Über ihren ältesten Bruder sprach meine Großmutter nicht so gern. Der zweite unterrichtete Alte Geschichte an irgendeiner Provinzuni, schrieb dicke Bücher zur Verherrlichung der Spartiaten und war damit ein Gegenstand familiären Stolzes. Der jüngste Bruder wurde Strafverteidiger, was jetzt immerhin noch als halbwegs redlicher Beruf gelten kann, auch wenn man da zwangsläufig mit schrecklichen Leuten zu tun bekommt. Nur der vergötterte Liebling der Urmama, der Onkel P., wurde sozusagen gar nichts, sondern brach ein Studium der Romanistik ab, zog zu Fuß durch Ungarn und Polen, photographierte dabei – so sagt man – nichts als Heuschober und tote Schafe und wurde schließlich eine Art Lehrer. Weil auch damals staatliche Schulen nur Leute nahmen, die fertig studiert hatten, heuerte er an einer Freien Schule an und unterrichtete dort Kunst und Deutsch.
An dieser Schule war aus irgendwelchen reformpädagogischen Gründen der Fleischverzehr verpönt. Der Onkel P., behauptete meine Großmutter, sei nun lebenslänglich für blödsinnige Ideen nur allzu leicht entflammbar gewesen, stellte also auch auf der Stelle das Fleischessen ein und magerte – so sagt man – in kürzester Zeit so fürchterlich ab, dass die Urmama fortwährend Pakete voll von Schokolade und Gebäck an das Internat gesandt habe, wo der Onkel P. seinem pädagogischen Wirken oblag.
Nun ist es eine Sache, wenn ein erwachsener Mann auf Fleisch verzichtet. Anders sieht die Sache aber aus, wenn dieser Mann sich einen Hund kauft und diesen Hund fortan mit Gemüseresten, Haferflocken und Kartoffelschalen ernährt, denn der Hund als solcher ist bekanntlich eine Art Hauswolf, und Wölfe, wie man weiß, fressen eigentlich Fleisch. Man war also zutiefst beunruhigt im elterlichen, recht tierlieben Hause, und schließlich fasste man einen Beschluss. Der nächstälteste Sohn wurde mit Geld ausgestattet, begab sich an die Wirkungsstätte des Vegetariers, vorgeblich zu einem Besuch, und während dieser unterrichtete, begab sich jener zum Sohn des Hausknechts und beauftragte ihn mit der wöchentlichen Fütterung des Tieres mit Knochen, Pansen, Rüsseln und Schweinefüßen gegen ein geringes Entgelt.
Nun, die Zeiten waren schlecht und wurden kaum besser. Der älteste Bruder ging an eine englische Uni, meine Großmutter zog mit meinem Großvater nach Zürich, weil es da eine Assistentenstelle für einen hoffnungsvollen, jungen Altphilologen gab, und der Vegetarier wurde eine Art Hauslehrer in Ungarn. Also nicht so in Budapest, sondern mehr so in der hinterletzten Puszta, wo echte Wölfe wohnen, Analphabeten hungrig um die Häuser streichen und Briefe vier Wochen dauern, wenn sie denn überhaupt ankommen und nicht vom betrunkenen Briefträger hinterm Schafstall vergraben werden.
Diverse Jahre verharrte der Onkel Pauli in seinem ungarischen Kaff und zog mit der Familie, deren Kinder er unterwies, einige Male um. Man verlor sich gewissermaßen so ein bisschen aus den Augen. Dann aber war seine Zöglinge sozusagen gebildet genug, der Onkel P. bestieg einen Zug Richtung Westen und stieg Tage später am Wohnorte meiner Großmutter wieder aus. An einem Abend also klingelte es an der Tür, man öffnete, ließ den Bruder und Schwager hinein, und war nicht wenig erstaunt, als in seinem Schlepptau sich ein Hund – der Hund – in die Küche schleppte. Meine Großmutter überschlug die Jahre. Der Hund musste mindestens 17 sein, was selbst für eine mittelgroße Promenadenmischung ein stolzes Alter bedeutet.
Der Vegetarismus sei das Geheimnis der Langlebigkeit seines Hundes, behauptete der Onkel P., und meine Großmutter sah meinen Großvater streng an, der manchmal im falschen Moment die Wahrheit sagte. Nie, behauptete der Onkel P., habe der Hund auch nur einen Fetzen Fleisch verzehrt, und verdanke diesem Umstand neben seiner blendenden Gesundheit auch sein freundliches und ausgeglichenes Wesen. Ein echter Fortschritt in der Hundehaltung sei ihm mit der Entwicklung des vegetarischen Hundehaltungskonzepts gelungen, das zudem ganz gut in die kümmerlichen Zeiten passe, und er werde über seinen Hund und dessen Nahrung ein Buch schreiben.
Man nickte freundlich. Irgendwann bezog mein Onkel P. wieder eine eigene Bleibe. Der Hund kam mit. Und nicht wenig erstaunt war die Familie, als der Onkel P. irgendwann bei einem anderen Familienmitglied aufkreuzte, um Obdach bat, weil er dortselbst auf einem Vegetarierkongress sprechen werde. Das Anschauungsobjekt, nämlich sein vegetarischer Hund, sei natürlich dabei.
Man hat es ihm nie gestanden.
Täten Sie es nicht schon seit Jahren, so müsste man Ihnen zurufen: Schreiben Sie das auf Kisch! Vielen Dank für diese großartige Erzählung.
Danke! Seit ich über meinen Onkel P geschrieben habe, fällt mir eine Geschichte nach der anderen ein. Vielleicht veranstalte ich demnächst einmal Frau Modestes Onkelwochen – ich hatte und habe einige Onkel, und die meisten waren auf die Nachsicht ihrer Mitmenschen schon eher sehr angewiesen.
Die Familie einer Studienfreundin von mir besaß tatsächlich einen vegetarischen Hund. Der musste aus irgendwelchen komplizierten gesundheitlichen Gründen, die ich vergessen habe, die Ernährung auf fleischlos umstellen und lebte zum Erstaunen der Familie gut damit. Sie erzählte mir einmal, dass der Vater dem Hund jede Woche auf dem Markt eine bestimmte Sorte Äpfel kaufte, einmal brachte er aber eine andere Sorte mit, weil es die gerade im Angebot gab. Der Hund habe ihm die anderen Äpfel so lange beleidigt vor die Füße gespuckt, bis er nochmals loszog, um die gewohnte Sorte zu kaufen.
Die Freundin rätselte, ob sich der Hund vielleicht insgeheim selbst für einen Hasen hielt.
Ein bisschen multiple Identitäten schmücken schon immer den Hund von Welt.