Die gläserne Stadt

Über Nacht aber ist die Luft dichter geworden als du. Massiv drückt dir der Sauerstoff von innen und außen gegen das Fleisch und schmerzt beim Atmen, als zögest du Steine scharfkantig durch deine Lungen. Schau mich nicht an, brüllst du aus Angst den fremden Leuten in der Tram nur in Gedanken entgegen. Würdest du laut, die Fremden würden dir noch tiefer ins Fleisch starren, noch schärfere Blicke werfen, und dir die Haut zerschneiden mit der Kraft ihrer Augen. Da sitzt du dann, und die M 1 fährt dich nach Mitte.

Die Stadt scheint dir seltsam entfärbt. Jemand hat etwas aus den Gesichtern der anderen Kunden bei Dussmann entnommen. Das, was du sehen kannst, scheint dir sonderbar leer. Wie immer reichen die Fremden Bücher über die Theken und nehmen Tüten zurück, als sei das normal, aber du weißt Bescheid. – „Da wünsche ich ihnen viel Spaß beim Lesen!“, lächelt der Kassierer und macht sich Notizen. Wenn du weg bist, weißt du genau, wird er melden, was du gekauft, und wann den Laden verlassen.

An der Mittelstraße stolpert eine fremde Frau mit zerschlissenen Tüten betrunken oder behindert den Linden entgegen. Das bist ja du, erschrickst du und wechselst die Seite. Mit kaum maskiertem, gierigem Blick sieht dir die Trunkene nach. Für heute bist du entkommen. „Was haben sie mit mir vor?“, könntest du fragen, aber die Frau ist schon weg. Ganz normal, ohne Fallen und Stolpern, weißt du, schreitet die Fremde fern deiner Blicke die Straße entlang.

Wenn keiner da ist, lachst du ein bißchen, und stößt mit dem Fuß eine leere Verpackung die Straße entlang. Ob man dich prüfen will, durchblätterst du deine Gedanken. Ob die Stadt echt ist, oder eine Attrappe, und die wirkliche Stadt lebt und lächelt fernab von dir, hinter Glas, hinter Stäben, hinter einer Wand vielleicht, getrennt und unerreichbar für dich, warum auch immer.

12 Gedanken zu „Die gläserne Stadt

  1. REPLY:

    Vermutlich würden Sie ruhiger werden und allmählich beginnen, langsamer zu ticken, wenn Sie sich mal für längere Zeit in die Natur zurückziehen würden. Geht mir wenigstens so. Aber ich bin ja auch ein überzeugtes Landei.

  2. …und „wenn keiner da ist…“

    …dann sprichst du ein bisschen, torkelst gespielt (oder leistest dir ein echtes torkeln?), dann wünschst du dir, der heimweg würde ewig dauern und du hast die ‚bestesten‘ und neuen ideen, für das, was du eben jetzt herausgefunden hast von dem, was du eigentlich willst, und wenn du dann den schlüssel in die haustüre steckst und noch ein wenig aufschreibst, dann bemerkst du, daß die hälfte der gedanken verschwunden ist, aber die hälfte, die nicht verschwand, ist ja auch schon einmal nicht schlecht. jedenfalls wenn es dämmert, dunkel ist.

    ich nehme dies ‚geschenk‘ nirgendwo so wahr, wie hier in dieser stadt. ob das ‚gläsern‘ ist, das weiss ich nicht. die fehlenden sterne aber (@engl), die spielen eine sehr große rolle.

    wobei, so ab und an ein nervöser sternenhimmel?

  3. Extrem schön und unglaublich nah. Nach diesem Text könnte manch ein Landei fernab der Landstraße auf einem Bauernhof hinten im Hühnerstall frustriert ein Fenster einschlagen – aus sehnsüchtiger Begeisterung, aus Wehmut aus Fernweh nach dem, was ihm entgeht, aus heimlichem Begehren nach dem Zauber der Großstadt. Einmal mehr mag ich nur sagen: Madame, Ihre Prosa ist ein Gedicht.

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