Sogar er hat aufgehört zu rauchen. In seiner Wohnung riecht es jetzt nur noch nach Bienenwachs und alten Büchern und ein ganz bisschen auch nach Minzöl und Verbenen. Es ist kurz nach elf, aber alle Vorhänge sind zugezogen, und auf dem Tisch brennen drei Kerzen.
Er ist seit einigen Wochen pensioniert. Er muss damals viel jünger gewesen sein, als wir dachten, wenn man sich denn überhaupt Gedanken über das Alter von Lehrern macht, dazu sah er schon damals aus wie ein alter Mann. Manchmal sehe ich ihn auf Bildern der Renaissance: Er ist ein magerer, strenger, florentinischer Mönch.
Er hat jetzt Zeit. Er lese viel, sagt er. Sitzt mir auf dem Diwan gegenüber, knetet seine Hände, als sei er – merkwürdig, das zu denken – verlegen, springt immer wieder auf und bringt mir schwarzen Tee in schweren, grob getöpferten Schalen. Er habe gebacken für den Besuch, er habe ja sonst nichts mehr zu tun, sagt er, und stellt ein Tablett mit Scones, Clotted Cream und selbstgekochter Marmelade auf den Tisch.
Reisen, sagt er, werde er nicht mehr. Reisen lenke ihn ab. Er sei noch nie gereist, mal abgesehen von den Kursfahrten, die unumgänglich seien, wenn man einen Leistungskurs unterrichte. Es sei ja auch schön gewesen, damals in Rom, sagt er zu mir, und jetzt lächelt er tatsächlich, springt wieder auf, sucht irgendetwas im Regal, findet es nicht, setzt sich wieder, steht wieder auf und sitzt am Klavier.
Er singt noch immer Bariton. Er spielt sicher, ohne Noten, zarter, leichter, als ich angenommen hätte, und schaut alle paar Momente auf den entfleischten Körper Jesu am Kreuz an der Wand hinter mir. Bist du bei mir, singt er, und unterbricht sich in den letzten Takten. Du magst ja gar kein Bach, sagt er zu mir, und spielt sehr schnell und ohne Blick auf seinen hölzernen Erlöser zwei Volkslieder. Lieb ich dich doch, singt er, und schaut Richtung Fenster, wo er den See sehen könnte, wenn die Vorhänge nicht zugezogen wären.
Ich muss los, sage ich und er nickt. Es ist kalt, bietet er an, mich zum Bahnhof zu fahren, aber ich bin schon an der Tür. Komm mal wieder, sagt er, und ich lächele, entziehe meine Hand seinem Griff und laufe am Ufer durch einen Vorhang von feinem Regen dem Bahnhof zu.
Tja, was ist schlimmer – nach einer Begegnung zu wissen, dass es die letzte war oder es nicht zu wissen…
Ich denke, ersteres.
Verbenen. Wieder was gelernt.
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Sehr Gerne gelesen
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