„Nicht so toll.“, krächze ich in den Hörer. Auch mein kleiner Cousin ist krank, höre ich, also zumindest so ein bisschen, also genug, um nicht zur Schule zu gehen, die ihn – an dieser Stelle wird tief geseufzt – ohnehin schrecklich nervt. Der Schulstoff interessiere ihn nicht.
Was er denn machen wolle, frage ich, um herauszubekommen, ob das demnächst zu absolvierende Abitur notentechnisch überhaupt relevant und damit schulisches Engagement auch in fürchterlichen Fächern erforderlich sein würde. Das wisse er nicht genau, antwortet er und legt eine lange Pause ein, die das ganze Ausmaß seiner Ratlosigkeit illustriert. Etwas Kreatives könne er sich vorstellen, kommt es dann, und ich seufze ein bisschen. Etwas Kreatives macht die halbe Stadt, und zumeist sind die Ergebnisse wirklich erschreckend.
Mit dem Malen, sagt der Kleine, sei es ja nicht mehr so. Schreiben indes, Schreiben sei etwas ganz anderes. Er werde, kündigt er an, einen Roman verfassen. „Wer nicht!“, gebe ich zurück. Das Romane schreiben sei ungefähr so verbreitet wie Pickel, mehr noch, ich kenne keinen erwachsenen Menschen, der nicht mindestens von einem Roman schwadroniert und nach dem dritten Wein detailliert Aufbau und Handlung erläutert. Ungefähr jeder zweite hat auch tatsächlich irgendwas verfasst, und selbst wenn diese Texte lesbar sind, haftet ihnen doch ein Air des Vergeblichen an, denn (was auch mein kleiner Cousin sich hinter die Ohren schreiben möge): Es ist aus mit der Literatur. Und alles, was noch kommt, Imitation und Nachspiel.
Der Kleine schluckt hörbar. Unerbittlich fahre ich fort. Es habe, sage ich ihm, im 19. Jahrhundert die Kunst der Wiedergabe menschlicher Empfindungen einen seitdem nicht mehr überbotenen Höhepunkt erreicht. Maupassant, Tolstoi, vielleicht Flaubert: Genauer kann kaum wiedergegeben werden, wie Menschen fühlen und was sie dazu treibt, Dinge zu tun. Diese Fertigkeit wird seither angewandt, aber solange Menschen sich nicht ändern, sondern nur ihre Umgebung, wechseln zwar die Interieurs, die Anlässe ändern sich, auf die Menschen reagieren, aber solange die Evolution sich nicht erheblich beschleunigt, wird alles Wiederholung bleiben. Nichts Neues unter der Sonne.
Zudem hat, füge ich hinzu, das 20. Jahrhundert die Grenzen der Sagbarkeit aufs Äußerste erweitert. Die Mittel, die eigentliche Beschaffenheit der Welt, ihre schattenhafte, spinnwebfeine, ganz und gar nichtstoffliche Seite auszudrücken, hat die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts gesucht, und sie hat sie gefunden. Ich mag Joyce nicht, ich habe kein besonders Faible für Virginia Woolfs avantgardistischeren Romane, aber ich weiß, dass sie funktionieren. Proust. Thomas Mann, die Rückkehr des Epischen. Die Macht von Sprache als Bann und Beschwörung. Die Ausweitung der Sphäre des Sagbaren über die Grenzen der Konvention bei Miller und über die Grenzen der Realität in eine phosphoreszierende Zwischenwelt, wie bei Garcia Márquez.
Ebenso, wie manche Sporttheoretiker annehmen, dass irgendwo eine objektive Grenze des menschlichen Vermögens, schnell zu laufen, liegt, sei möglicherweise eine Grenze erreicht, jenseits derer Sprache nichts mehr vermag. Innerhalb dieser Schranken ist unter Umständen fast alles erzählt. Nun mag auch die Wiederholung ihren eigenen Reiz haben. Wer mag, liebt vielleicht die Adaption des Bekannten in ein anderes Lokalkolorit, andere Kostüme, sucht die Kombinationen, versucht, den ermüdeten, gelangweilten Leser noch einmal mit noch anderen, vielleicht wirksameren Effekten einzufangen.
Aber lohnt sich das?, frage ich den Kleinen streng und ganz und gar rhetorisch. Muss man das machen? Ist diese mühselige Form der vergeblichen Anstrengung ein guter Ort, oder sollte man nicht etwas Angenehmes tun? Etwas, was nicht belastet wie das Schreiben. Etwas Leichtes, Amüsantes, ganz und gar Unernstes wie den Handel oder das Rechtswesen, wo man wenig Schaden anrichten kann und keine Erwartungen bestehen, außer Geld zu verdienen, von dem jeder weiß, dass es nicht wirklich existiert? – Erwartungsvoll schweige ich und suche mit der linken Hand auf dem Nachttisch nach einem weiteren Taschentuch.
„Das sei doch gar nicht wahr!“, braust mein Cousin auf. Von abstoßendem Zynismus geprägt sei meine Weltsicht, und nur meine Grippe hindere ihn, noch deutlicher zu werden. Zudem sei meine Annahme falsch, die Gegenwart weise literarisch keine vergleichbaren Quantensprünge auf wie die zwei vergangenen Saecula. Dies werde er mir auch beweisen. Eine Liste werde er vorlegen mit zehn bedeutenden Romanen seit 2000, die über den vorhandenen Bestand hinausgingen. Dann legt er auf.
Ich warte.
Soll er halt den Quijote nochmal schreiben. Ach, Mist, dass hat ja Borges schon erledigt.
Bitte halten Sie mich über die Ergebnisse der Cousin’schen Recherche auf dem Laufenden.
(Und werden Sie gesund.)
Sie brechen mir das Herz, Frau Modeste.
Und haben leider irgendwie auch Recht damit.
ihre messerscharfe klarsicht entspricht nicht ihrem zarten alter…
ich balle die faust in der tasche, murmele „trotz alledem!“ und hätschele weiter den gedanken, als alte lady mal bestsellerautorin zu sein.
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Dieser Liste sehe ich mit großer Gelassenheit entgegen. Was hat der Kleine schon gelesen. Ich tippe auf eine Handvoll Amerikaner, etwa Franzen, vielleicht Safran Foer. Möglicherweise Kehlmann, vielleicht Dietmar Dath, Clemens Meyer. Das sind alles gute, teilweise sehr gute Bücher, keine Frage, aber den Zugewinn von Form und Inhalt gegenüber dem Bestehenden sehe ich nicht, selbst dort nicht, wo mit großer Souveränität gearbeitet wird.
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Nun, und wenn nicht, werde ich zumindest eine sehr amüsante Liste von meinem achtzehnjährigen Cousin erhalten.
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Im zarten Alter von 33
Mit etwas Amüsantem liegt man doch nie falsch – und was wäre amüsanter als das Buch einer alten Dame mit vielen Erfahrungen und wenig Hemmungen, darüber zu schreiben.
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ja so was in der art hatte ich mir vorgestellt. wie weiland barbara cartland (so hieß doch die dame in pink, oder?).
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Das Schaffen dieser Dame wiederum ist mir unbekannt. Ich kenne diese nur als Besitzerin von interessant frisierten Pudeln. Ich dachte etwa an die Autobiographie von Claire Goll, vielleicht – wenn es etwas gepflegter sein soll – Lady Diana Cooper. Allerdings finde ich hier Zurückhaltung fehl am Platze: Wenn man schon demnächst sterben wird, kann man sich wenigstens hörbar verabschieden.
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frau cartland schrieb liebesromane mit „stellen“.
So. Jetzt habe ich gerade mein 300-Seiten-Manuskript durch den Schredder gejagt. Das bekommt nicht einmal die Stasi-Behörde wieder zusammengesetzt. Es war so eine Art Moby Dick für Internetfahrensleute, aber bitte.
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Als großer, weißer Wal kann ich das natürlich nur begrüßen, aber fragen Sie mich mal wieder, wenn ich wieder 55 Kilo wiege. Falls ich mal wieder 55 Kilo wiege.
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Hierzu fällt mir ein Besuch vor Jahren bei einem Schulfreund ein, wir waren beide ungefähr 12, und standen im Arbeitszimmer seines Vaters. Ein kleiner Raum, höher als breit, üppigster Stuck und bis zur Decke voller Bücher. Auf einem Schemel neben einer Couch standen mehrere Stapel Bücher, und alle waren markiert mit kleinen, farbigen Klebezetteln. Auf meine Frage, was sein Vater markiere, der meines Wissens überhaupt keinem Job abgesehen von einer Nebenerwerbspferdezucht nachging, wurde mir verraten, sein Vater markiere Stellen. In meiner Unschuld fragte ich nach, und erhielt die knallrot-verlegene Antwort, es handele sich um Geschichten, deren Schwerpunkt untenrum zu verorten sei. Da verstand ich dann.
Großartige Terminologie übrigens – ob es so etwas noch gibt?
Alma Mahler-Werfel hat ja dem in der US-Emigration armen und unglücklichen Friedrich Torberg empfohlen, warum er nicht einfach mal einen Bestseller schreibe. Das wäre vielleicht die unzynische Variante ihres Rats an de Cousin gewesen.
ich finde ja, sie sind ein wenig gemein zu ihrem cousin. zumindest müssten sie ihm nach dieser ja durchaus pädagogisch wertvollen rundum-peitsche ein kleines zuckerbrötchen nachreichen. zum beispiel eine gemeinsame reise nach pompeji?
PS: in der bildenden kunst ist auch alles gesagt. aber erklären sie ihm das – zum jetzigen zeitpunkt – nicht auch noch….
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Also ich
… hätte das gerne gelesen: »Kip37 jagt den bescheidenen, weißen 56-Kilo-Wal«. Es kann nicht einfach alles nur noch Wiederholung sein. Das wäre unser Todesurteil.
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bei updike gab es sie noch. bei irving dominierten sie schon fast den rest des textes oder diffundierten eher in ihn hinein.
bei charlotte roche … naja, lassen wir das.
paul auster, ist mir erinnerlich, schreibt statt stellen eher löcher, an denen nichts oder etwas sehr sachliches passiert.
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Bisweilen kann man sich vorstellen, dass Ausgaben ad usum delphini ein wenig kurz ausfielen.
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Mein Cousin bringt glücklicherweise nahezu keine Eigenschaften mit, die ihn zum Verfassen eines Bestsellers qualifizieren. Er ist reizend, romantisch, ungelenk und – wie es sich für sein Alter gehört – völlig weltfremd. Er würde sich jedesmal wieder vornehmen, diesmal einen echten Kassenknaller zu verfassen, und am Ende käme irgendetwas Naturlyrisches dabei heraus, in dem sehr, sehr edle und leidende Menschen über herbstlich modernde Blätter schreiten. Zudem hat er mich vor einigen Monaten mit der Erkenntnis überrascht, Erfolg sei doch eigentlich obszön. So wird das nie was.
Ich finde, er sollte Jurist werden. Das wird ihn aufheitern.
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Mit der Malerei hat der Kleine schon vor mehreren Jahren sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Aber eine Reise kann ich ihm vielleicht wirklich schenken, zum Abi. Italien kennt er recht gut, aber in der Türkei waren bisher weder er noch ich, möglicherweise wäre Istanbul eine Idee.
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„garp“ ginge in etwa so: vater stürzt ab und stirbt den heldentod. kind wächst auf judomatten auf. mann stirbt dramatisch in einer menschenmenge.
Mussten Sie ihn…
wirklich so entmutigen, Frau Modeste?! Dabei hätte er, wenn er früh begänne und fleissig wäre, wenigstens eine Chance, seinen Lebensunterhalt mit etwas zu verdienen, was zu tun ihm ein Gefühl von Sinn gibt!
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Ich fürchte, die Kunst gehört zu denjenigen Dingen, bei deren Entstehung Fleiß zwar unabdingbar, aber keineswegs ausreichend ist, und wenn er tatsächlich begabt sein sollte, dann wird es mir kaum gelingen, ihn davon abzubringen.