Halb sechs Heringsdorf

Es ist noch ganz still. Zwischen den Vorhängen fällt ein schmaler, gleißender Spalt Licht auf das Bett, und hinter Bäumen und Sand rollt, rauscht und zischt das Meer vor den Winden.

Mit offenem Mund liegen der J. und der F. neben mir und halten sich im Schlaf fest an den Händen. Wie im vollen Lauf in die Kissen gesunken, liegen sie da, die Knie angewinkelt, die Haare an der Stirn festgeklebt von der warmen Nacht. Am Brustbein des F. haftet noch immer ein bisschen Sand und rieselt aufs Laken.

Noch ist die Promenade fast leer. Noch läuft ein einsamer Jogger von Ahlbeck nach Heringsdorf. Noch führt eine Frau in kurzen Hosen ganz allein einen Pudel spazieren, und auf dem Meer schaukelt ein Boot einsam auf den Wellen. Noch scheint sogar das Wasser im Pool des Hotels zu schlafen und kräuselt sich sanft, ganz sanft, als würde es etwas sehr Feines, sehr Subtiles träumen, ein Traum quasi in Spitzen und Pastell.

Mein Buch könnte ich holen, beschließe ich, und schleiche mich vom Balkon zurück ins Zimmer. Ein paar Seiten lesen, Patrick Leigh Fermors letzten Teil der Reise nach Konstantinopel, einen grünen Tee, die Füße ausstrecken in die immer wärmere Sonne. Allein im Pool ein paar Bahnen ziehen, solange alles noch schläft.

„Komm, Mama.“, ruft es da halblaut vom Bett. „Gleich.“, rufe ich zurück, atme noch einmal tief die weiche, sonnengeschwängerte Luft dieses Morgens ein, blinzele in das weißgoldene Licht überm Meer und lege mich wieder aufs Bett. „Jetzt frühstücken?“, wispert der F. und reibt sich vorfreudig den kleinen, weichen Bauch. An die Würstchen denkt er bestimmt. Vielleicht auch an Fisch und an Eier.

„Später.“, streichele ich ihm den Kopf, schließe noch einmal die Augen, und der Schlaf trägt mich weg. Neben mir träumt auch der F. von den Freuden des kommenden Tages, und unten am Meer sitzt die rosenfingrige Göttin des Morgens Aurora und singt und gurrt mit den Nixen, bis der Tag sie verjagt.

2 Gedanken zu „Halb sechs Heringsdorf

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