November

Ich also gestern nach der Arbeit zum Hauptbahnhof. Im Hauptbahnhof die meisten Leute ordentlich maskiert. Noch schnell zu Arko, Pralinen für die Schwiegereltern, und dann in den ICE. Im ICE einen Mann böse angeguckt, weil der das Maskengebot umgehen wollte, indem er alle fünf Minuten so eine verdammte Beere gegessen hat. Vom Sohn auf dem Bahnsteig fast umgerannt worden, weil der inzwischen 26 kg wiegt, was ziemlich viel Wucht bedeutet, wenn er ungebremst und strahlend auf einen losrennt, und bei den Schwiegereltern zuhause Toast Hawaii.

Schon beim Abendessen bemerkt, dass Schwiegermutter nervlich total runter. Schwiegermutter ist eine freundliche Frau, in ihren schlechtesten Stunden nervig passiv-agressiv, aber an sich unverdrossen freundlich und entschlossen optimistisch. Es scheint sie allerdings arg gebeutelt zu haben, die letzten paar Monate, sie sieht deutlich älter aus, und immer wieder ist sie im Gespräch den Tränen nah oder muss kurz ein bisschen weinen. Offenbar haben Schwiegervater und sie seit März niemanden mehr gesehen, und Schwiegervater ist halbtaub und war auch schon früher nur sehr bedingt gesprächig. Ich möchte Sohn F. jetzt nicht über den grünen Klee loben, aber vermutlich waren ihre letzten drei Wochen mit dem Sohn die mit den besten Gesprächen seit Anfang des Jahres.

Nachdem Schwiegermutter erst einmal angefangen hat, zu erzählen, hört sie gar nicht mehr auf. Sie tut mir mächtig leid. Zu alledem schickt der Schwiegervater sie ständig wegen irgendwas herum. Weil Wasser fehlt oder es irgendwo „ping“ macht oder der Sohn vielleicht noch Melone essen will. Solche Momente sind immer ungeheuer unangenehm: Sitzen bleiben ist eigentlich doof, weil sie dann als einzige ständig läuft. Übernehmen sehe ich nicht ein, weil ich nicht finde, dass der Schwiegervater sich von ihr Wasser oder der Sohn sich Melone bringen lassen sollte.

Irgendwann fällt mir auf, dass sie ständig vom November spricht. Im November wird sie die Goldene Hochzeit nachholen. Ab November geht ihr Seniorenyoga wieder los. Im November kann sie auch mal wieder Freundinnen treffen. Etwas ratlos schaue ich auf von meinem dritten Toast. Am Ende stellt sich heraus, dass sie eine Fernsehsendung gesehen hat. In der ging es um den Impfstoff, auf den die ganze Welt wartet. In der Fernsehsendung wurde der Impfstoff für November in Aussicht gestellt. November 2020.

Meine Schwiegermutter ist eine intelligente Frau. Meine Schwiegermutter ist Akademikerin und sie weiß ganz genau, dass man Forschungsergebnisse nicht sicher prognostizieren kann. Meine Schwiegermutter ist aber auch eine sehr verzweifelte Frau, und als mir klar wurde, wie verzweifelt und traurig sie sei muss, um sich an diese paar Sätze aus einer Fernsehsendung zu klammern, hätte ich sie gern in den Arm genommen.

Aber das geht ja auch nicht, gerade.

 

3 Gedanken zu „November

  1. Wir sitzen mit unseren Freunden im Garten. Gott sei Dank, das Wetter spielt mit. Den November möchte ich mir nicht mal vorstellen…mir graut jetzt schon davor.

  2. Och Gott, arme Schwiegermama. Ich fürchte nur, dass es im November noch keinen Impfstoff geben wird und dass es 2021 erst einmal so weiter gehen wird wie bisher.

    Übrigens, wenn der Sohn und ich uns mal dringend umarmen müssen, wirft sich einer von uns eine Decke über den Kopf und wir umarmen uns ganz fest.

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