Meistens sah sie den Nachbarn nur so ungefähr von der Brust abwärts. Seine Wohnung lag im Hinterhaus, vierter Stock, und sie wohnte ihm schräg gegenüber. Vorderhaus, 5. OG. Ganz sah sie ihn meistens nur, wenn er am Küchenfenster stand, rauchend, und dabei manchmal den linken Arm ausgestreckt an den Fensterrahmen hielt, den Kopf schräg an den Oberarm gelehnt.
Dunkelblond war der Nachbar, vielleicht 25, vielleicht ein bisschen älter, und offenbar Student. Manchmal sah sie ihn, oft nur in Jeans und ohne T-Shirt schon im April, von ihrem Schreibtisch aus am Küchentisch sitzen, das Notebook aufgeklappt, einen Kaffeebecher in den Händen.
Der Küchentisch an dem er öfters saß – sie sah dann alles außer seinem Kopf – war aus Kiefer. Überhaupt war so gut wie alles, was er besaß, aus Kiefer, und in dem Wohnraum, in dem er auch schlief, hing ein bunter Druck, der offenbar ein Südseemotiv von Paul Gauguin abbildete. Um welches Bild es sich handelte, konnte sie allerdings nicht ausmachen. Sie sah nur die braunen, gemalten Füße von Frauen, die auf einer gelben Fläche ruhten.
Eine Freundin schien er nicht zu haben. Zumindest sah sie nie eine Frau bei ihm. Er aß billiges Essen, einmal sah sie sogar eine geöffnete Dose auf der Küchenplatte schräg vor dem Fenster, und ab und zu kamen männliche Freunde, tranken Bier und gingen wieder. Abends verließ er die Wohnung meist und kam zwischen eins und zwei zurück.
Monatelang, das ganze Frühjahr eigentlich, sah er nicht einmal auf. An einem Morgen im Mai jedoch, er lehnte am Fenster und rauchte, fiel ihr ein Topf Basilikum von der Fensterbank und zerschellte an einem der Fahrradständer im Hof. Einige Sekunden lang starrte er nach unten, wo blaue Scherben liegen musste, die sie nur sehen konnte, wenn sie sich so weit vorgebeugt hätte, wie sie es ungern tat. Dann schaute er auf.
Ernst habe er geschaut, ein wenig irritiert, so, als sei er überrascht gewesen, dass sie dort stand, und als sei es überhaupt erstaunlich, dass ein menschliches Wesen ein Stockwerk höher als er aus dem Küchenfenster sah. Sie lächelte, rief halblaut – er konnte sie sicher nicht hören – einen Gruß. Dann schloß sie das Fenster.
In den nächsten Wochen sah er öfter nach oben. Manchmal bemerkte sie seinen Blick, sah ebenfalls auf und grüßte mit einem flüchtigen Lächeln und ein paar Worten, von denen er nur die Bewegungen ihrer Lippen wahrnehmen konnte. Vielleicht nicht einmal das.
Auch nachdem er wusste, dass sie ihn sah, saß er mit freiem Oberkörper am Tisch. Wie zu den Zeiten, als er sich unbeobachtet glaubte, lief er nach dem Duschen, oder vielleicht auch einfach so, nackt durch den Raum, kratzte sich am Bauch, zog ein Handtuch über seinen Rücken, und einmal sah sie ihn, wie er sich eincremte, langsam und – wie ihr schien – nicht ohne Genuß.
Gelegentlich, schien es ihr Anfang Juni, ging er sogar nackt besonders langsam am Fenster vorbei. Einmal meinte sie sogar, seinen Blick zu spüren, als er wiederum nackt – nun, es war seine Wohnung – auf dem Küchentisch saß, und sie musste sich beherrschen, nicht so auffällig zu ihm herüberzuschauen, dass er es bemerkte.
Von Zeit zu Zeit, aber nur angezogen, lächelte er sie an und formte mit dem Mund einen Gruß. Ab und zu winkte er sogar, wenn er rauchte, und sie am Schreibtisch saß, und gegen Hochsommer war sie sich sicher, dass er sich für sie auszog, oder zumindest so, dass sie ihn sehen musste, und für ein paar Tage zog sie mit dem Notebook in eins der Zimmer zur Straße um, denn der Abgabetermin ihrer Magisterarbeit rückte näher, und ein nackter Nachbar schien ihr für die Einhaltung dringender Fristen kontraproduktiv.
Wenige Tage später saß sie wieder am gewohnten Platz. Er saß am Küchenfenster, telefonierte, trank Kaffee aus einem bunten Becher, und als er sie sah, lächelte er. Dann verließ er den Raum.
Als er wiederkehrte, setzte er sich ans Fenster. Er hatte ein Handtuch um seine Hüften geschlungen, rauchte, zog beide Beine an den Oberkörper und rieb sich mit den Händen die Knie. Gelegentlich sah er auf.
Sie winkte und grüßte. Sie ging in die Küche und trank Wasser, denn der Tag schien besonders heiß, und die Luft so trocken wie selten. Als sie wiederkehrte, saß er immer noch da. Das Handtuch allerdings hatte er abgenommen. Wie eine Frotteefahne, rot mit bunten Fischen, hing das Handtuch im Fenster. Neben dem Handtuch saß der Nachbar, ein wenig weißhäutig und nicht sehr muskulös, und trank seinen Kaffee. Minutenlang sah er nicht einmal auf. Einmal beugte er sich so weit nach vorn, dass sie dachte, er fiele vom Brett, richtete sich wieder auf, eine Zigarette zwischen den Lippen und zündete sie langsam und sehr, sehr umständlich an. Sie wollte nicht brennen, und ein Streichholz nach dem anderen warf er aus dem Fenster in den Hinterhof, wo Brennnesseln wuchsen und wilder Rhabarber.
Als er aufgeraucht hatte, warf er die Kippe den Streichhölzern hinterher. Einen Moment blieb er noch sitzen, bewegungslos, rieb wieder seine Knie, als würden sie schmerzen, und dann sah er auf. Sie nickte ihm zu. Er lächelte. Er sah weg, dann sah er wieder zu ihr hoch, und kurz bevor sie ging, Sekunden bevor sie das Fenster schloss, deutete er einmal mit der linken Hand – in der rechten den Becher – auf das Handtuch und in den dunklen Raum hinter dem Fenster.
Sie aber hatte das Fenster geschlossen und zog die Vorhänge vor, denn der Tag war zu heiß, und die Sonne zu hell, schon so früh am Morgen.
breathtakingly beautiful.
hach!
sehr schöne episode!
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…soll die Geschichte so im Nichts stehen bleiben?
perfekt!
Danke, allseits.
Klug beobachtet, schön geschrieben …
… und wie von selbst stellt sich eine feine erotische Atmosphäre ein. Leider wird gerade dies am Schluss quasi mit mißbilligendem Kopfschütteln wieder zunichte gemacht. Ich finde es immer schade, wenn eine der großen Freuden (oder die Möglichkeit dazu) aus reiner Zaghaftigkeit mit einer faulen Ausrede (es war zu heiß am Morgen) beiseite geschoben wird. Situationen, die einen solchen Zauber haben, werden der Protagonistin nicht mehr oft begegnen, zumal Ihre Studentenzeit nach der Abgabe der Magisterarbeit wohl zu Ende sein wird.
Das beste an dem Text ist, dass er gerade nicht mit Sex endet. Mittelgute Filme würden diese Geschichte mit Sex enden lassen, und das Publikum wäre sehr zufrieden, denn dann würde sie niemand daran erinnern, wie viele ähnliche Situationen es schon sinnlos hat verstreichen lassen.
REPLY:
Warum so direkt?
Ich würde ja zustimmen, wenn dieser Text tatsächlich einem CarpeDiem-Zuruf gleichkäme. Die Entscheidung der Protagonistin wirkt aber doch eher wie ein weiser Verzicht und empfiehlt eine zaghafte Abwehr gegen alles, was das Leben aus dieser Situation machen könnte.
REPLY:
Der Text empfiehlt gar nichts. Deswegen gefällt er mir.
Wenn ich Empfehlungen hören will, schaue ich Kochsendungen.
Genau so sah es die Autorin und es ist mehr als gut so. Danke.
Was die Autorin meinte …
… und was beim Leser ankommt, das ist manchmal zweierlei. Deshalb ist der Leser auch eine nicht ganz unwichtige Institution.
Ich meine schon, dass der Leserin hier eine bestimmte Handlungsweise nahegelegt wird. Das geschieht natürlich nicht plump und geradlinig, sondern durch den plötzlichen Schwenk, der in dem Satz „…der Tag war zu heiß,…, schon so früh am Morgen“ enthalten ist. Die feine Spannung löst sich, die bis dahin so sorgfältig beschriebene Situation wird als belanglos abgewertet, das heiße Wetter ist jedenfalls wichtiger.
Wer glaubt, hier bleibe alles offen, macht sich etwas vor. Literarisch ist das Ergebnis sehr überzeugend, da stimme ich der hier versammelten Gemeinde gern zu. Aber man sollte sich über die Wirkung im Klaren sein.
Viel interessanter ist für mich die Frage, warum wir alle gelernt haben, die Beschreibung einer solch resignierenden Abwehrhaltung als besonders weltklug, intellektuell und geistig anspruchsvoll zu begreifen.
REPLY:
Besser so?
Nein, im Ernst, der Text legt gar nichts nahe, und ob die Empfindung meiner Freundin hier Bedauern oder doch eher Erleichterung genannt werden sollte, weiß ich nicht, und auch dieser Text weiß es nicht. Vielleicht nicht einmal sie selbst.