Der Welt abhanden gekommen

Damals zum Beispiel. 1994, eine Kleinstadt in Italien. Ich im Doppelstockbett, neben mir die N., die trockene, riesige Semmel zum Frühstück, Aprikosenmarmelade und Kaffee. Eine Woche lang zuhören, dass die N. den F. liebt und deswegen den D. nicht lieben kann, und dann ist die N. doch mit dem D. zusammen, dessen Tante irgendwo am Meer eine Villa hat, und fährt mit ihm dorthin. Ich könnte auch mitkommen, bin aber nach einer Woche Verständnis für die immergleichen Klagen der N. dermaßen müde, mir die erwartbaren weiteren Klagen anzuhören, dass ich meine Sachen packe und verschwinde. Da stehe ich nun am Bahnhof und weiß nicht weiter.

25 Jahre später würde ich aufs Handy schauen und wüsste, wohin. Vermutlich hätte auch die N. mich schon dreimal angerufen und ich wäre zurückgekommen. So aber fahre ich erst ans Meer, treffe zwei Mädchen aus Marburg, die ich von einer Party flüchtig kenne, fahre mit denen nach Rom, treffe dort – er ist seit Wochen da – immer noch den J.2 und fahre weiter mit ihm nach Süden. Weil wir nur zu Lesen haben, was wir haben, liest mir der J.2 aus seinem Xenophon vor und rezitiert Gedichte. Er liebt die Expressionisten, damals, und der schnelle Puls der „Menschheitsdämmerung“ mischt sich mit dem ratternden Zug und dem Film aus Schweiß und Staub auf meiner Haut. Wo wir ausgestiegen sind, habe ich vergessen. Es war ein kleines Dorf, weitab vom Meer, inmitten von Wäldern. Eine Abtei gab es, wo die Mönche sehr schön sangen.

Ob der verwilderte Aprikosenhain am Rande des Dorfes hinter der ausgebrannten Ruine eines Hauses noch steht? Die überreifen, im hohen Gras gärenden Früchte, umsummt von den Wespen. Zwischen den Bäumen das weiche, leicht faulig riechende Moos. Meine zerstochenen Beine. Die schwefelgelben Flechten auf der Schattenseite der Mauern. Die alte Frau im Laden neben der Kirche, die keine Sprache sprach außer Italienisch, und wie überrascht wir waren, dass sie unser Latein irgendwie verstand. Vielleicht tat sie auch nur so. Die sauren, länglichen Tomaten und der stumpfe Ricotta, der Gottesdienst am Sonntagmorgen, und wie selbstverständlich es uns erschien, in diesem Nest komplett aus der Welt gefallen zu sein, unerreichbar für jeden,  auf eine Art, die es jetzt nicht mehr gibt, wie weit wir auch fahren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie möchten einen Kommentar hinterlassen, wissen aber nicht, was sie schreiben sollen? Dann nutzen Sie den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken