Archiv für den Monat: Januar 2015

Entkommen

„Bitte nicht der G.!“, wehre ich ab, halb lachend und halb entsetzt. Doch nicht der G., erinnere ich mich an den stets gelassenen, lockigen Schulfreund, den souveränen Cellist des Schulorchesters, mit dem ich sommerlang im Kirschbaum saß, den süßen Saft in den Mundwinkeln, und verstrickt in Gespräche über Dinge, die so unendlich groß und tödlich wichtig sind, dass man sich nach dem 20. Geburtstag nie wieder traut, darüber zu sprechen.

In München und Jena hatte der G. studiert und sich dortselbst in eine K. verliebt, eine kurzhaarige Punkerin aus Magdeburg mit Ringen in der Nase und Tätowierungen quasi überall, und dann am Ende doch die L. geheiratet, eine Schweizer Musiklehrerin mit langen, glatten Haaren. Am Starnberger See hatten beide gewohnt, der G. war Arzt geworden in einer Klinik am Seeufer, und drei Kinder kamen in ordentlichen jeweils zweijährigen Abständen. Man renovierte sich ein Haus. Die L. postete veilchenfarbene Cupcakes und sorgfältig drapierte Obstschalen auf facebook. Es muss perfekt gewesen sein, und sterbenslangweilig dazu.

Der Mensch jedoch hält, wie man so sagt, Perfektion einfach nicht aus, und auch der G., stelle ich mir vor, muss sozusagen monatlich nervöser geworden sein. Die Rosen und Hortensien vorm Haus. Die hübschen, blonden Mädchen in karierten Kleidchen neben einer Milchkanne. Die zuckersüße Landschaft rund um den Starnberger See, geradezu strotzend vor Reichtum und Selbstzufriedenheit. Der G., glaube ich, bekam mit der Zeit von alledem so ein irres Summen im Kopf, nachts schwitzte er und träumte von schönen Punkerinnen mit Messern zwischen den Zähnen, und eines Tages brach er aus.

Nun ist ein Einfamilienhaus am Starnberger See ein Art Gefängnis der ganz eigenen Art, dem man deswegen auch nicht einfach so entkommt. Wäre der G. zum Beispiel einfach nach München gezogen, wäre das Gefängnis schließlich mitgekommen. Milchkannen vor der Tür und Karokleidchen und pastellige Törtchen kann man schließlich fast überall hinstellen. In London zum Beispiel. Sogar in Dubai. Und deswegen griff, denke ich mir, der G. zum sozusagen alleräußersten: Er begann ein Verhältnis mit seiner Nichte.

„Nichte“ hört sich nun schlimmer an als es ist. Also keine kleine Nichte von 15 oder so. Sondern eine große Nichte von 24. Die Älteste seiner Schwester, an die ich mich kaum erinnern kann, weil sie schon längst weg war, als der G. und ich im Kirschbaum saßen. Immerhin platzte mit dieser Nichtenangelegenheit neben dem Milchkannengefängnis auch gleich der Herkunftsfamilienkerker mit den Celli und Sonntagabendscharaden und dem gegenseitigen Zeitungsvorlesen von dem G. ab.

In glänzender Einsamkeit, unterstützt nur von einer Handvoll treuer Freunde, packte also der G. kurz vor Weihnachten seine Sachen und zog in ein skandinavisches Land, wo er nun als Arzt in einem anderen Krankenhaus wiederum als eine Art Single sein Leben fristet. Das Haus mit Rosen, Milchkannen und Karokindern bewohnt weiter die L.

Man habe sich, sagte man mir von dritter Seite, schon ziemlich gewundert, wie zufrieden der G. nun wirke, angesichts des ganzen Desasters. Schließlich sei nicht einmal die Nichte ihm geblieben, denn die studiere derzeit in England zuende. Ich aber, ich weiß, dass der G.  im hohen, vermutlich eiskalten und stockdunklen Norden auf seinem Sofa sitzt, sein Bier in aller Seelenruhe trinkt, und aus allen Poren seines Lebens atmet es: Noch einmal entkommen.

Ja Zuckerschoten für Jedermann

Ich habe das ganze Konzept nicht verstanden. Ich verstehe nicht, was sich kiffende Pizzaboten davon versprechen, Satiriker für ein paar Cartoons zu erschießen. Den lieben Gott als ein unzweifelhaft höheres Wesen dürfte es nach jeder überhaupt vertretbaren Lesart kalt lassen, was irgendwelche Leute, die Zeitschriften illustrieren, über ihn denken. Und dass die Attentäter selbst ihr Leben durch diese Maßnahme nicht eben verschönert haben, liegt auf der Hand. Ich frage mich auch, ob solche Menschen eigentlich nie über die Restunsicherheit nachdenken, die an der Richtigkeit jeder Glaubenswahrheit zwangsläufig bestehen muss. Selbst wenn ich sehr, sehr, sehr gläubig wäre: Auch eine Unsicherheit von 1% sollte eigentlich ausreichen, um jemanden davon abzuhalten, dermaßen radikale Maßnahmen zu ergreifen.

Ich verstehe aber auch nicht, warum es diese Leute in Dresden auf die Straße treibt. Mir ist doch auch egal, wie die religiösen Vorstellungen meiner Nachbarn aussehen. Oder was sie anhaben, sagen, essen oder tun. Mein Gott, wenn mir die Leute um mich herum nicht gefallen, dann lade ich sie halt nicht zu mir nach Hause ein und mache mich maximal hinter ihrem Rücken bei meinen Freunden über ihre schrecklichen Lebensgewohnheiten  lustig. Wenn es ganz übel kommt, ziehe ich weg, wobei, wenn ich das richtig verstanden habe, sich diese Frage bei den Demonstranten gar nicht stellt. In Sachsen gibt es quasi keine Ausländer.

Ich will nicht ungerecht sein: Ich habe mir sogar Interviews dieser Leute angehört, in denen einige der Befragten fürchterlich lamentiert haben, wie schlecht es ihnen gehe. Da fragt man sich doch aber auch, wieso sie sich nicht die deutsche Sozialpolitik, sondern irgendwelche armen Flüchtlinge vorknöpfen, die selbst nichts haben.

Ganz generell weiß ich nicht, warum alle diese Leute – die mit den Waffen und die mit den bösen Worten – sich nicht mehr um sich und weniger um andere kümmern können. Warum sie glauben, das gute Leben beginne, wenn alle anderen Leute sich ihren Vorstellungen anpassen, statt so unterschiedlich zu leben, wie es jedem einzelnen gerade gefällt. Warum sie nicht, statt fruchtlos bis neidzerfressen über andere Leute nachzudenken, ihre Tage mit Tätigkeiten füllen, die glücklicher machen. Wie einen Garten anlegen, backen, eine Holzhütte für die Kinder bauen oder mit geschlossenen Augen allein  den Messias dirigieren. Das Klavierspiel zu erlernen, ein Bild zu malen, oder auf einen Berg zu steigen, oder was auch immer die Leute wirklich freut und befriedigt.

Das Leben sei nicht gut zu diesen Menschen, liest und hört man immer, und ganz sicher kommen eine ganze Menge Frustrationen zusammen, bis einer so böse und bitter wird, dass er anderen Leuten, die ihm nichts getan haben, alles Schlechte wünscht oder antut. Doch selbst in der größten Tristesse, in einem schmutzigen, verfallenden Hochhaus, ohne Job und ohne Aussichten gibt es doch Äpfel und Brot, Gespräche und Freundschaft, Gedichte aus der Stadtbücherei, Musik aus dem Internet und das reine, schlichte Glück, da zu sein, lebendig, so frei wie kein anderes Tier.

(Aber ich weiß: Ich hab‘ gut reden.)

Jahresrückblick 2014

Januar.

Um Mitternacht stehe ich auf dem Balkon von M. und M. in Friedrichshain und hebe das Glas. Am nächsten Morgen fliegen wir los. Berlin. Abu Dhabi. Bangkok. Koh Samui. Und dann mit dem vor Müdigkeit schwankenden Kind an der Hand ins Taxi und an den Strand. Hell ist es hier, unglaublich hell. Unwirklich blau der Himmel über Chong Moen Beach, sehr sanft und sehr freundlich spülen die Tage wie warmes Wasser um meine Knöchel, und wenn ich morgens auf dem Hausboot erwache, freue ich mich Tag für Tag auf die sagenhaften Früchte, das Schattenspiel auf dem Sand und die Gekkos an den warmen Wänden.

Februar.

Lauter erste Male: Der F. feiert zum ersten Mal Kindergeburtstag mit den beiden Kindern von M. und M. und zwei Kindern, mit denen er sich im August in den ersten Kitawochen angefreundet hat. Es gibt Rührkuchen und Pizza und infernalischen Krach.

Es ist, denke ich, als die Kinder in unserem Wohnzimmer spielen, schon ein seltsames Ding mit der Freundschaft: Gemeinsame Interessen können es nicht sein, denn die Kinder haben eigentlich keine. Gleichklang der Temperamente? Aber wie haben sie das festgestellt? Doch wie auch immer: Als das Jahr zur Neige geht, werden die Kinder in der Kita interviewt und sollen ihre Freunde nennen. Der F. nennt diese beiden Freunde aus den ersten Kitatagen, die er, wenn er sie sieht, herzlich umarmt.

März.

Ich huste antizyklisch. Es wird Frühling, alles strömt nach draußen. Nur ich bleibe schwer erkältet und keuche wie ein altes Schaf. Mein Radius verengt sich auf zwei Kilometer. Morgens ins Büro. Abends nach Hause. Wenn der F. röchelnd neben mir einschläft, lese ich noch so circa drei Seiten, dann falle auch ich in einen mühsamen Erkältungsschlaf. An einem der drei Tage, an denen ich mich nicht fühle wie ein aufgeweichtes Taschentuch, probiere ich bei Frau Casino ihre Küchenmaschine aus, die mich so begeistert, dass ich sie auch kaufen muss. Den Rest des Jahres backe ich mindestens zweimal die Woche. Hefeteig ist mein persönliches Wort des Jahres.

April.

Wir haben jetzt ein Auto. Wir hatten noch nie ein Auto, deswegen fremdeln wir erst ein paar Wochen mit dem blauen Kombi, der so unpersönlich aussieht, dass wir ihm nicht einmal einen Namen geben. Das neue Auto ist wie Nutzvieh. Dann aber geben wir uns einen Ruck und fahren entschlossen in die Natur. Also ins Umland. Da waren wir nämlich die letzten 15 Jahre nicht, weil Berlin, wie man weiß, eigentlich gar kein richtiges Umland hat. Am Ende des Sommers werden wir fast 8.000 km gefahren haben und kennen sozusagen jeden angrenzenden Landkreis: Die Landschaft ist öde. Schön ist aber die Sonne, die Fülle von Grün, und inmitten von Wiesen, Butterblumen und treibenden Kähnen im Spreewald rundet sich der Frühling mit Mek und Sven K und ihren klugen, schönen Damen zu purem Gold.

Mai.

Dem Gold des Spreewalds fahren wir hinterher. Wir steigen mit M. und M. und der I. und dem S. auf die Burg Rabenstein und picknicken auf dem grünen Rasen. Wir bewundern die Greifvögel, wir essen Spargel in Beelitz, und wir wundern uns abends zu zweit im halbleeren Soya Cosplay am Gendarmenmarkt, warum wir das eigentlich nicht schon längs mal gemacht haben. Also mal so raus aus Berlin. Spätestens, als es wieder kalt wird, wissen wir das aber ganz genau.

Juni.

Sommerfest in der Kita. Das erste Kitajahr ist vorbei. Im Gras vor mir sitzt der F., staunt über den Zauberer, äußert Meinungen, Betrachtungen, Wünsche und isst das Mehrfache seiner Körperlänge in Bratwurst.

Woche für Woche wird jetzt irgendwo der Sommer gefeiert. Wir sitzen mit anderen Eltern, Freunden, Familie im Gras, gewinnen beim Dosenwerfen Tröten und Spardosen, und erholen uns abends zu zweit in Kreuzberg oder Friedrichshain an einer Bar mit Craft Beer, weil der J. mit Mek an einer selbstorganisierten ganzjährigen Bierstudie teilnimmt und unaufhörlich neue Biersorten ausprobieren muss. Viel zu selten dagegen sitze ich ohne den J. und den F. mit Freundinnen irgendwo beim Wein, im Liebling vielleicht oder in der Matreshka, und fühle mich dann wie auf einer Zeitreise zurück in ein Zeitalter, das ich mochte und von dem ich weiß, dass es schon wiederkommen wird, irgendwann.

Juli.

Wir grillen und schauen Fußball. Immerzu. Die verdammte Weltmeisterschaft, sie nimmt einfach kein Ende.

Wir sitzen zu sechst vorm Café Schönbrunn und zu acht auf der Dachterrasse von M. und M. und bei R. und I. am Kollwitzplatz. Wir sitzen im Pepe Nero, den F. immer dabei, der jetzt auch ein T-Shirt haben will, auf dem Schweinsteiger steht. Ich langweile mich mehr, als ich sagen kann, und als die ganze Angelegenheit sich dann  Runde für Runde weiterschleppt, überlege ich ernsthaft, mit Meditationen zu beginnen, um spirituelle Reisen an irgendwelche fußballfreien Orte zu unternehmen. Kurz vor Umsetzung dieser Idee bricht der J. sich auch noch den Arm.

Dann geht die WM glücklicherweise doch noch zu Ende. Wir fahren kurz nach Ende des Spiels von der I. und dem S. in Grunewald heim, umgeben von glückselig taumelnden Berlinern, die auf dem Ku’damm Fahnen schwenken und lachen, als sei ihnen höchstpersönlich die Erlösung zuteil geworden.

August.

Ostsee. Im August sind wir fast jedes Wochenende an der Ostsee. Wir waren schon im Juni zwei Tage in Heiligendamm. Aber jetzt macht meine Mutter eine Kur auf Usedom, und wir fahren drei Tage nach Heringsdorf. Wir waren schon vor ein paar Jahren einmal in Ahlbeck. Das war damals eher so nicht mein Fall. Diesmal aber sitzen wir zu dritt – dann zu fünft mit meinen Eltern – am Strand, das Steigenberger Heringsdorf ist sehr okay, und trotz des Badebetriebs und der wirklich ziemlich merkwürdigen Leute zwischen Seebrücke und Minigolf geht es mir so gut, dass wir drei Wochen später gleich wieder fahren. Diesmal mit M. und M. und deren Kindern und nur für einen Tag und eine Nacht.

Leider bekommen wir nur noch im Seeschlösschen Zimmer. Die sind schrecklich nett zu uns. Auch der Spa ist okay, das Essen im Restaurant sogar sehr, sehr gut. Aber Kinder gibt es da nicht viele, und die meist älteren, recht gediegenen Gäste machen mit einem doch sichtbar gequälten Lächeln  gute Miene zum lauten Spiel. Schön ist es trotzdem. Schön, aber ein bisschen kalt.

September.

Côte d’Azur. Diesmal mit Ferienhaus. Und Schwiegereltern. Ich fühle mich ein bisschen fremd in dieser Variante eines Urlaubs, der irgendwie nicht so richtig zu mir passt, wie die Schwiegereltern auch, die mit den besten Absichten von Tag zu Tag mehr an meinen Nerven sägen. Acht Tage, die sich anfühlen wie sechzehn. Erst, als sie weg sind, erneut: Das Glück. Das Meer. Das unvergleichliche Licht. Die Schluchten des Esterel. Essen und Wein, diesmal in Sainte Maxime, und nicht einmal das gebrochene Knie nach meiner Rückkehr nach Berlin kann den lächelnden Nachhall dieses späten Sommers ganz zerstören. In irgendeiner idealen Welt sitze ich immer noch da, in Trigance auf der Terrasse der Burg und esse einen Gang nach dem anderen.

Oktober.

ich bin beim Arzt. Andauernd und wochenlang. Eine Woche nach meinem Unfall kann ich wieder arbeiten, aber bis ich auch nur halbwegs wieder gehen kann, verstreichen lange, elende Wochen. Ich schleppe mich mit Taxen und Krücken bis ins Büro, sitze ansonsten bewegungslos auf dem Sofa und lese wie eine Besengte. Neben mir sitzt der freundliche, F. mit mehr Rücksicht, als einem Zweijährigen gut zu Gesicht steht, und ich bin ganz froh, als wir, als die Kita für eine Woche schließt, ihn auf einem bayerischen Bauernhof toben lassen können. Selig steht er im Kuhstall, jagt über die Wiese, isst Knödel, dass es nur so kracht und sitzt mit weit aufgerissenen Augen mit dem Bauern auf dem Traktor und kann sein Glück nicht fassen.

November.

Langsam wird meine Welt wieder größer. Ich backe Brot mit dem F. und bastele mit ihm Bilder mit Fischen. Mitte November gehe ich ohne Krücken die normalerweise 20 Minuten bis zum Puppentheater mit ihm, brauche fast 45 Minuten und komme erschöpft, aber triumphierend an. Er sitzt mit roten Ohren aufgeregt wie bei jedem Besuch neben mir, fiebert mit, fährt zusammen, wenn das Krokodil kommt und feuert den Kasperle lautstark an. Ich kann auch wieder in Restaurants, nachdem ich mein Bein wieder bis ca. 45 Grad beugen kann, treffe Freundinnen und freue mich, als ich am letzten Arbeitstag im November die zwei Kilometer bis ins Büro laufen kann.

Dezember.

So viel Weihnachten war selten. Der F. spricht vom ersten Advent an über kaum etwas anderes als seine Geschenke, den Weihnachtsmann, die Aufführung, bei der er in der Kita mitwirken soll, und fabuliert über Bäume, Bärte, Säcke, und Kekse, dass es schier ein Wunder ist, dass all das nicht allein durch des F. heißes Begehren aus der leeren Luft vor ihm ersteht.

Ich bastele also, backe Kekse, knete Stollen und kaufe ein. Immerzu finden Weihnachtsfeiern statt. Gar kein Ende nimmt dieses Weihnachtsfeiern, spätestens Mitte Dezember arbeite ich vor lauter Terminen vorwiegend nachts, andauernd kommen Weihnachtsmänner und stimmen Lieder an, und nur ein Wesen von der unendlichen Begeisterungsfähigkeit des F. ist am Heiligen Abend selber immer noch einer emotionalen Steigerung fähig. Mit runden Augen bestaunt der F. in Sankt Bartholomäus das Krippenspiel und jubelt praktisch ununterbrochen bis Silvester weiter.

Um Mitternacht stehe ich auf dem Balkon von M. und M. in Friedrichshain und hebe das Glas. Willkommen 2015.