Berlinale 2009
Ein einziges Mal in 135 Minuten schaue ich auf die Uhr. Ein Patient der Chorale-Klinik in Okayama sitzt mit anderen Patienten zusammen, man liest seine Gedichte, immer noch eins, eins schlechter als das andere, soweit man das nach der Übersetzung beurteilen kann. Hier hätte man kürzen können, vielleicht auf 90 Minuten, vielleicht auf 100, aber möglicherweise wäre dies der sehr, sehr verlangsamten Welt nicht gerecht geworden, die der Filmemacher Kazuhiro Soda hier dokumentiert: Eine offene Klinik für psychisch Kranke in einer japanischen Stadt.
Kommentare, Erklärungen oder auch nur Soda selber sucht man dabei auf der Leinwand vergeblich. Nach dem Film spricht er kurz über Motivation und Hintergründe und wirkt dabei sehr jung und auf eine freundliche Weise radikal. Im Fim aber lässt Soda einfach nur die Kranken sprechen, Schizophrene, Depressive zum Teil, daneben das Personal der Klinik, den Arzt, und aus vielen, vielen Einzelszenen, langen Monologen über teilweise beklemmende und tragische Lebensgeschichten setzt sich ein Panorama zusammen, das der japanischen Gesellschaft ein zwiespältiges Zeugnis ausstellt: Die Humanität des Projekts, speziell des alten, verständnisvollen gütigen Arztes, auf der einen und die pathogenen Züge einer hochgezüchteten, viel zu schnellen Leistungsgesellschaft auf der anderen Seite, die der unseren wohl nicht so arg unähnlich ist, denke ich bei mir, als wir spät, sehr spät vom Alexanderplatz nach Hause laufen, denn auch vor uns versteckt das Gesundheitssystem Krankheit, psychische mehr noch als körperliche, und schließt die Kranken fern der Städte weg.
Seishin
Japan, 2008
Noch eine weitere Vorstellung, Montag, 16.00 Uhr.
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