Und krank ist krank – da hat Arbeiten nichts zu suchen.“ wissen sie, dass es berufe gibt, in denen man sich nicht ohne weiteres absentieren kann – sei es, weil es um personengebundene projekte geht oder auch, weil der potentielle patient selbstständig ist (in schlimmsten fall einzelunternehmer) und seine ganze firma mit seiner an- bzw. abwesenheit steht und fällt ? sollte vielleicht nicht sein, ist aber so …
frau modeste, die von ihnen geschilderte situation ist keineswegs auf berlin beschränkt ! überhaupt habe ich bereits seit meiner kindheit eine (un)gesunde aversion gegen krankenhäuser und ambulanzen, zumal bei mir alle bisher erlebten diesbezüglichen institutionen den eindruck schlechter organisation erweckten. da lob ich mir meinen hausarzt (=landarzt), der patientenfreundliche ordinationszeiten eingerichtet hat und darüber hinaus eine gut bestückte hausapotheke führt !
ihr letzter satz sorgt bei mir übrigens für anhaltende heiterkeit, unter anderem auch deshalb, weil meine unmutsäußerungen gelegentlich ähnliche auswirkungen zur folge haben. in selben augenblick allerdings, in dem ich bemerke, dass meine umgebung die köpfe einzuziehen beginnt, muss ich meistens lachen und somit ist meine wut verraucht, bevor sie sich zu voller größe entfalten kann …
Es gibt von Gesualdo ein Madrigal, in dem er sich mit einer Mücke vergleicht, die die Angebetete umschwirrt und ihr Blut will – nachdem Gesualdo ein echtes Schwein war, war es vielleicht seine Wiedergeburt?
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Mensch, Herr Doktor Marbot, dann wollen wir aber – ohne Ihnen zu nahe zu treten – wirklich hoffen, dass Sie da Recht behalten, was die Behandlungsreihenfolge und den Versichertenstatus angeht.
Und krank ist krank – das erzählen Sie vielleicht nächstens einmal einem der vielen Personalverantwortlichen, die sich kaum noch einkriegen können vor lauter Krankenfehlstands-Geschrei. Die werden Ihnen eine so wirtschaftsfeindliche Aussage nämlich hübsch übel nehmen.
ich kann beruhigen, die behandlung hätte nix wirklich befriedigendes gebracht. man muß nicht in der großstadt wohnen um beides [stich und wartezeit in sonntäglicher notaufnahme] zu erleben. beim ersten mal dachte ich an handamputation [sah zwei tage aus wie ein aufgeblasener handschuh], beim zweiten mal an anabolika [ich hatte einen oberarm wie der gouverneur von californien. aber halt nur einen.] und im moment stehe ich auf zwei hölle juckenden dorischen tempelsäulen. achja, nachdem ich eine stunde gewartet hatte drückte mir die ärztin ein rezept in die hand. für ein antibiotikum. dabei nehme ich sowas nie …
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Werte Walküre, da Herr oder Frau Marbot einen weissen Kittel trägt, nehme ich an dass er oder sie aus eigener bis zur Erschöpfung führender Erfahrung weiss, dass es Berufe gibt, die man nicht ohne weiteres absentieren kann – zwar vielleicht nicht nur (aber evt. auch) wegen personengebundenen Projekten oder wegen selbständiger Erwerbstätigkeit, sondern auch weil die eigene Arbeit keine einzige Minute aufgeschoben werden kann und die Kollegen die bittere Suppe auslöffeln würden. (Von den sich dadurch noch verlängernden Wartezeiten für arbeitstätige Privatpatienten mit leichten bis mittelschweren Erkrankungen ganz zu schweigen.)
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es mag wohl sein,
dass er es weiß, wiewohl meinen ohren der von mir zitierte satz aus dem mund eines arztes fremdartig anmutet, denn keiner der ärzte, denen ich bisher begegnet bin, hätte dies so rigoros formuliert. vielmehr ist es so, dass – außer bei schweren fällen – heutzutage und hierzulande jeder arzt, sobald er sieht, dass der patient freiberufler oder gewerbetreibender ist, nachfragt, ob eine krankheitsbedingte pause für die betreffende person überhaupt akzeptabel ist …
ich bin bestens informiert
Madame Modeste, und zwar durch meinen einbeinigen Nachbarn. Wenn Ihnen das Bein abgenommen wird und irgendwann nach der Wundheilung der Prothesenbauer auftaucht (er macht Hausbesuche), müssen Sie drei Monate auf eine eigens angefertigte Prothese warten.
mitfühlende Grüße
Mukono
Das muss unbedingt behandelt werden.
Als Privatpatient wird man nicht bevorzugt in der Notaufnahme, aber das wurde ja schon gesagt.
Gute Besserung, auch.
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Dazu faellt mir auch Donnes The Flea ein:
Cruell and sodaine, hast thou since
Purpled thy naile, in blood of innocence?
In what could this flea guilty bee,
Except in that drop which it sucked from thee?
Frau Modeste hat die Antwort!
(Wobei Donnes Gedicht ja eigentlich in die Kategorie Liebeslyrik gehoert).
In Ostfriesland…
ist es auch nicht anders. Ich war im Urlaub dortselbst am Wochenende mit einer 15-jährigen (privatversichert) in der Ambulanz eines Provinzkrankenhauses mit Verdacht auf infiziertem Zeckenbiss. Nicht nur uns ließ man freilich lange warten, sondern unter anderem einen Mann, der sich offenbar mit der Axt in den Fuß geschlagen hatte und nun ohne Schmerzmittel ausharren sollte. Als wir endlich drankamen (ebenfalls ohne Bevorzugung wegen der Privatversicherung, aber dafür wahrscheinlich mit weit umfänglicherer Rechnung), war das Ergebnis des Befundes: „wir haben keine Ahnung; gehen Sie doch am Montag mal zum Hautarzt.“ Diese kam am Montag zum Ergebnis: „ich habe auch keine Ahnung, was das sein könnte“.
Ein klarer Fall fuer den Notheilpraktiker!
Da muss man nicht hinfahren und warten, einfach anrufen dann kommt der mit dem ÖPNV schnellstmoeglich ins Haus (bei privatversicherten – worauf man hier ja teilweise sehr stolz drauf zu sein scheint – nimmt er sogar ein Sammeltaxi).
Und dann gehts auch schon – zack, zack – los: Bergkristall aufs dicke Bein, ein halbes (mit dem Holzspatel geteiltes (klar)) Globuli unter die Zunge und in der Kueche werden unter Gemurmel von Zauberspruechen noch ein paar Bienen gemartert (wegen dem Karma) … Charité – wie kann man nur diesem Irrglauben anhaengen die verblendeten Weisskittel koennten substanziell etwas zur Heilung beitragen ….
Das klingt jetzt wie Blumfeld 🙂
Ja, Creezy, ich werd’s beherzigen. Nächstesmal. Wenn ich beim nächsten Mal nicht auf der Stelle tot umfalle. Immerhin werde ich auch beim nächsten Insektenzusammenstoß zweibeinig gebissen, denn wieder Erwarten, Frau Engl, ist das Bein nicht abgefallen. Sollte dies noch geschehen, wende ich mich aber an Herrn Mukono als Experten, und sollte mich dies Los in Ostfriesland ereilen, wo ich indes noch nie war, Herr Sokrates, so weiß ich zumindest schon einmal, was mir blüht.
Nur etwas verfärbt ist das Bein noch, nachdem meine netten Kollegen mit noch mehr Medikamenten mit Cortison und so das Problem aus der Welt geschafft haben, denn Krankheit, Herr Marbot, ist in meinem (Angestellten-) Job zwar theoretisch möglich, praktisch allerdings nur dann als Arbeitshemmnis anerkannt, wenn man bewusstlos irgendwo in einer Ecke liegt. Da hat der Rationalstürmer halt schon recht. Ich finde diese Vorgehensweise im Übrigen schon okay, erwarte allerdings im Grunde auch vom Rest der Welt, sich einigermaßen zusammenzureißen, inklusive der erforderlichen Facilities, um auch außerhalb der üblichen Sprechzeiten von Arztpraxen behandelt zu werden. Privat versichert oder nicht, Frau Aqua und Frau Walküre. Die ärztliche Nachfrage, „kann ich sie krank schreiben?“, kenne ich natürlich auch. Und auch, Herr Timanfaya, die Vorgehensweise, gegen eigentlich alles Antibiotika zu verschreiben. Wenn die Pest wieder aufflackern sollte und mit eherner Sicher Europa durchquert, sind wir aufgrund dieses exzessiven Konsums sicherlich alle geliefert. Da nützt dann auch eine Behandlung nichts mehr, die in diesem Fall, Frau Lore, aber schon eher von Vorteil gewesen wäre, allerdings ziehe ich in dieser wie auch jeder anderen Notage sogar diesen Notarzt einem Notheilpraktiker vor. Schöne Vorstellung übrigens, Herr Franzbrandtwein.
Gesualdo als Mücke, lieber Don, erscheint mir schon als eine eher ausgefallene Reinkarnation, da solle keiner sagen, der Almächtige habe keinen Humor. Wenn das nächste Mal ein Insekt mich umkreist, werde ich also genau hinhören, ob das Summen des Tieres entfernt an ein Madrigal erinnert. Aber selbst wenn, Herr Gheist, jenes Tier mir in wahrer und aufrichtiger Liebe zugetan sein sollte, so muss ich doch zugeben, dass die warmen Gefühle zweibeiniger Lebewesen eher Aussicht auf Gegenliebe haben, und dies selbst dann, wenn sie keine Madrigale summen.
Und, Herr Motowns, den Verweis auf Blumfeld, nehme ich jetzt einfach einmal als Kompliment.