Jahresrückblick 2015, 1. Teil

Januar. Um Mitternacht stehe ich auf dem Balkon von M. und M. in Friedrichshain und hebe das Glas. Willkommen 2015. Die nächsten Wochen schleppe ich mich so durch die Tage. Ich wäre gern weggefahren, aber daran ist aus verschiedenen Gründen gerade nicht zu denken, und so halte ich den Januar irgendwie aus und verbrauche eine Großpackung Taschentücher. Damit möglichst viele Menschen etwas von meiner Erkältung haben, und weil ich mich zuhause schrecklich langweile, gehe ich zur Lesung von Judith Hermanns neuem Buch und ins Deutsche Theater zur Dramatisierung von „Jugend ohne Gott“. Das Theaterstück ist gelungen, das Buch wirkt schon beim Vorlesen mitleiderregend öde.

Im Februar lebe ich wieder auf. Der Februar ist in Berlin zwar eigentlich der scheußlichste Monat, weil es feucht, kalt und dunkel ist, aber im Februar macht mir das nichts aus. Ich fahre beruflich ein bisschen durch die Gegend, denn das mache ich inzwischen wieder ganz gern, fahre mit J. und F. drei Tage an die Ostsee und gehe ausführlich weg. Zweimal immerhin schaffe ich es zur Berlinale, einmal in die ausgesprochen originelle Zauberflöte in der Komischen Oper, und streiche mit dem J. und verschiedenen Freunden, die mir lustige Geschichten erzählen, durch die Markthalle neun, die Bars von Mitte, die Restaurants von Kreuzberg und sitze mit dem fast immer fröhlichen F. auf dem Sofa und erzähle ihm und mir lange Geschichten.

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Als es März wird, wird es auf einmal warm. Vor den Eiscafés sitzen die Leute und löffeln mit verklärtem Grinsen Eis in Geschmacksrichtungen wie „Vanille mit Kürbiskernöl“ oder „Karamellierte Anis-Birne mit weißer Schokolade und Pernod“.

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Mitte März trinke ich das erste Biergartenbier des Jahres und schaue nachts vom Neni aus über die leuchtende City West und den tiefschwarzen, nächtlichen Zoo, in dem Tiger brüllen und Affen mit riesigen grünen Augen in den Netzen ihrer Käfige vom Urwald träumen und tanzen.

Im April geht es mir gut. Zum erstmal seit 2012 sind der J. und ich erst eine Woche zu zweit in Berlin, weil der F. meine Eltern besucht und mir zweimal täglich telefonisch Sensationen berichtet. Er habe im Garten Blätter geharkt. Pferde auf der Koppel gesehen. Mit einer Kaffeemühle Kaffee gemahlen, wie auch Kasperles Großmutter sie besitzt und sich vom Räuber Hotzenplotz habe stehlen lassen. Wir gehen in Berlin währenddessen ausführlich essen und sitzen da drei Stunden rum und verzehren sieben Gänge, und ich sehe einen der merkwürdigsten Filme des Jahres: „Tod den Hippies, es lebe der Punk“, und lese, weil mir der Film so gefallen hat, gleich noch Oskar Roehlers Superbuch. Dann feiern wir Ostern im Garten der I. und des S. und fahren in Urlaub.

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Zypern erweist sich als Volltreffer. Wir baden im Pool, essen göttlich und besichtigen ganze antike Städte mit bestens erhaltenen Mosaiken. Von Bild zu Bild führen wir den F. herum und erzählen ihm Geschichten über Theseus und den Minotauros, Orpheus und die tanzenden Tiere und die schöne Helena. Noch ein Jahr später spricht der F. von Zypern. Gern nächstes Jahr wieder versprechen wir ihm und meinen es ernst.

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Der Mai leuchtet in warmen Nächte und Rosen. In der Komischen Oper bewundere ich Schönbergs „Moses und Aron“ und bitte Barrie Kosky im Stillen um Verzeihung, weil ich ihm die Inszenierung einer ernsten Oper nicht zugetraut habe. In der Preussischen Spirituosenmanufaktur lasse ich mir zeigen, wie man Schnaps braut, trinke auf dem Braufest Berlin verschiedene Biere und esse in der Cordobar in Mitte so tolles Essen, dass ich das ganze Jahr versuche, da wieder hin zu gehen. Weil Berlin gerade voll mit spannenden Lokalen ist, schaffe ich das aber erst wieder kurz vor Weihnachten.

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Bei der ersten re:publica, die ich jemals besuche, stelle ich einmal mehr fest, dass mich Vorträge langweilen, außer ich spreche selber, aber dann gehe ich unter zwischen lauter Leuten, die ich wirklich mag, und verliere mich, ein Bier in der Hand, in Gesprächen.

Im Juni stehe ich mit SvenK und seiner Frau auf dem Schiffshebewerk in Niederfinow und schaue über die Uckermark. Ostdeutschland war mir lange nicht so fremd wie 2015 mit seinen brüllenden Aufmärschen und brennenden Notunterkünften, aber das sommerlich warme Land atmet ruhig in der Sonne. Dass dieses Jahr kein Jahr wie andere ist, spüre ich zunehmend im Sommer, und auf dem Kaltblüterfest in Brück mit den neuen Freunden K. und P. schaue ich ab und zu den Leuten an den Ständen und Tribünen zu und überlege, was diese fremden Leute wohl denken und ob sie es sind, die in den Kommentaren im Internet von Mord und Brandstiftung schwadronieren.

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Wir eilen von einem Sommerfest zum anderen. Überall wird gegrillt, getanzt, gefeiert. Wir treffen Freunde, trinken Bier, lassen uns von Kindern, Wohnungen, Beförderungen erzählen und freuen uns über unseren freundlichen, fast ein wenig dörflichen Kiez. Wenn ich das Haus verlasse, treffe ich immer jemanden, den ich kenne, stelle ich spätestens in diesem Jahr fest. Ich habe es gut getroffen mit meinem Berlin.

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