Am Nachbartisch

Sie scheint Französin zu sein, klein und leicht und mit ausdrucksvollen Augen. Sie ist unglaublich dünn und für einen Moment beneide ich sie um ihre tolle Jeans und wie gut sie darin aussieht.

Neben ihr sitzt er. Er ist vielleicht 30, wohl ein paar Jahre älter als sie, und blättert in der Karte. Sie sieht gelangweilt aus, schaut weder in die Küche, noch auf die hell erleuchteten Kühlschränke, in denen riesige Steaks auf Esser warten, und sie schaut sich auch nicht um, was an den anderen Tischen passiert. Es ist 23.00 Uhr, letzte Nacht der Berlinale, und der Grill Royal dampft vor hektischer Erregung.

Irgendwann erscheint ihr Kopfsalat, von dem sie drei Blätter isst, um sich dann zurückzulehnen und ihn stumm anzuschauen. Ab und zu nippt sie an ihrem Wein, verschränkt die Hände und schaut ins Leere, irgendwo ganz hinten an die Wand vor den Toiletten.

Auch die Nachbarn haben ein Gemeinschaftssteak bestellt und sind – anders als wir – den Einflüsterungen des Kellners offenbar erlegen, noch ein zweites Filetsteak dazu zu bestellen. Rot und braun glänzt das Fleisch auf dem Tablett, er legt ihr zwei Scheiben auf den Teller und schüttet ein paar Pommes Frites dazu, die sie sofort an die Seite schiebt, als fürchte sie, die Pommes Frites würden durch zu große Nähe in ihren mageren Körper diffundieren. Dann legt sie sich wieder zurück und schaut ihn an.

Er isst, als gebe es kein Morgen. Er schlingt das Fleisch in sich hinein, er schiebt sich immer weitere Stücke in den Mund, stopft Pommes Frites und Bohnen hinterher, und mein geschätzter Gefährte J. schielt gepeinigt zur Seite, weil der Nachbar isst, als habe ihn ein Blinder im Neandertal erzogen.

Vielleicht schaut auch seine Begleitung deswegen so indigniert. Sie hat inzwischen das Besteck ganz beiseite gelegt, schaut ihn an wie einen irritierenden Gegenstand, eine Tasse etwa, die gestern doch noch nicht in der Küche stand, und zieht ein paarmal die Luft so stark ein, dass sich ihre Wangen nach innen verziehen.

Der J. und ich haben unser Steak inzwischen aufgegessen. Nur noch ein paar Bohnen liegen quer über einer schwarzen Schale. Wir trinken immer mehr von dem sizilianischen Rotwein, lästern über An- und Abwesende, betasten unsere neuen Bücher, und freuen uns auf das Wochenende.

Wir sollten mal nach Singapur fahren, sagt der J., weil der Film über Essen in Singapur so gut war, den wir gesehen haben. Aus den Augenwinkeln sehen wir das Paar am Nachbartisch feindlich schweigen.

Die fahren nirgendwo mehr hin, meine ich zum J. Zumindest nicht gemeinsam.

3 Gedanken zu „Am Nachbartisch

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