Denn ich falle

Mir tut seit Tagen alles weh. Kalt ist es auch, denn auf einmal ist es Herbst geworden, und für einen Moment will ich einfach nur nach Hause und mit meinem Vater schwarzen Tee mit Kandis und ganz viel Sahne trinken und getröstet und ein bisschen in den Arm genommen und in Wolldecken gewickelt werden.

Ein paar Meter aber vor mir strahlt durch die Plexiglasbrüstung dieser Bar der Ku’damm, und zwischen Touristen und Mädchen in zu kurzen Kleidern und Sandalen kann man immer kurz sehen, wie tief es runter geht, wenn man fiele. Ich habe Höhenangst, deswegen gehe ich nicht näher zum Rand, auch wenn das schön sein muss, stelle ich mir vor, aber vielleicht kann ich das dann doch nicht und bleibe einen Meter vor der Scheibe einfach stehen und alle lachen mich aus, vor allem Herr L., der spontan mitgekommen ist und den ich nicht besonders gut kenne  und von dem ich deswegen nicht weiß, ob er es ein bisschen albern findet, wenn ausgewachsenen Leute Angst vor Balkonbrüstungen haben.

Sed navigare necesse, ermahne ich mich, rede zu viel, beobachte mich irgendwann beim Verlegenheitslästern über das Aussehen anderer Leute, was gerade ich mir vielleicht einfach verkneifen sollte, und unterdrücke den Wunsch, jetzt einfach mal so ganz schnell hintereinander drei Wodka zu trinken und dann noch einmal zu versuchen, ob ich mich nicht an die Brüstung traue.

Was soll schon passieren, schaue ich durch die offene Tür der Monkey Bar und stelle ich mir vor, wie ich wahlweise entweder ein paar Minuten an der Brüstung stehe, gut festgehalten einen Negroni trinke und wieder ins Warme zurückkomme. Oder aber leichter werde, ganz leicht, meine Füße den Boden verlassen, meine Arme ausgestreckt und ich ein paar Runden um die Gedächtniskirche fliege, zwei Flügel weit ausgebreitet und laut lachend, weil sich das gut anfühlen muss, wenn man es kann.

Dann aber bleibe ich doch, wo ich bin, sage dem Nachthimmel ab, lasse die Drinks unbestellt und die Brüstung den anderen Leuten.

4 Gedanken zu „Denn ich falle

  1. Solche Aussichten sind mittlerweile grob zu mir wie Fototapeten. Ich überlasse die Brüstung also auch den anderen Leuten, studiere sie dort aber umso aufmerksamer. Allerdings hätten wohl selbst Literaturnobelpreisträger Ihr “Verlegenheitslästern” nicht erkannt, und Ihnen stattdessen gängigere Motive untergeschoben. Daher werden all die Romane unserer Gesellschaft für mich mit den Jahren immer fragwürdiger… Weder im Frühling noch im Sommer meines Lebens sammelte ich irgendwelche Erfahrungen mit Alkohol. Weil ich weiterhin den Zehnjährigen in mir fühlte, wie er eines Frühlingstages besser im Weitsprung war, als alle anderen. Dem wollte ich keinen Wodka einflößen. Aber vielleicht sollte ich jetzt im Herbst langsam mal nachschauen, ob er überhaupt noch da ist. Denn ich habe gehört, dass der Wodka mitunter gar so gut für uns sorgt, dass man sich im Winter friedlich im Schnee schlafen legen kann. Inmitten der vielen weniger schönen Aussichten, welche das Alter anbietet, für mich die wohl schönste Weise mir Flügel wachsen zu lassen…

    1. Mit dem Verlegenheitslästern ist es ja so eine Sache, einerseits schadet man niemanden. Andererseits ist es nicht gut für mich, weniger freundlich auf die Welt zu schauen, als sie es am Ende dann doch verdient.

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