In Prenzlberg ist Ostern niemand. Also niemand außer uns. Die anderen Prenzlberger besuchen nämlich entweder ihre Eltern in Tuttlingen oder Augsburg oder haben sich irgendwo in Brandenburg ein Landhaus gekauft, das sie zärtlich Datscha nennen, obwohl es sich meistens um ein ganz normales Haus, nur halt irgendwo im Nichts, handelt, wo sie im Sommer im Garten herumsitzen, das Gras betrachten und Butterblumen zählen.
Wir würden das gelegentlich auch ganz gern tun. Wir können nur leider nicht. Wir haben nämlich keine Datscha. Statt dessen wollen wir raus. Also ganz so, wie man es sich vorstellt: Vater, Mutter und Kind setzen sich Ostersonntag ins Auto und fahren ins Grüne. Nur ein Picknick nehmen wir nicht mit. Statt dessen wollen wir in Paretz essen gehen. Das haben wir uns so ausgedacht: Kurz durch die Sommerresidenz Friedrich Wilhelm III., dann ins Königliche Kutschenmuseum, falls des F. Neigung zu interessanten Fahrzeugen sich auch auf alte, unmotorisierte Fahrzeuge erstreckt. Dann Biergarten, Kinderbauernhof und wieder zurück. Laut Navigationssystem eine Stunde.
Eine Stunde später stecken wir allerdings nicht in Brandenburg, sondern irgendwo in den verhältnismäßig erschreckenden Outskirts von Berlin. Davon gibt es ziemlich viele. Kahle Vorgärten, Fertigbauten in unterschiedlichen Farben und vor jedem Haus ein Trampolin. Damit sind die Vorgärten dann auch voll. Weil die Hauskäufer sich für den Kauf ihres sogenannten Häuschens schon bis über beide Ohren verschuldet haben, hat es für einen anständigen Garten nämlich meistens nicht mehr gereicht. Deswegen stehen die Häuser so eng nebeneinander, dass man seinen Nachbarn auf geringste Distanz in die Fenster schauen kann. In diesen baumeln Dekorationsgegenstände. Kränze mit Osterglocken aus Plastik oder hasenförmige Holzobjekte, die an den Ohren aufgehängt in der Heizungsluft schaukeln.
Neben mir ächzt der J. leise vor sich hin. Immer weiter und weiter führt uns das teuflische Navigationssystem in diese Unterwelt der Eigenheimbesitzer, weil da, wo wir langfahren wollen, heute aus irgendwelchen Gründen gesperrt ist. Zu allem Überfluss ist der Weg mit künstlich aufgeworfenen Hubbeln versehen, damit die Leute langsamer fahren. „Nein, nein!“, jammert der F. bei jedem einzelnen Hubbel, und wir Idioten beruhigen ihn jedesmal und behaupten, es sei nicht so schlimm.
Es ist aber schlimm. Das stellt sich zehn Minuten später heraus, als dem F. beim Anfahren nach der ungefähr fünfzigsten Ampel übel wird. Zum Glück läuft fast nur Wasser aus seinem Mund, aber dafür Mengen über Mengen über Mengen. Nie hätte ich gedacht, dass in einen Zweijährigen dermaßen viel Flüssigkeit passt. „Nächste raus.“, sage ich zum J., der im inzwischen ziemlich leeren Nichts irgendwo hinter Potsdam nach Abzweigungen sucht und versuche, den F. gerade zu halten und streichele seine Hände. „Nein, nein!“, weint der F. und versucht, sich das viele Wasser von den Händen zu wischen.
Fünf Minuten später stehen wir auf einem Feldweg unter alten Bäumen. Vor mir steht der F. und hält sich an meinen Händen fest. Langsam, noch etwas unsicher und ziemlich nass tappt er hin und her, atmet laut ein und aus, und dann lässt er – offenkundig wieder besser auf den Beinen – meine Hand los und läuft in den Feldweg hinein. Rechts und links begrenzen Zäune die Weide und ein paar Schritte weiter stehen schottische Hochlandrinder und schauen uns unter Unmengen langer, rotblonder Haare an. Wir schauen zurück, und allseitig wundern wir uns, dass man auch so aussehen kann. Haarig und mit elegant geschwungenen Hörnern auf der einen, nackt in buntem Stoff und sonderbar unsolide auf zwei ziemlich dünnen Beinen auf der anderen Seite. „Großes Schaf.“, durchbricht der F. die andächtig österliche Stille. „Hallo, Schaf!“, und ich lache und erkläre, zeige Euter und Hörner, spreche von Kälte und Zucht, als ein besonders prächtiger Bulle die Vorstellung kurzerhand abkürzt und laut und vernehmlich muht. Muh also. Nicht mäh. Überzeugt verstummt der F. und schaut den Rindern beim Grasen und Trinken zu. Ein paar Minuten spricht niemand. Irgendwo im Hintergrund flucht der J., weil sein Handy keinen Empfang hat und er sich langweilt.
„Gibt es heute auch noch was essen?“, unterbricht der J. irgendwann die gegenseitige Betrachtung der Rinder und Menschen. Der J. kommt nämlich vom Land und hat in diesem Leben genug Kühe gesehen. „Ist ja gut.“, gebe ich nach, und dann fahren wir weiter und geben in unseren Telephonen „Restaurant“ ein. Sacrower See, zeigt mein iPhone an. Da gibt es Wasser, da gibt es etwas zu essen und außerdem ist es ganz in der Nähe.
Am Ende sitzen wir am See. Grün, als habe es nie einen Winter gegeben, säumt der Wald in weitem Bogen das Wasser. Am Strand steht ein riesiger Schwan. Paare liegen im Gras, ein paar Kinder laufen hinter Bällen her und ein alter Mann betrachtet seine Zehen als wundere er sich, dass die noch da sind nach all der Zeit. Straff spannt sich über uns ein festtagsblauer Himmel, Spargel und Kalbsfilet gibt es auch, und blinzelnd vor Zufriedenheit, schnurrend vor Glück schließe ich einen Moment die Augen, schnuppere am Haar des F. und hebe mein Glas auf den Sommer, mit dem ich einen Pakt geschlossen habe, dieses Jahr: Auf dass sich alles fügen möge, sonnengelb und optimal und luftballonleicht dazu.
(Nach Paretz sind wir dann nicht mehr gefahren.)
Fein. Paretz kann warten.
Nächstes Wochenende geht es erst mal nach Lübbenau. Ich wohne jetzt über zehn Jahre in Berlin und kenne das Umland kaum. Das hole ich diesen Sommer nach.
Lübbenau habe ich mir mal im Sommer vor sieben Jahren ausführlich angeguckt, auf den Spuren von Nico (ja, die Velvet Underground-Nico) die da im Krieg ihre Kindheit verbracht hat, da Lübbenau relativ sicher vor Bombardierungen war. Nun war ich aber an einem Tag unter der Woche dort und es war (für mich) angenehm leer. Es soll an Wochenenden genau anders sein, die Spreewald-Ausflügler bevölkern die kleine Stadt und es ist wohl sehr volkstümlich. Als ich von meinem schönen Lübbenau-Ausflug zurückkehrte und einer Bekannten erzählte, die das Umland und die Gegend durch zahllose Ausflüge kennt, hat sie mich fassungslos angeschaut, weil ich berichtete, dass ich in einer Stadt war, in der mitten unter der Woche Sonntagsruhe herrschte. Sie konnte es kaum glauben. Also wenn man ländliche Ruhe sucht, sollte man das Wochenende lieber nicht in Betracht ziehen. Hier sind die Fotos, die ich von dem Städtchen gemacht habe, wo ma auch die schlafenden Kähne sieht:
https://www.flickr.com/photos/gaganielsen/sets/72157600925931220/
Schön!
So Vieles, was Sie schreiben, berührt mein Herz. Danke.
Gern. Und danke für die Blumen.
Vielleicht schick‘ ich auch ‚mal ein Buch…
Wie schön, besonders das mit den Rindern! Ausflüge ins Umland machen wir auch sehr gerne, es gibt immer noch was zu entdecken. Und natürlich, es muss auch immer was zu Essen geben, wenigstens eine Bude muss angesteuert werden.
Ausflüge ohne Essen machen keinen Spaß.