„Denk Dir“, schreibt mir der T. „Ich habe die M. getroffen.“
Die M. saß im Latein-LK immer ganz hinten in der Ecke. Sie sprach nie und am Ende schrieb sie immer eine eins. Sie war strichdünn, hatte mausbraunes, glattes Haar, und was sie in ihrer Freizeit tat, wusste keiner. Vielleicht las sie, vielleicht spielte sie Gitarre, vielleicht saß sie einfach nur so herum und starrte Löcher in die Luft. Sie hat es uns nicht erzählt. Wir haben nicht gefragt. Es war auch nie einer bei ihr daheim in dem geduckten gelben Klinkerbau, an dem ich auf dem Weg zum Reitstall zweimal die Woche vorbeifuhr. Sie kam, meine ich, auch zu keiner Party, obwohl da quasi jeder eingeladen war.
Auf der Kursfahrt in der Zwölften nach Rom kam sie mit und tat sich mit dem L. zusammen, den wir kollektiv merkwürdig fanden, und der heute Frauenarzt ist in München. Das war aber mehr eine Notgemeinschaft als eine Freundschaft, denn als wir wieder zu Hause waren, sprach die M. mit dem L. jedenfalls nicht mehr als mit allen anderen, also sehr wenig.
Nach der Schule verloren wir alle die M. aus den Augen. Dem T. erzählte die M. nun, sie sei Physiotherapeutin geworden und habe ein paar Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet, und sich dann selbständig gemacht. Das sei aber nicht so gelaufen. Deswegen sei sie jetzt wieder im Krankenhaus.
Verheiratet ist die M. nicht. Es gibt auch keinen Partner und kein Kind. Die M. habe gelacht, als er sie nach ihren privaten Umständen gefragt habe, sagt der T., als sei Privatleben eine völlig abwegige Idee. Sie verbringe viel Zeit mit ihren Eltern, hat die M. ihm erzählt. Ausgezogen sei sie ja nie. „Nichts Besonderes“, mache die M. nach eigenen Angaben in ihrer Freizeit. Pläne habe sie nicht. Sie lasse uns alle – den J.2, die G., die A. und mich, herzlich grüßen. Es gehe ihr gut.
Die rätselhafte M. Ob sie nach der Maxime lebt: „Wer wenig erwartet wird nicht enttäuscht“?
Ich weiß es nicht. Ein Rätsel.
„Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“
Schon ein bißchen gruselig.
Ja, finde ich auch.
In unserer Klasse hieß sie H., sie saß zwar im Lateinunterricht nie hinten (da saßen schließlich wir anderen), aber sie war ebenfalls spindeldürr, obwohl sie in jeden Tag in der großen Pause zwei Weißbrote mit Nutella futterte. Ihr Haar war auch mausbraun und glatt, sie trug eine Brille und Kleidung, die sie kein bisschen hübscher machte. Ihre Eltern wirkten schon etwas älter, ich glaube, sie war Einzelkind. Keine Ahnung, was sie in ihrer Freizeit machte oder was später aus ihr wurde.
Vielleicht – aber wer weiß das – geht es auch ihr ganz gut. Also so rein subjektiv. Aber das reicht ja.