Nur wenn Hypochondrie auch als Krankheit anzusehen ist, ist der J. in der Tat und seit Jahren schon ziemlich krank. Ansonsten und rein körperlich betrachtet erfreut sich mein geschätzter Gefährte bester und unverwüstlicher Gesundheit, trinkt vergnügt ein großes Bier im Wirtshaus Alt Wien und bestellt – wie es einem völlig gesunden Manne wohl entspricht – eine 1/4 Gans mit Knödeln und Kraut. Die C. und ich begnügen uns mit Schnitzeln und Tafelspitz und teilen uns eine Karaffe Wein. Sichtlich zufrieden thront der J. zwischen uns auf der Bank, reißt mit Messer und Gabel die Gans in kleine, wohl duftende Stücke und schildert der C. den Schreck seines Lebens.
Wie ja alles im Leben stets ganz ungelegen eintritt, ereilte die Ahnung des zügig heranrückenden Todes den J. nicht in würdiger Atmosphäre, dahingestreckt auf der Lagerstatt, umringt von den Kindern und Kindeskindern in achtungsvoll niedergeschlagener Pose, nein, im Flugzeug saß der J. letzten Montag auf dem Weg von Berlin nach Düsseldorf und zu alledem auch noch in einem Luftfahrzeug des Unternehmens Lufthansa, das der J. ziemlich ungern benutzt. Wir alle hassen die Lufthansa, die hohe Preise mit miesem Service kombiniert und Economy – anders als Air Berlin – innerdeutsch nicht einmal mehr ein paar Kekse und Illustrierte reicht. Um das Maß voll zu machen, saß der J. umringt von zwei anderen Anzugträgern auf dem Mittelplatz und döste so vor sich hin.
Auf einmal aber schrak der J. auf. In seiner linken Leiste zog es ein wenig, ein dumpfer Druck von innen nach außen, der J. hob in den Grenzen der bestehenden Möglichkeiten das Bein einige Zentimeter an. Der Druck verstärkte sich. Der J. war sich sicher: Er müsse sterben, und zwar nicht irgendwann, sondern gleich. „Aha.“, kommentiert die C. den sicheren Tod meines Gefährten und schiebt sich weiteren Kartoffelsalat in den Mund.
Diesmal, so der J., sei es indes kein Tumor gewesen. Meistens stirbt der J. nämlich an Krebs, ab und zu auch an plötzlichen Infarkten, am letzten Montag aber hatte sich – wie es so zu gehen pflegt in der Vorstellungswelt des lieben J. – der linke H*den des geschätzten Gefährten beim Jogging am Vortag aus seiner Verankerung gelöst. Frei wie ein aus der Erdumlaufbahn geschleuderter Satellit durch den Weltraum flottierte das Organ durch den Unterleib des J. und drückte irgendwo zwischen Berlin und dem Rheinland in die Leistenbeuge des J. Das aber war ersichtlich nur der Anfang.
Schon bald würde der H*den zu faulen beginnen, so ohne Blutzufuhr. Unabwendbar sei eine Sepsis die Folge. Möglicherweise würde es auch dazu gar nicht mehr kommen, denn der H*den würde sich verstopfend auf eine lebensnotwendige Blutbahn legen, so dass der J. noch im Flugzeug, spätestens aber im Flughafen einfach umfallen würde und wäre tot. Gern hätte er sich noch von mir verabschiedet, aber im Flugzeug darf man bekanntlich keine Mobiltelephone benutzen, und so saß der J. stumm und leidend da. Selten sei ihm so übel gewesen. Unsicher tastete er nach der für Übelkeit vorgesehenen Tüte. Er habe auch stark geschwitzt.
„Wieso bist du nicht aufgestanden und hast nachgeschaut?“, erkundigt sich die aufgrund langer gegenseitiger Bekanntschaft von dem Ereignis nicht so besonders irritierte C. bei dem J. Er habe nicht gekonnt, antwortet der J. und ringt die Hände in Erinnerung an den höllischen Flug. Zudem, die engen Flugtoiletten … der Gang durch die Sitzreihen. Völlig fertig sei er gewesen, ganz und gar am Ende, und als sie gelandet seien, habe der J. kaum das Flugzeug verlassen können. Seine Knie waren weich wie Butter, sein Atem stockte und sein Hemd war angstschweißnass.
So schnell es ging, begab sich der J. im Flughafen Düsseldorf in einen Waschraum. Unschlüssig, denn wer schaut der Medusa gern ins greuliche Antlitz, habe der J. einige Sekunden in der Kabine gestanden, und nur unmittelbar bevorstehende berufliche Termine hätten ihn schließlich zur Kontrolle bewegt. Erwartungsgemäß (für alle anderen) war alles am richtigen Ort. Gerettet, erlöst geradezu, bestieg der J. ein Taxi und fuhr dem ersten Termin des Tages beschwingt und fröhlich entgegen.
Ich hatte nach dem dritten Absatz eigentlich mit einer Thrombose gerechnet. Sagen Sie ihm das aber vielleicht besser nicht, sonst wird der nächste Lufthansa-Flug wieder schlimm.
Wurde Ihnen denn zumindest für die gemeinsame Zeit mit dem
in Kürze Versterbenden schon ein Tapferkeitspreis verliehen?
Und komisch, wieso tritt dieses Hypochondrie-Ding immer so
grausig plakativ bei MÄNNERN auf?
Evtl. ’ne Theorie dazu?
REPLY:
Oh je, ich fürchte, der Flug Mittwoch abend ist damit gelaufen …
REPLY:
Wieso nur Männer zur Hypochondrie neigen, habe ich mich auch schon ergebnislos gefragt.