Allein in Berlin

Am letzten Wochenende vor Weihnachten wandert Berlin aus. Koffer werden verstaut und Tüten in den Hohlräumen zwischen Klappkisten verkeilt. Auf den Bürgersteigen im Prenzlauer Berg stehen Bugaboos neben übervollen Reisetaschen und kleinen Kindern mit Plüschhasen im Arm. Papa kommt gleich, piepst ein Mädchen mit Schottenrock mir zu. Bestimmt, sage ich, und laufe weiter.

Dann ist Berlin leer. Im Haus gegenüber brennt am Abend kein einziges Licht. Die Parkplätze sind leer. Das Lassunsfreundebleiben hat dicht. Das Schwarzsauer ist zu, und außer mir fährt im Haus niemand Fahrstuhl oder läuft über die Treppen. Am Morgen schreit kein einziges Kind. So leise ist Weihnachten, dass man selbst ganz leise wird, weil alles, was man tut, krachend die Stille durchbricht.

Als sei mit den Autos auch die Schnelligkeit verschwunden, verlangsamen die Passanten ihren Schritt, bleiben lange, lange einfach so auf der Straße stehen und sehen sich um. Wie Verschwörer, wie Kinder, die in der großen Pause einfach im Klassenraum geblieben sind, lächeln sich die vier, fünf Fußgänger auf der Kastanienallee an.

Am 24. dann Wein und Besuch. Am 25. auswärts. Am 26. aber bleibe ich einfach im Bett, streichele den Kater auf dem Nachttisch. Trinke Tee. Bade. Lese ein paar Lieblingspassagen in Büchern, die man jedes Jahr, ach: monatlich lesen sollte, weil sie so perfekt sind, dass man weinen könnte. Höre vom Bett aus den J. nebenan leise rascheln, Tasten drücken, Stühle rücken, auf der Gitarre spielen und sage mir, das sei das Glück: Weihnachten. Und allein in Berlin.

21 Gedanken zu „Allein in Berlin

  1. ist schon wieder ein jahr vorbei ?

    ich kann mich noch gut erinnern, wie madame modeste in wien im vorjahr wenig offenes gefunden hat. und wie leid mir das für „meine“ stadt getan hat …

  2. REPLY:

    In den Kleinstädten und Dörfern, aus denen sie irgendwann in die großen Städte gekommen sind, nehme ich an. Zumindest meine Freunde, Kollegen und Nachbarn fahren alljährlich – inzwischen nur noch – zu Weihnachten in irgendwelche Käffer, von denen ich nie gehört hätte, wenn nicht die C., die B.’s, der T. usw. aus irgendwelchen Weniger-als-400-Seelen-Dörfern stammen würden.

  3. In Frankfurt

    ist es auch so. Das Haus leer, die sonst vollgeparkten Bürgersteige auch. Auf der Schaukel gegenüber saß tagelang kein Kind. Es ist, als wäre man der einzige Überlebende nach einem schweren Sturm. Auf den Straßen gehen nur ab und zu andere Menschen. Es scheint als sind die Städter für drei Tage aufs Land gezogen…

  4. Ich glaube, dass ich in Berlin gut Weihnachten erleben könnte. Irgendetwas hat offen. Ich glaube nicht, dass ich mich allein fühlen könnte. Nicht in einer Stadt, wo die S- und die U-Bahn die ganze Nacht durchfahren.
    Berlin hat etwas von Heimat. Das kann ich schon feststellen, obwohl ich erst dreimal dort war. Und in Kreuzberg würde ich quer durch die Oranienstraße ziehen und andere Völker beobachten.

  5. REPLY:

    Ja, Berlin ist zuhause. Gerade wegen der Möglichkeit, soziale Einbindungen selbst zu steuern. Man muss halt nicht, aber man kann Stammbäcker, Stammcafés etc. haben. Man bestimmt selbst, wie nah einem der Rest der Welt kommen darf, und dieser Grad an Steuerungsfähigkeit macht die Stadt komfortabel.

    Dass immer etwas geöffnet hat, ist aber auch nicht schlecht.

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