Morgens musste ich erst um acht erscheinen, wenn die Schwestern seit Stunden die alten Frauen wuschen und fütterten. Bei Tisch war ich ungern dabei, weil ich mich vor den zahnlosen Mündern ekelte, auch vor dem Speichel, aber mich nicht traute, dass zu sagen. Immerhin war ich hier, weil meine Mutter meinte, einmal im Leben müsse man so etwas tun.
Mit der Zeitung ging ich von Raum zu Raum und las der Handvoll alter Frauen, die noch nicht dement waren, vor. Die alte Frau S. ließ mich auf dem Klavier vorspielen, um ein bißchen unterrichten zu können, und erzählte von den vierzig Jahren als Klavierlehrerin. Die noch ältere Frau H. mochte die Zeitung nicht, aber Liebesromane und bekam jeden Morgen ein Kapitel. Fast alle alten Frauen (alte Männer gab es hier kaum) schenkten mir Süßigkeiten oder Handarbeiten, und erzählten gern von ihren Enkeln. Die meisten waren etwas älter als ich, studierten irgendwo, oder waren schon fertig und hatten selber Kinder. Ihre Bilder standen ordentlich gerahmt auf den Nachttischen oder Kommoden.
Neben den Kindern und Enkeln stand das Hochzeitsbild. Erstaunlich hübsch waren die alten Frauen einmal gewesen: Blanke, von der Zeit leergewaschene Gesichter in schwarz-weiß. Schleier, Blumensträuße, junge Männer in Hochzeitsanzügen. Keine der alten Frauen sah ihrem Hochzeitsbild auch nur ähnlich. Manchmal suchte ich in den zusammengesunkenen Gesichtern nach den jungen Frauen und wurde nie fündig.
Fast keine der Frauen wurde oft besucht. Fast niemand täglich angerufen. Selten kamen Briefe. Die alten Frauen waren einsam, manche weinten ab und zu, wenn sie erzählten, und manche waren über ihrem schweren Leben bösartig geworden, ungerecht und gefürchtet bei den Schwestern. Vieles, was sie erzählten, klang nach unerfüllten Wünschen und Chancen, die es nie gab. Die Schwestern wiederum waren grob, wenn keiner hinsah, stumpf, und obwohl sie jung waren, wirkten sie verbraucht und so, als werde da kein neuer Anfang mehr folgen. Mich schauderte, wenn ich das Altenheim verließ, und als ich mich verabschiedete, feierte ich die ganze Nacht wie eine Entronnene, trank viel zu viel und küsste den J.2, obwohl wir damals eigentlich fertig waren miteinander, aber sonst war keiner da. So würde es nie enden mit mir, versprach ich am nächsten Morgen meinem Spiegelbild und dann zog ich aus. Vierzehn Jahre ist das her.
Ein bißchen herumgezogen bin ich in der Zwischenzeit. Ziemlich lange war ich an der Uni, erst als Studentin und dann noch ein paar Jahre danach. Viel gearbeitet habe ich, vielleicht zu viel, aber die alten Frauen werden nicht weniger gearbeitet haben als ich. Geheiratet habe ich nicht und keine Hochzeitsbilder für den Nachttisch. Nie habe ich mich für andere aufgerieben, wie die alten Frauen für ihre Männer und Kinder und Enkel, und so lebe ich ein Leben, das weit genug weg ist von dem, was ich niemals wollte, doch enden (das weiß ich manchmal) werde ich wohl nicht anders: Als eine alte Frau im Heim, entstellt von den vielen Jahren, ein wenig einsam, zu selten angerufen, und voll Bedauern um ein Leben, das ich hätte führen können und nicht geführt habe, weil mir zu spät einfallen wird, was ich hätte lassen oder tun sollen, um glücklich gewesen zu sein, oder weil ich es bisweilen weiß, aber nichts daraus mache, aus Feigheit, aus Dummheit, aus Bequemlichkeit oder aus Rücksichtnahmen auf etwas, das ich vergessen haben werde, weil es unwichtig sein wird, später einmal und kurz vor Schluss.
Zumindest aber ist es es dann fast rum und überstanden. Stelle ich mir entspannend vor.
und es kann alles ganz anders kommen. diese möglichkeit wünsche ich ihnen und mir.
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Es kommt aber nicht anders. Sofern Sie nicht vor dem 65. Geburtstag einen tödlichen Unfall oder Schlaganfall erleiden, werden Sie unter allen ihren Falten und Runzeln verschwinden, wird sich ihr Rückgrat verbiegen, Sie zum Essen Ihre Zähne suchen müssen und die Tage im Kalender ablesen. Ihre Familie, so Sie denn eine haben, wird ihrem eigenen Leben folgen und Sie hin und wieder, wenn es die Zeit erlaubt, besuchen. Sie werden verbittert und verhärmt aus dem Fenster starren und sich fragen, wozu Sie sich alle die Jahre so gequält haben – für dieses hier? Für diese Endstation, das Warten auf den Tod? Es wird bei Ihnen nicht anders sein, denn Sie empfinden diese Bitterkeit bei dem Gedanken daran ja jetzt schon.
Ich habe mir vorgenommen, sofern ich so alt werde und nicht bettlägerig bin, jeden Tag, an dem ich endlich keine Verpflichtungen mehr habe, keine Verantwortung mehr trage, zu geniessen. Mit oder ohne Zähne. Mit oder ohne Gehhilfe. Und ich habe schon so viel Kinder- und Hundekacke, -pipi und -kotze aufgewischt, dass mich sabbernde Alte nicht beeindrucken können. Hossa.
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schlimme schicksale, die gefühlt einsamkeit. menschen die nie gelernt haben etwas mit „freizeit“ anzufangen [wann und wie auch]. ich habe es meist damit versucht, dass ich sie habe erzählen lassen. fragen zur kindheit stelle, schule, krieg, flucht. erstaunliche geschichten habe ich da zu ohren bekommen, von der generation der letzten zeitzeugen des krieges, die uns so langsam unter den händen wegsterben.
ich habe beruflich am rande mit „senioerenresidenzen“ zu tun. und meine meine oma, die vor kurzem starb mußte nach einem schlaganfall auch dort einziehen [im gegensatz zu vielen anderen blühte sie dort noch mal auf, weil man dort – sofern es ein gute eintichtung ist – von morgens bis abends bespielt wird] …
die bitteren sind die des nicht gelebten lebens. die, die sich aufgerieben haben. man kann sich das sicher nur noch schwer vorstellen, was es heißt seine jugend im krieg verloren zu haben und danach einzig und allein fürs überleben und wiederaufbauen da zu sein. und das auch noch unter den gesellschaftlichen vorzeichen [gleichberechtigung?] einer generation vor ’68. im vergleich zu heute ist das wie lebenslanges straflager.
im gegensatz dazu schon die generation meiner eltern. im krieg geboren, diesen mehr oder weniger unbeschadet überstanden – und alles wurde immer „besser“. mein nachbar ist genau 70 und letztens erst von einer 9 monatigen reise zurückgekehrt. mongolei, china, japan, australien. die generation hat im gegensatz zu deren eltern schon tzeilweise gelernt zu leben. und, wenn wir mal dran sind, wird das noch mal eine andere dimension annehemen. in meinem freundeskreis [größtenteils aus der schluzeit, um 40] überlegen wir schon heimlich, was für ein „schloss“ wir uns mal zusammen kaufen um gemeinsam alt zu werden. das ist zwar nicht gerade die gesellschaftliche norm, zeigt aber, wie sich einiges verändert. auf seine kinder als altersbegleitende bespielung sollt man jedenfalls nicht setzen, auch wenn man wie ich mit seinen eltern seit kurzem wieder unter einem dach lebt. das ist im regelfall allein aus beruflichen gründen heute kaum noch machbar, selbst wenn man es darauf anlegen würde …
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Nein, es kommt nicht anders. Obwohl ich es mir manchmal wünsche und es mir ausmale, hier und da.
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… „was“ kommt nicht anders?
hat nicht ein teil der bitterkeit und traurigkeit (je nach mentalem temperament) auch mit der erkenntnis der begrenzung zu tun? und stehen wir nicht auch in der verantwortung, diese konstruktiv zu verrechnen?
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Das, Herr Timanfaya, was kommt. Das Alter. Die Einsamkeit und der Verfall.
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Vielleicht. Aber was zählen schon Verantwortlichkeiten, die man nur sich selbst gegenüber hat?
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Ich mir nicht. Ich werde das alles vermissen, die Gerüche der Stadt, den Morgenhimmel. Haut. Rauchen.
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ja stimmt….. das sind die schwierigsten verantwortlichkeiten. drum klappen sie auch so selten.
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den verfall kann man verlangsamen, gegen die einsamkeit kann man etwas tun. vorausgesetzt natürlich, man bleibt halbwegs gesund. aber in beiden fällen muß man etwas aktiv tun und nicht passiv auf wunder warten. das genau ist der „fehler“ der meisten einsamen älteren menschen.
ich kenne nicht wenige ältere menschen die sich ehrenamtlich engagieren und richtig tolle dinge vollbringen. oder als leihoma „arbeiten“. oder meinen garten in schuss halten [mein vater] … (o;
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Vielleicht, Herr Timanfaya, ist das der Fehler der meisten Menschen.