Wir saßen im Studentenwohnheim auf dem Boden im Appartement der C.2, ich war gerade 19 geworden, und wir tranken eine Bowle aus dem Rotwein von plus, Zucker und klein geschnittenem Dosenpfirsich, und die M.3 sang und spielte Gitarre. Ich lackierte mir die Fußnägel mit einem knallroten Nagellack, den die C.2 bei Douglas in der Fußgängerzone gekauft hatte, und die C.2 las uns eine Postkarte vor, die ihr jemand geschrieben hatte, den sie ganz gut fand. Dabei lehnte sie sich weit zurück, und als sie den Kopf so weit zurückbog, dass ihr Haar in einem Winkel von fast 45° auf den Boden hing, sah ich ihr erstes, graues Haar. Die C.2 war gerade 20. Ich öffnete erst den Mund, und schloss ihn dann wieder und sprach nie, nie, nie von dem einen, ersten grauen Haar, um die C.2 nicht zu deprimieren, die es ohnehin nicht so ganz leicht hatte in jenen Jahren. Es blieb auch ein verirrter Einzelgänger.
Solche ersten grauen Haare sehe ich heute oft: In den Augenwinkeln einer Freundin, die Lachfältchen, die sich irgendwann nicht wieder glätten. Die hohe Stirn eines Freundes. Die tiefe Nasolabialfalte einer Bekannten. Eine lange nicht gesehene frühere Kollegin, deren Unterlippe irgendwie langsam verschwindet. Manchmal hängen diese ersten grauen Haare Leuten, die man lange kennt, auch quasi aus dem Mund. Wenn ein alter Freund ab und zu so richtig grämliche Sachen sagt, die klingen, als sei die Welt seit der Reformation eigentlich täglich schlechter geworden. Wenn eine Freundin behauptet, zu ihrer Zeit hätten weder sie, noch ihre Freunde … worum es genau ging, habe ich schockiert vergessen. Derzeit ärgert sich ungefähr die Hälfte aller Leute, die ich kenne, ständig über die Generation Y, und erst gestern habe ich eine Frau in so circa meinem Alter auf einem Straßenfest sagen hören, vor zwanzig Jahren wären die jungen Mädchen nicht so schlampert herumgelaufen wie heute.
So etwa, da bin ich mir sicher, würde ich niemals sagen. Zum einen erinnere ich mich sehr genau an 1995 und darf hiermit versichern, dass die Welt nicht so gar anders aussah als heute. Zum anderen, und das ist mir wichtig, will ich nicht an Leib und Seele so grauhaarig werden, und fürchte doch – mal mehr und mal weniger – dass meine eigenen grauen Haare nur anderswo angebracht sind. Wie es so zu gehen pflegt: Da, wo ich sie am wenigsten sehe.
Der letzte Absatz beschreibt auch meine Furcht ziemlich gut. Umso besser je länger ich daran denke. Allerdings bin ich auch nicht bereit die Chemie zu Hilfe zu holen um den Leib davor zu bewahren. Ausreißen geht nur bis zu einem gewissen Grad.
Umso mehr beäuge ich mich mißtrauisch mein Inneres. Hip-Hop (als Kultur) und ich werden uns allerdings nie lange im selben Raum aufhalten. Da bestehe ich darauf ein Alter Sack zu sein und verweigere mich. Zum Glück tendiert das Kind woanders hin. Für Sprechgesang, alberne Kopfbedeckungen, hängende Hosen und „Yo“ habe ich innere graue Strähnen die ich gerne kämme.
Ist das schon bedenklich?
Wenn ja dann bin ich verloren.
Über diese Hip Hop Posen muss ich auch immer lachen. Ich fürchte aber, auch dieses Gelächter gehört zu meinen ganz persönlichen grauen Haaren. Besonders lustig die Annahme, diese Posen wirkten irgendwie männlich.
Wenn dann zwei Jahrzehnte später die ersten weißen Haarstränen am Schläfenansatz erscheinen, sich aber noch unter einem nach vorn herabfallenden Blonddeckhaar verbergen lassen, kann man sich immer noch fragen, ob man sich schon alt fühlt oder immer noch wie dreißig.
Ich entscheide mich für Letzteres, selbst wenn ich schon so weißhaarig wäre wie manche Altersgenossen.
Und wirklich jung sind ja sowieso nur die 20er Altersgruppen, die ansagen was hip und cool ist und alle darüber für alt halten…
Das ist auch so eine tolle Sache, wenn man sehr jung ist: Sich selbst für das Zentrum der Welt halten.