In der langweiligsten Landschaft der Welt

Jemand musste uns einen falschen, vielleicht sogar arglistigen Ratschlag gegeben haben, denn einfach so wären wir niemals ausgestiegen in diesem Ort, in dem es vielleicht gar keine Menschen gab, oder nur solche, die das Haus nicht verließen. Viel zu sehen gab es freilich auch nicht, weswegen man das Haus hätte verlassen sollen, wenn man hier schon wohnte. Schnurgerade reihte sich Haus an Haus, schorfrot geziegelte Doppelhaushälften mit ordentlichen Vorgärten, in denen ab und zu ein magerer Busch stand mit dünnen, schadhaften Blättern, und manchmal nur ein paar Blumen, deren Blüten sich blass einer schwächlichen Sonne entgegenstreckten, versteckt hinter einer weißen, gleichmäßigen Decke aus Wolken und Dunst.

Das ganze Dorf, wusste ich, bestand nur aus dieser Straße, die zur Fabrik führte, aber die Fabrik konnten wir nicht sehen. Überhaupt war nichts Genaues auszumachen. Die Bewohner versteckten sich gleichgültig hinter grauen Gardinen, kein einziges Kind spielte auf der Straße, kein Auto fuhr, und es war vollkommen still. Wind würde es hier nie geben.

Unser Gepäck war im Bus geblieben und fuhr nun ohne uns dahin, wo wir eigentlich hatten hinfahren wollen. Wo das war, war mir nicht bewusst. Immerhin unsere Katzen waren bei uns, auch ein Hund begleitete uns, und so liefen wir die Straße entlang und hielten Ausschau nach jemandem, der uns helfen sollte, hier wieder wegzukommen, und zwar mit unserem Gepäck.

Später irgendwann, so erfuhren wir (von wem?), würde der Bus erneut erscheinen. Bestiegen wir ihn, so würde unser Gepäck sich schon wieder anfinden, und alles würde gut. Nur, dass die Katzen immer wegliefen, dass der Hund uns voran- und dann wieder nachlief, dass auch der J. immer wieder verschwand, verschwamm, unscharf wurde und durchsichtig sogar, verwehend über der staubigen Straße, und erst Minuten später hinter einem der Büsche oder einer zerfallenden Mauer wieder erschien, konnte unsere Abreise vielleicht noch verhindern.

Ob wir am Ende wieder abfuhren, weiß ich nicht. Nur eine Grube habe ich behalten, ein Erdloch, zwei Meter lang und tief, in der neben der Bushaltestelle ein Tiger saß, der langsam sein Junges fraß, bis nur noch der Rücken da war, und der Bauch leer und rot glänzte wie eine pralle, reife und giftige Frucht. Ganz ohne Grauen, interessiert sogar, stand ich am Grubenrand und sah dem Tiger beim Fressen zu, und dann beim verkrümmten, schnaufenden Schlaf.

4 Gedanken zu „In der langweiligsten Landschaft der Welt

  1. Ein schönes Graun, was Sie hier zum Besten geben!
    Schauen Sie dem geschenkten Tiger ruhig weiterhin ins Maul, werte Frau Modeste, zumindest, solange er sich auswaiden lässt… Mich langweilen Sie keinesfalls damit!

    Am Ende müssen wir alle für unser Gepäck Sorge tragen:)

  2. REPLY:

    Zwischen Hintergrund und Vordergrund, Frau Merle, ist bekanntlich mehr Platz, als es einem so lieb ist, gelegentlich. Und dem Herrn Wallhalladada und dem Herrn Anselmowitsch sei Dank, dass wenigstens Sie die toten Tiger meiner Nächte nicht langweilen.

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