Ich war stolz. Mein Engel schwebte sozusagen bildfüllend zwischen Sternen und einem sattgelben Mond. Er hatte ausladende Flügel, er lächelte mild, und er breitete die Arme aus wie der Herr Jesus auf den Bildern, die die Klassenlehrerin Frau S. bisweilen verteilte. Ich bekam leider nie so ein Bild.
Ich hatte dem Engel ein buntes Hemd gemalt, gestreift, mit bunten Knöpfen. Der Engel trug an den Füßen so eine Art Pantoffeln, und zwischen Hemd und Füßen prangte eine blaue Hose. „Frau S.!“, rief ich und schwenkte mein Bild. Das Schuljahr lief seit einem halben Jahr, und ganz hatte ich es noch nicht aufgegeben, Frau S. Wohlwollen zu gewinnen. In der Rückschau war ihr dieses Bemühen vermutlich ganz besonders unangenehm.
Frau S. sah sich das Bild lange an. Dann verzerrte sich ihr Gesicht. Ich duckte mich. Ich hatte etwas falsch gemacht, so viel war klar, aber was, blieb unklar. Dann verschwand Frau S., übertrag der K., ihrer Lieblingsschülerin, die Aufsicht über die Klasse, und blieb sehr lange weg. Als sie wiederkam, musste ich zur Direktorin.
Die Direktorin schimpfte mit mir. Ich hatte den Herrn Jesus verhöhnt, den lieben Gott und seine Englein. Die trugen nämlich keine Hosen, und nur ein rechtes Heidenkind, die der liebe Gott nicht liebt, konnte überhaupt auf so eine Idee kommen. Ich fing an zu weinen. Das sei nur recht, sagte die Direktorin. Der Herr Jesus weine jedesmal, wenn ein Kind ungezogen sei, denn mit diesen Kindern gehe es schlecht aus. Ich bekam irgendeine Strafarbeit auf, und dann stand ich auf dem Flur.
Meine Eltern lachten den ganzen Abend über den Engel und seine Oberbekleidung. Meine Eltern machten sich nicht für fünf Pfennig Gedanken über die Schule, weil ich eine wirklich gute Schülerin war, der Frau S. die guten Noten unwillig auf den Tisch pfefferte. Ich habe Jahre später erst verstanden, dass Frau S. mir meine Leistungen erst recht verübelte, weil sie mir in ihren Augen nicht zugestanden haben, und jedesmal, wenn die Rede auf die Grundschule kommt, die der F. ja auch einmal besuchen muss in ein paar Jahren, gebe ich mir einen Ruck, endlich meinen Frieden mit der Schule zu machen für den F., der vermutlich spüren wird, dass seine Mutter diesem Institut mit einem gewissen Abstand gegenübersteht, aber bis heute – Jahrzehnte später – reicht ein kurzes Gespräch mit der M. beim Italiener, eine Plauderei in der Kita mit einer anderen Mutter, und ich bin sechs, ich stehe auf dem Flur meiner Schule zwischen Klassenraum und Rektorat und zähle ganz langsam bis hundert, bis ich mich dann doch aufmache, klopfe und eintrete und mich sehr leise, so leise, wie ich kann, auf meinen Platz setze und warte, dass auch dieser Tag endet.
Gibt es das Bild noch? Ich würde es ja zu gern sehen.
Leider nein, ich weiß gar nicht, was daraus geworden ist.
Was für ein Trauma. Ich kenne einige, wo solche Erlebnisse in der Grundschule ein ganzes Leben bestimmt haben oder zumindest die Einstellung zum Lernen und zur Institution Schule. Lebt die alte Schnepfe noch? Der würde ich aber einen gepfefferten Brief schreiben!
Ich hoffe, sie sitzt irgendwo in einem muffigen, hässlichen Haus und langweilt sich schrecklich.
Ich hatte das Glück, von sehr guten Lehrkräften durch die Volksschule begleitet zu werden. Meine Tochter nicht, und eine solche Enttäuschung sitzt sehr tief. Was Ihr Söhnchen angeht, so sehe ich aber trotz Trauma ein resolutes Elternpaar, welches die richtige Schule mit entsprechend ambitionierten Lehrkräften finden wird.
Ich hoffe, der F. hat Glück und fühlt sich wohl. Gegenwärtig hegt er die freudigsten Erwartungen in Hinblick auf die Schule, von der er sich, wie ich fürchte, ziemlich übertriebene Vorstellungen macht.
Was für eine traurige Geschichte. Nicht zu fassen, wie kleingeistig manche Menschen sind. Ärgerlich!
Aus heutiger Sicht natürlich ziemlich komisch. Vielleicht habe ich Glück gehabt: Hätte die blöde Kuh mich gemocht, hätte ich mich vermutlich überschlagen in meinen Bemühungen und wäre eine fürchterliche Streberin geworden.