Archiv für den Monat: Juli 2017

Konfetti, 2

Es muss in den Zwanzigern gewesen sein, für genauere Angaben bin ich gerade zu faul, da sang Blandine Ebinger ein kleines Chanson von Tucholsky, eine schon damals eigentlich gar nicht mehr so recht moderne Chinoiserie, die davon handelte, dass in Deutschland alles so groß sei und in Japan alles so klein. Ich bin mir sicher, dass anno 2017 schon irgendwer um die Ecke käme, der das schlimm rassistisch fände und auf Twitter Tausende zum Ausdruck bringen würden, dass sie seit Tagen nicht schlafen könnten, so grauenhaft menschenverachtend fänden sie diesen Text, aber hier, quasi so ganz unter uns, möchte ich Ihnen doch zuflüstern: Es stimmt. Insbesondere unser sehr nettes, schneeweißes und toll ausgestattet Appartement ist so klein, dass wir ständig irgendwo gegenstoßen. Ich sage keinen Satz so oft wie: F., pass auf! Zum Glück sind wir nicht so viel hier, ansonsten bekäme der F. Neurosen und könnte als Erwachsener ausschließlich Wohnungen mit mehr als 300 qm bewohnen. Und zwar allein.

***

Vermutlich gibt es irgendwo in der akademischen Forschung eine weithin unbekannte Maßeinheit, welche die Attraktivitätsrückmeldungen pro Stunde bezeichnet, die Menschen erfahren. Also nicht unbedingt nur die positiven, sondern mehr so alles, also dieser mehr oder weniger verhohlen prüfende Blick über Gesicht, Ober- und Unterkörper, unvermitteltes Lächeln an der Kasse über drei Zwischensteher hinweg, ausgesprochen langes Händeschütteln oder die einen Tick zu private Nachricht am Rande eines langen Elternchats zum Grillfest der Kita Wilde Hummeln.

In Italien beträgt der Faktor – wir wollen ihn hier einmal f/d nennen – ungefähr 80. In Frankreich vielleicht 60. In Deutschland gibt es deutliche regionale Unterschiede, ich würde München mit 30 veranschlagen, Berlin mit 5, außer man geht viel mit Expats weg, und in Tokyo null. Ich habe keine Ahnung, wie die Tokyoter die verfänglicheren unter ihren Bekanntschaften schließen, aber es scheint völlig anders abzulaufen als irgendwo sonst.

***

Ansonsten ist Tokyo sehr toll. Wir fahren Wassertaxi, rasen per Fahrstuhl auf den zweithöchsten Turm der Welt, laufen Kilometer um Kilometer: Die Stadt nimmt überhaupt kein Ende. Manchmal verändert sich das Straßenbild. Asakusa sieht anders aus als Chuon. Aber inmitten von 7 Mio Mensche, Häusern, Straßen weiß ich wieder, was diejenigen dachten, die vor vielen Hunderten von Jahren das Sprichwort prägten: Stadtluft macht frei.

Konfetti

Ich bin keine gute Reisende. Manche Leute stehen immer sofort mit Einheimischen an der Bar und schlachten zwei Stunden später mit denen Kamele und tanzen auf der Hochzeit ihrer Kinder den tatarischen Säbeltanz vor. Dafür bin ich Äonen zu distanziert. Deswegen kommt mir Japan entgegen: Jeder ist freundlich, aber niemand will meine Lebensgeschichte hören und keiner fasst mich an. Das mag ich nämlich auch nicht so, wenn ich Leute nicht kenne.

***

Dafür mag ich Megacities. Ich bedaure eigentlich nie, Juristin zu sein, aber meine Chancen, ein Jahr hier oder in Bangkok oder San Francisco zu leben, wären mit einem anderen Job deutlich besser. Nun ist da derzeit nicht mehr viel zu ändern, aber wenn der F. einmal deutlich größer ist als heute, rede ich vielleicht mal ein paar Takte mit ihm über den unfassbaren Rausch, ganz woanders zu sein und eine Weile dort zu leben.

***

Tokyo riecht so gut. Es ist heiß und etwas feucht, es riecht nicht so parfümiert wie Bangkok, allein schon, weil hier weniger wächst und die Leute keine Räucherstäbchen abbrennen, aber ich könnte den ganzen Tag an jeder Straßenecke stehenbleiben und fünf Minuten kräftig herumschnuppern. Leider lässt man mich nicht einmal zehn Minuten irgendwo stehen oder sitzen, weil der F dann unweigerlich weiterwill. Allein am ersten Tag sind wir am Meiji-Schrein, im Aquarium der Stadt am Meer und im angrenzenden Park, essen irgendwo in der Nähe des Bahnhofs Akihibana, fahren weiter zur Shibuya und laufen durch die Nacht zu unserem Airbnb-Apartment zurück. Am Ende sind es 14 km zu Fuß.

***

Die japanischen Studentinnen bis so circa 25 sind total süß. Sie sind hübsch, sie sind gut frisiert, sie wirken heiter und sie sind gut angezogen. Dafür fehlen im Straßenbild In ganz auffälliger Weise schöne Frauen um die 35. Rund ums Mittelmeer sehen Frauen dieser Altersgruppen oft atemberaubend aus, man möchte jeden männlichen Verwandten sofort mit jeder dieser Frauen verheiraten, aber hier scheint irgendetwas schiefzulaufen. Frauen über 30 lachen hier irgendwie nie, wirken bestenfalls gepflegt-verhuscht und oft deutlich sichtbar unglücklich. Ob es an den Japanern liegt? In Deutschland ist ja oft etwas Ähnliches zu beobachten, und das hat auf jeden Fall mit Deutschlands Männern zu tun.

*** Konfetti weiterlesen

Auf Reisen

Ich kenne, meine Damen und Herren, Leute, die vor lauter Sorge, wie ihre Kinder Langstreckenflüge vertragen, sich nie weiter als bis Mallorca trauen, aber das finden der J. und ich dermaßen öde, dass wir uns und dem F. solange eingeredet haben, dass er Reisen liebt, bis er sich selbst nicht mehr vorstellen kann, dass das nicht stimmt. Außerdem besucht der F. eine – obschon städtische – Kita, die vermutlich von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin Prenzlauer Berg eingerichtet wurde, um farbenfroh zu illustrieren, was Gentrifzierung bedeutet. Folgerichtig hält er es nicht nur für völlig normal, durch Japan zu fahren, sondern auch ab und zu bohrend nachzufragen, wieso ausgerechnet er eigentlich immer Eco fliegen muss. Entsprechend sitzt der F. also halbwegs vorfreudig im Flieger von Paris nach Tokyo und lässt sich erzählen, was es alles bis Tokyo zu essen gibt.

Noch bevor wir abheben, hat des F. kundige Hand das Kinderprogramm dieser Air France- Maschine gescreent. Der F. kennt nicht viele Filme, weil wir keinen Fernseher haben, und außerdem konnte er bisher keine Kinderfilme sehen, in denen die Mutter des Helden stirbt, deswegen ist ihm praktisch alles neu. Er fürchtet sich generell leicht, auf der anderen Seite wäre der F. schon sehr gern mindestens so cool wie der kleine A. mit den drei älteren Geschwistern, der das internationale Filmkunstschaffen eigentlich so ziemlich durchhat. Der F. beginnt also mit Lego Batman, einer Art Batmanadaption, bei der alle Protagonisten und alle Kulissen aus Legosteinen bestehen.

Aus irgendeinem Grunde stehen wir geschlagene 60 Minuten am Gate. Alle Passagiere rätseln, woran das liegt. Nur ich weiß, dass ich kürzlich verflucht worden bin, und nun alle Reisen, an denen ich teilnehme, verspätet starten und noch verspäteter enden. Ich war im gesamten Juni nie, also buchstäblich nie, pünktlich, weil immer irgendein Flug zu spät begann oder ein Zug liegenblieb oder einfach so nichts weiterging. War ich halbwegs pünktlich, waren andere Leute, ohne die es nicht losgehen konnte, zu spät.

Als wir endlich starten, ist des F. Film schon fast zuende. Der F. aber lässt sich gar nicht stören: Mit geröteten Wangen und schwitzigen Händen sitzt er neben mir, reißt die Augen auf, weist alle Versuche, ihm etwas anzubieten, von sich, und ist erst wieder ansprechbar, als der Film endet. Unter uns liegt Skandinavien und ich erzähle ihm von der Zeit, die ich als Studentin in Tallinn verbracht habe.

Nach Süsskartoffelpüree und Fisch wirft er die Eiskönigin an. Das ist eigentlich ein sogenannter Mädchenfilm, aber wenn niemand es mitbekommt, schauen Buben hemmungslos Bibi und Tina, und Mädchen irgendwelche Actionsstreifen, weil es dem gesellschaftlichen Rollenmodell, was Mädchen und Jungen gefällt, lediglich gelungen zu sein scheint, zu prägen, was gerade als cool gilt, nicht aber, was ungefähr fünfjährigen Kindern tatsächlich gefällt. Bei Erwachsenen, dies nur am Rande, scheint es mir übrigens ganz ähnlich zu sein.

Direkt nach der Eiskönigin schaut er – einen Schokokuchen und Eis und Limonade später – noch einmal Lego Batman. Dann schläft er ein. Im Schlaf zucken seine Lider, seine Händchen greifen nach geträumten Feinden und Freunden. Ich fange ein Buch an und lege es wieder weg und schaue aus dem Fenster ins stahlharte Blau des Himmels und versuche mich daran zu erinnern, wann wir in den nächsten zwei Wochen eigentlich genau wohin fahren.

Dein Sommer ohne Dich

Aber gerade jetzt sitzen am Landwehrkanal Leute unter schwankenden Lampen. Im schwarzen Wasser spiegeln sich Kerzen und Kleider und Haut. Helles Gelächter und Stimmen, Eiswürfel im Glas und Schritte auf Holz. Trinkt noch jemand Gin Tonic?

Auf den Stufen zur Spree sitzt auch heute ein Paar. Vielleicht hat sie Pumphosen an und fettige Dreadlocks. Vielleicht hat er einen zu dünnen Bart und dreht selbst. Vielleicht aber sind es Daphnis und Chloe, vielleicht hält sie in ihren Händen den Mond. Vielleicht wird aus ihm einmal ein himmlischer Schäfer. Vielleicht warst das du.

Vielleicht tanzt er mit ihr morgen früh auf der Oberbaumbrücke im ersten Licht eine Polka. Vielleicht sitzt am Ufer der Spree ein Nöck und schenkt ein. Ganz sicher aber ist keins der Märchen der Stadt mehr für dich, und auf deinem Weg von der Bahn: Nur die Scherben.

Das Ende der Welt die wir kennen

Die Freundin freut sich. Mit über 40 und als verheiratete Mutter wäre es endlich vorbei. Kleidung müsste nur noch ihr selbst gefallen. Sie schminkt sich auch nicht mehr, weil sie dazu keine Lust hat, und sie hat es total aufgegeben, Männer überhaupt noch wahrzunehmen, es sei denn, sie hat mit ihnen beruflich zu tun, oder ist mit ihnen befreundet oder verheiratet.

Ich schweige tief beeindruckt. Es muss sich eigentlich ganz gut anfühlen, einen der Lebensbereiche einfach abzuhaken, in dem man jetzt vielleicht ohnehin nicht so zum oberen Klassendrittel gehört, und sich ausschließlich den Dingen zuwendet, die man ganz gut kann. Vermutlich minimiert das die Minuten pro Monat, in denen man sich irgendwie unzulänglich fühlt, ganz erheblich.

Auf dem Heimweg denke ich nach. Vielleicht wäre das auch für mich ein Konzept? Ich könnte den Aufwand, den ich mit ausgesprochen mäßigem Erfolg in meine Garderobe stecke, in irgendetwas investieren, in dem mein Potential größer ist als in der Disziplin Modepapst. Ich verbringe nämlich am Ende doch verhältnismäßig Zeit damit, mir im Internet Kleidung anzusehen oder sogar irgendwo hinzugehen, wo man Kleider kaufen kann, nur um am Ende dann doch in sehr risikolosen, sehr konservativen Sachen herumzulaufen. Ich besitze beispielsweise allein acht blaue Kleider. Und mindestens drei weitere in beige. In meinen Ohren stecken Perlen in schwarz oder weiß. Ich darf entsprechend zusammenfassend versichern: Man schätzt mich nicht gerade für meine überwältigende Optik. Würde ich mich meiner Kleider entledigen, wäre die Sache übrigens noch etwas eindeutiger, weil ich es nie schaffe, regelmäßig Sport zu mache.

Um mit Flirten aufzuhören, müsste man jemals damit angefangen haben. Ich war selbst mit Mitte zwanzig immer dermaßen bass erstaunt, irgendjemandem zu gefallen, dass die Reaktion jedenfalls nicht unter Flirt fiel, sondern eher unter kommunikativen Verkehrsunfall. Am ersten Abend, an dem ich den geschätzten Gefährten traf, sprach ich, wie man mich bisweilen erinnert, mehrere Stunden über Thomas Mann. Der J. hasst Thomas Mann.

Kurz überschlage ich im Kopf die unermesslichen Vorteile dieser Strategie. Ich komme auf rund € 5.000 pro Jahr und eine Menge freie Zeit. Vielleicht wäre dieser Vorteile noch viel größer, weil ich in der frei werdenden Zeit irgendetwas machen könnte, was mir Geld und Ruhm einbrächte. Vielleicht verfasse ich einen Roman und lasse ausgedachte Leute in extravaganten Kleidern enorm gut aussehend ein sehr interessantes Liebesleben führen.

Großartig wird das, denke ich bei mir und verplane schon einmal die ganze frei werdende Zeit. Keinerlei Nachteile werde ich haben, denn für alle anderen Leute ändert sich ja nichts an mir, nur so rein innerlich werde ich quasi aufblühen.

Dann aber laufe ich an einer Schaufensterscheibe vorbei. Unwillkürlich schaue ich auf meine Haare. Automatisch ziehe ich den Bauch ein wenig ein und prüfe – das ist eine alte Obsession von mir – den aktuellen Grad der Symmetrie meiner Augen. Am Schluss sehe ich mir für ein paar Sekunden direkt ins Gesicht. Es wird nichts mit mir. Es reicht nicht mal für ein souveränes Ende meiner weltlichen Existenz.

Im Grunde bin ich darüber aber eigentlich ganz froh.