Manchmal, nicht gar allzu oft, fliegen sie ja doch auf, die kleinen Fluchten. Nehmen wir beispielsweise den mir über seine Schwester, die A., bekannten Herrn O., der in einer Berliner Kanzlei irgendwas mit Immobilien macht und mit seiner Frau, einer Juristin in der Brandenburger Kommunalverwaltung, am Stadtrand von Berlin rechtschaffen und tief verankert im evangelischen Glauben zwei Töchter erzieht.
Im Leben von Herrn O. ist das Konzept der Work-Life-Balance noch nicht angekommen. Jeden Morgen um halb acht geht er aus dem Haus, bringt die Töchter zur Kita und zur Schule, fährt weiter ins Büro, arbeitet unterbrochen durch eine kurze Mittagspause bis 20.30 und fährt dann nach Hause. Außer, es ist richtig was los. Dann arbeitet Herr O., bis er fertig ist. Einmal wöchentlich geht er zum Sport und drückt und schiebt sehr ungern Gewichte, weil ihm sein Arzt ein moderates Krafttraining empfohlen hat. Jede Woche liest Herr O. ein Buch, gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern geht er regelmäßig in die Philharmonie. Herrn O.s Leben als ausgeglichen zu beschreiben, wäre alles in allem eher eine Untertreibung.
Von irgendwelchen Abwegen, auf die Herr O. sich begeben hätte, hörte man bislang nichts. Sogar seine Schwester, die ihm wirklich wohl will, beteuerte über Jahre, er habe gar kein Liebesleben, denn seine Ehe sei schon eher mehr so eine Arbeitsgemeinschaft zur gemeinsamen Bewältigung von Kindern und Haushalt und völlig frei von Leidenschaft. Vermutlich, so behauptete die A. schon lange, habe ihr jüngerer Bruder mehr S*x als ihr ältester Bruder Herr O., und der sei bei Licht betrachtet ein schon eher schwieriger Fall.
Ganz ohne Liebesleben lebt es sich aber selbst bei sehr reduzierten Ansprüchen offenbar nur mäßig. Mancher hätte sich einfach frisch verliebt und scheiden lassen, doch für so eine ganz neue Liebe ist Herr O. zu zurückgezogen, außerdem scheut er vermutlich die Mühen der Reorganisation seines Privatlebens, und so hat er sich anscheinend für eine Art Trockenübung der Liebe entschieden: Er hat sich durchaus verliebt, offenbar in eine Referendarin des Hauses, dem er angehört, dieser jungen Dame aber nie ein Wort über diese Neigung gesagt.
Um von der Verliebtheit trotzdem auch ein bisschen was zu haben, unterhielt Herr O. ein Buch. In dieses Buch schrieb er alles, was er über die junge Dame erfuhr, jede Begegnung, überhaupt alles, was ihn und sie gemeinsam betraf, und ab und zu las er in diesem Buch seine nicht ausgelebte Liebe nach. Mancher mag das kümmerlich finden, aber Herrn O. war das entweder genug oder er konnte nicht aus seiner Haut, und vielleicht hätte die Referendarin ihn ja auch gar nicht erhört. Ich glaube nämlich, Herr O. ist ein bisschen fade.
Vor einigen Wochen, ein Sonntag war’s, kam es dann aber doch zur Katastrophe. Herr O. hätte vielleicht besser eine elektronische Datei mit einem Passwortschutz unterhalten, aber wie auch immer: Seine Frau fand das Buch. Und las es in einem Sitz durch.
Vermutlich wäre es am vernünftigsten gewesen, es einfach zu ignorieren. Oder darüber zu lachen, denn schließlich ist rein gar nichts passiert, nicht einmal in der Wahrnehmung einer evangelischen Kommunalbeamtin, aber die Frau des O. reagierte bemerkenswert umsouverän und wollte sich erst unter Tränen trennen und dann eine kniefällige Entschuldigung und eine Therapie.
Nun fragt sich vermutlich auch der geneigte Leser, was genau eine Therapie ausrichten soll, wenn einer sich lautlos verliebt, und vielleicht unterschätze ich die Therapeutin auch, und es gelingt ihr, dass der Herr O. sich künftig nicht mehr zu fremden Fräuleins, sondern bekannten Ehefrauen hingezogen fühlt, aber tatsächlich, und da stimme ich mit seiner Schwester A. überein, spricht Einiges dafür, dass der A. selbst auf seinen MIniaturabwegen unser aller Mitleid in überreichlichstem Maße verdient, wie er in der Praxis einer Westberliner Therapeutin unglücklich und ohne Aussicht auf wahrhafte Besserung herumsitzt.
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Gerne gelesen
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Vielleicht kommt ja die Therapeutin darauf, dass Herr O. lediglich einen Kurs für kreatives Schreiben besuchte und eine rein formale Stilübung unterhielt. So ein schreibender Gatte kann zwar auch leicht genant sein, aber die Muse wäre noch viel unkonkreter und somit die Rückführung des nicht einmal abseits Wandelnden erleichtert.
Mitleid ist gewiss.
Sie haben das Ei des Kolumbus gefunden! Ich schreibe umgehend der A., welche ihren Bruder munitionieren wird. Dann ist wieder Ruhe, wenn auch möglicherweise nicht die Sorte Frieden, die man sich so wünschen würde, wäre man anspruchsvoller als der Herr O.
Oh, halten Sie uns bitte auf dem Laufenden., denn Ihr schöner Text verführt ganz arg zur Indiskretion.
Ein Schulkamerad führte einmal ähnlich Buch, einschließlich eingeführter Kürzel. Das war allerdings seine offizielle Freundin. Er zeigte mir das mal, als ich etwa 17 war, und es hat mich damals bass erstaunt – jetzt weiß ich, dass das kein Einzelphänomen ist 😉
„Indiskretion“ – ich meinte ‚Neugier‘
Ja, in der Tat.
Haha, die Evangelen wieder: Therapie gegen feuchte Gedanken. Das hätte der Briefträgersohn aus Bethlehem bestimmt nicht gewollt!
Armer O.
So gesehen, wäre die Gattin des O. besser in einer Therapie aufgehoben, als er selbst.
Ob das was bringt? Vielleicht ist die ja auch nicht so recht glücklich. Ich bin jetzt keine Spezialistin für derlei Fragen, aber möglicherweise senken die beiden ihre Ansprüche an die eheliche Verbindlichkeit zu beider Glück einfach etwas ab.
❤️
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Offensichtlich hat der O. sein Leben auf eine Art und Weise organisiert, die ihn nicht erfüllt. Und offensichtlich hat er niemanden, mit dem er darüber reden kann. Beides zusammengenommen ein guter Grund, einem Therapeuten aufzusuchen.
Vielleicht eher ein guter Grund, einen Scheidungsanwalt aufzusuchen. Oder eine nette Dame, die ihm das Verheiratetsein ein bisschen erleichtert.
Was auch immer ihm dabei hilft, sein Leben auf eine Weise zu führen, die die Welt ein bisschen besser macht – für ihn, seine Familie, seine Freunde und Kollegen, nette Damen und von mir aus auch für Scheidungsanwälte.
Diese nette Art Geschichten begegnet mir nur hier.
Dabei sehe ich nebenbei gerade Doctor Who!
Die Familie A./O. hält sicher auch in ihrem anderen
Aspekten interessante Episoden bereit.
Elternversammlungen wären bestimmt interessant.
Oder sehr nervig. Je nachdem wie man es sieht.
Die liebe A. ist in der Tat besser als Fernsehen. Ein Best-of-A. beinhaltet etwa:
http://modeste.me/2005/04/07/problematische-entwicklungen-im-leben-der-a/
http://modeste.me/2005/08/26/die-a-geht-sich-amsieren/
http://modeste.me/2006/03/30/die-a-heiratet/
http://modeste.me/2006/06/08/dipus/
http://modeste.me/2010/04/04/ein-schner-mann/
danke für die links
Mancher entwickelt eine Zuneigung, wohl wissend, dass sie fehl am Platz ist. Der O konnte wohl nicht aus seiner Haut, mochte aber dennoch die Lebensgemeinschaft mit seiner Frau nicht zerstören, aus welchen Gründen auch immer. Ich empfinde das weder als „miniature“ noch als bemitleidenswert. Es erinnert mich ein wenig an ein Interview, das ich einmal gelesen habe. Eine Ordensschwester wurde darin gefragt, ob sie bedauere, nicht lieben zu dürfen. Sie antwortete sinngemäß, lieben dürfe sie sehr wohl, nur eben die Liebe nicht ausleben.
Ob es da wirklich eine Therapie braucht und eine kniefällige Entschuldigung? Vielleicht doch eher ein wenig Diskretion und Nachsicht auf allen Seiten. (Natürlich sind Heimlichkeiten nicht schön.) Man fragt sich: ist die Schwärmerei des O ein Symptom der beginnenden Auflösung einer Ehe oder ist es wirklich nur eine zeitweilige Verirrung, die selbst in den besten Familien vorkommt? Das kann wohl nur das betroffene Paar entscheiden.
meine güte was für ein text. und wie er geschrieben ist. super.
Wenn unbedingt Therapie, dann bitte beide. Verliebt sein ist nicht pathologisch, sondern kein Wunder bei einer solch straff organisierten Ehe, die keinen Raum lässt für Spielereien und Träumereien.