Unter Deiner Hand zur Ruh

Viel zu voll ist der ICE, und sogar hinter der Glastür zwischen den einzelnen Wagen stehen ein paar Mädchen mit Reisetaschen und halten sich gegenseitig einen billigen, schwarzen MP3-Player ans Ohr. Öffnet sich die Tür, hört man sie lachen.

Die Reisenden haben alle Frische aus der Luft gesogen, die nun wieder und wieder umgewälzt und angewärmt und erneut durch die Lüftung geblasen wird. So oft ein- und ausgeatmet ist jeder einzelne Liter, dass die Luft sich schlaff anfühlt, ermattet und ausgeleert und viel zu warm. Müde bin ich, müde ist auch der ältere, magere Mann mir gegenüber, der einen Ratgeber über Aquarien in der Hand hält, aber schläft, statt zu lesen. Müde ist auch die blonde, vielleicht vierzigjährige Frau auf der anderen Seite des Ganges, die eine Gala durchblättert, sehr langsam, und zwischen den Seiten mit den großen Bildern lachender Stars lange, lange aus dem Fenster starrt, wo nichts zu sehen ist außer Schwärze und fernen, verlorenen Lichtern.

So müde bin ich, dass ich nicht lesen mag, keine Musik, und auf einmal ekelt es mich vor der klebrigen, warmen, abgenutzten Luft, vor dem Mann mit den Aquarien, der Frau mit der Gala, vor den lachenden Mädchen, dem Zugfahren, dem Unterwegssein, dem immer noch nicht Ankommen, dass ich für eine Sekunde anhalten mag, jetzt gleich, auf der Stelle im Nichts zwischen Dunkelheit, Bäumen und Schweigen. Aus dem Zug will ich laufen, weit, weit weg von den Schienen und zwischen Blättern und Moos die Stellen finden, wo die Erde warm und atmend dem Sommer entgegenträumt, und unter ihren Lidern schlafen.

9 Gedanken zu „Unter Deiner Hand zur Ruh

  1. Seltsam! Ich erlebe Bahnfahren fast immer als sehr angenehm und komme in Zügen
    meist schnell mit meinen Mitreisenden ins Gespräch.

    Einige meiner besten Unterhaltungen habe ich in Zügen und S-Bahnen geführt.

  2. REPLY:

    Bar jeder Koketterie: Aber nicht doch. Es gibt eine Tendenz in Blogs, sich gegenseitig förmlich besoffen zu loben. Nüchtern betrachtet ist es dann alles halb so weit her damit., und zwischen Buchdeckeln hat kaum etwas Bestand, was hier recht nett ausschaut.

    Ein Book on Demand allerdings – nein, das wäre selbst mir Sonntagsschreiberin reichlich peinlich.

  3. Ein Bekannter zeigte mir vor ein paar Tagen eines dieser Fotobücher bei dem man (eigene) Fotografien ziemlich professionell als Bildband in Minimalstückzahl (also ab 1) basteln kann. Er verschenkte zwei dieser Exemplare an Freunde mit den Fotos eines gemeinsamen Urlaubs …das war eigentlich recht hübsch und vorallem sehr individuell.

    So etwas könnte man doch auch aus Texten, aus persönlichen Lieblingstexten z.B. aus favorisierten Blogs zusammenbauen (und verschenken)?

    (Selbstverständlich unter Beachtung der Etiquette)

  4. REPLY:

    Schöne Idee. Wir haben in unterschiedlichsten Konstellationen ja schon
    gemeinsame Bloglesungen veranstaltet. Genauso könnte aus verschiedenen
    Blogs mit „Best-Of-„Beiträgen ein Blogbuch zum selbstmachen resampelt werden, oder
    auch als Book on demand resampelt.

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