Nabelschau

Manche Traumata sind ja eines Tages einfach da, und dann braucht man Jahre beim Therapeuten, um sich zu erinnern, wie alles so kommen konnte, wie es gekommen ist. In manchen anderen Fällen – etwa meinem ganz persönlichen Bikiniproblem – dagegen ist der Sachverhalt klar:

Man stelle sich also eine dreizehnjährige Modeste vor. Mittelgroß, mittelschlank, langhaarig, aufs Scheußlichste bebrillt, und das ganze Wochenende allein zu Haus. Es ist Juni. Vor dem Fenster des Kinderzimmers (orangefarbener Teppichboden, Kiefermöbel) schwanken die Äste eines Obstbaums hin und her. Im Garten, ein Stockwerk tiefer, läuft der Hund durch die Beete und schnappt vergeblich nach Insekten. In der Küche stehen Erdbeeren im Kühlschrank, in der Obstschale liegt ein bisschen Geld für etwas zu Essen, und neben meinem Bett liegt ein Haufen Zeitschriften, die meiner Mutter gehören. Brigitte war, glaube ich, dabei. Madame, Cosmopolitan und die Vogue.

Auf die Idee, man könne ähnlich aussehen wie die Frauen in der Zeitung, bin ich, glaube ich, gar nicht ernsthaft gekommen. Nicht einmal die ausgestellten Kleidungsstücke wollte ich haben, aber dass die Frauen in der Zeitung richtig aussehen, voll und ganz und unerreichbar regelgerecht, das war mir klar, und so stand ich auf, wühlte in dem Rucksack neben meinem Schreibtisch nach einem Lineal und dem Taschenrechner, und vermaß die abgebildeten Damen vertikal wie horizontal, setzte die Länge der Hochglanzfrauen in Relation zur eigenen Größe und setzte anhand der abgebildeten Schönheiten den Maßstab der eigenen Schönheit fest. Dann stand ich auf und ging zu meinen Eltern. Genauer gesagt: In ihr Schlafzimmer. Da stellte ich mir vor den Spiegel.

Was ich sah, gefiel mir nicht. Noch schlimmer: Es stimmte – nachgemessen mit einem Zentimetermaß – auch in keiner Weise mit dem Maßstab der Schönheit überein, den ich mir aufgeschrieben hatte. Zum einen beruhte das auf einem schon damals bedauerlichen Übergewicht, zumindest gemessen an der Sollvorstellung, welche für Frauen gilt, die in Zeitschriften abgebildet werden. Zum anderen aber waren auch die grundsätzlichen Proportionen meines Körpers verhältnismäßig weit weg von dem Zustand, wie er hätte sein sollen. Die Beine waren zu kurz, die Arme etwas zu lang, und mein Bauchnabel war zu hoch. Deutlich zu hoch: Anstatt mittig knapp oberhalb der Hüftknochen, saß und sitzt mein Nabel circa fünf bis sieben Zentimeter näher am Brustkorb. Ich war erschüttert.

Eine operative Verlegung des Bauchnabels kam schon aus Kostengründen keineswegs in Betracht. Einen Freund, vor dem es sich unbekleidet zu präsentieren gelten würde, würde ich mit diesen Proportionen, nahm ich an, ohnehin nicht einmal angezogen von mir überzeugen können. Die einzig bedenkliche Situation war damit der Strand, oder zumindest die Badestelle um die Ecke. Ziemlich belämmert und mit hängendem Kopf begab ich mich also wieder in mein Kinderzimmer und knüllte meinen ersten, vor wenigen Wochen erstandenen roten Bikini mit den weißen Punkten in der Sportbekleidungsschublade ganz nach hinten. Im folgenden Sommer trug ich also wieder Badeanzug.

Einen weiteren Bikini habe ich nie erworben.

3 Gedanken zu „Nabelschau

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