Sommerkind

Es gab, erzähle ich dem F., vier Zelte in diesem Sommer. In jedem Zelt schliefen zehn Kinder. Es gab ein Mädchenzelt und drei Bubenzelte, und etwas abseits der Zelte eine Hütte mit zwei Duschen, zwei Toiletten und einer Kochgelegenheit mit zwei Platten und einer großen Flasche Gas. Vor der Hütte standen lange Bänke, da gab es das Essen.

Ich trug den ganzen Sommer dieselben Shorts und immer abwechselnd einen meiner beiden Badeanzüge in rot und blau. Ich war zehn, ich hatte einen kurzen Pagenkopf und war so braun gebrannt, dass meine Fingernägel wie weiß lackiert aussahen, weil Nagelbetten nicht bräunen.

Es gab, erzähle ich dem F., jeden Morgen Haferflocken mit H-Milch. Wir standen sehr früh auf und ruderten auf den See hinaus, wir schwammen, wir hatten abwechselnd Küchendienst und aßen zwei Wochen lang jeden Mittag im Wesentlichen wechselnde Eintöpfe mit Würstchen aus dem Glas und abends gab es den Inhalt diverser Bundeswehrverpflegungspakete. Ich weiß noch, wie das Schmalzfleisch riecht. Und wie der Früchtereis. Und Schweinefleisch mit Bohnen. Neben den Vorräten stand ein Wäschekorb mit mehligen, leicht angeschlagenen Augustäpfeln vom Bauern nebenan.

Jedes Zelt hatte ein Abzeichen, das hatten wir selbst in den ersten Tagen des Zeltlagers gebaut. Unser Abzeichen war der Delphin. Uns gegenüber waren die Raben, rechts die Wölfe. Das vierte Abzeichen weiß ich nicht mehr. Nachts wurden Wachen eingeteilt, die die Zelte bewachten, damit die anderen das Abzeichen nicht stahlen, vielleicht auch, damit die Füchse nicht an die Vorräte gingen, und wenn man eine gute Freundin hatte wie ich die N., teilte man sich die Nachwachen, saß also zweimal die ganze Nacht auf dem Rasen vorm Zelt und flüsterte seine Geheimnisse einander ins Ohr. Ich habe jedes einzelne Geheimnis vergessen.

Natürlich, erzähle ich dem F., gelang es trotzdem, jedes einzelne Abzeichen zu entwenden. Es war Ehrensache, das Rätsel, mittels dessen man das Versteck des Abzeichens finden konnte, nicht so schwierig zu gestalten, dass die andere Mannschaft ihr Abzeichen nie wiederfinden würde, auch wenn das natürlich ohne Weiteres möglich gewesen wäre, und so waren wir vermutlich sogar noch etwas bestürzter als die Raben, als die ihr von uns verstecktes Abzeichen nicht wiederfanden, dabei war das Rätsel (wir waren uns einig) geradezu lächerlich leicht.

Als unser Abzeichen verschwand, mussten wir nicht einmal suchen, der hölzerne Delphin stand nämlich auf dem Dach der Hütte. Nur die Leiter war weg. Dass ich herausgefunden habe, dass die Leiter unter einer kleinen Brücke versteckt war, macht mich noch heute stolz. Tauchen konnte ich aber nicht so gut, deswegen gehörte ich nicht zu dem Tauchtrupp, der die Leiter holte. Ich weiß aber noch, dass ich die Leiter festhielt, auf der die N. strichdünn und braun und mit fast weißen Haaren auf das Hüttendach stieg und den Delphin holte.

Ich glaube, es war dieser Sommer, in dem ich gleich zweimal die wöchentliche Regatta der Mädchen gewann und ein rotes Sparschwein bekam, das die Sparkasse gestiftet hatte und auf das ich sehr stolz war. Ich weiß noch, wie das Gras roch, in dem wir lagen. Ich weiß, dass wir den Geburtstagskindern Blumenkronen flochten, ich weiß, wie sich die reifen Ähren an nackten Beine anfühlen, wenn man am Feldrain läuft, und ich freue mich darauf, dass auch auf F. in gar nicht wenig Jahren die größten Sommer warten.

7 Gedanken zu „Sommerkind

  1. Ich neige zu spontanen Umarmungen ob des Textes. Seit dem ich sieben war, waren so meine Sommer. Gut, zu Beginn mit mehr Heimweh als geschildert, aber auch das wandelte sich. Und die Liebe, die war dann auch irgendwann da. Lieber F. ich freu mich sehr für Dich, dass deine Mama Dir den Weg ebnen mag, in diese Welt einzutauchen. Sie wird anders sein als ihre und auch meine damals, aber sie wird anders wundervoll, das wünsch ich Dir von Herzen!

  2. Das erinnert mich an meine Pfadfinder-Sommer und paradiesische Ferienfreizeiten. Und ich wünsche mir ebenfalls, dass die Töchter dereinst ähnliches erleben und ähnliche Erinnerungen in sich tragen werden. Allerdings, was mir damals selbstverständlich, als Mutter heute aber höchst unverständlich, erschien: Die Eltern haben uns Teenagern ihre Kinder im Vorschulalter für eine Wochenendfahrt anvertraut, ohne Handy, nur mit Zug, Zelt und Landkarte – ob ich selbst so mutig und vertrauend wäre, ich weiß es nicht.

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