Gilbert Grape

Kenne ich, höre ich einem Teenager beim Weihnachtskonzert der Musikschule zu. In den Reihen vor mir wippen kleine und nicht mehr ganz kleine Kinder aufgeregt oder gelangweilt mit den Füßen, und mein Sohn dreht sich ab und zu zu mir um und schaut mir einen kurzen Moment direkt in die Augen. Er hat schon gespielt, langsam fällt die Aufregung von ihm ab.

Kenne ich, denke ich, während der vielleicht Vierzehnjährige angestrengt weiterspielt: Das ist aus „Gilbert Grape“, den ich Anfang der Neunziger gesehen habe, da wohnte ich noch zuhause, und jeden Montag gab es im Kino in der kleinen Stadt einen Film, der als „Der besondere Film“ angekündigt wurde. Das war dann Tarantino. Oder Kaurismäki, Kusturica, irgendwie so.

Von Gilbert Grape weiß noch, dass Juliette Lewis mitspielte, die ich nicht so schön fand wie Winona Ryder, die Audrey Hepburn jener Jahre. Und Johnny Depp, ganz jung mit langen Wimpern, androgyn und hübsch, der scheue Außenseiter spielte, und der ganz junge Leonardo Di Caprio. Ich weiß noch, dass eine dicke Mutter mitspielte, die am Ende in ihrem Haus verbrannte, und dass es darum ging, freundlich zu sein, aber sich selbst nicht dabei zu vergessen, und dass es eine Utopie war, einfach eines Tages aus Liebe mit einem Wagen davonzufahren.

Ich weiß noch, dass ich damals in einen Jungen verliebt war, den ich nie bekam, und mit einem zusammen, der mich langweilte und den sehr schlecht behandelte, aber wochenlang nicht verließ, warum auch immer. Ich weiß, dass ich mir mit meiner Freundin N. wie jeden Montag im Kino eine Schachtel Eiskonfekt teilte, und dass ich in diesem Jahr fast sitzengeblieben wäre, weil ich meinem Widerwillen gegen die Schule endlich nachgeben konnte und an manchen Tagen einfach nicht mehr hinging. Ich weiß noch, wie es war, stattdessen bei meiner Freundin zu übernachten und nachts in ihrem Zimmer im Bett zu liegen, zu zweit auf 90 Zentimetern, und über Dinge zu sprechen, die sehr wichtig gewesen sein müssen, aber ich habe sie alle vergessen.

Ich weiß noch, dass ich mich damals sehr einsam gefühlt habe und sehr unverstanden, dabei stimmte zumindest das mit der Einsamkeit nicht, oder jedenfalls nur so, wie man eben einsam sein kann, wenn man ständig umgeben ist von Leuten. Ich weiß, dass Filme damals wichtig für mich waren und dass ich sehr viel las. Das weiß ich alles, während die kurze Melodie endet, auf diesem Musikschulkonzert an diesem unfassbar grauen Samstag, und als der Junge, der gespielt hat, wieder zu seinem Platz geht, muss ich daran denken, dass ich ewig nichts von Juliette Lewis gehört habe. Dass Johnny Depp der verrückte Hutmacher geworden ist, ein Zerrbild, ein Bajazzo als Howard Hughes. Dass die N. selbst bei Instagram aussieht wie eine unzufriedene Frau mit genug Geld und trotzdem nichts zu Lachen, und dass ich von Glück sagen kann, von unverdientem, unerwarteten Glück, um das ich manchmal zittere, weil nichts auf Erden sicher ist, erst recht nicht: Das.

2 Gedanken zu „Gilbert Grape

  1. Oftmals entwickeln sich die Dinge ganz anders als erwartet, geplant oder erhofft. Und Sie haben Recht, das Glück ist flüchtig und zerbrechlich und das Eis bleibt immer dünn.

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