Wiederfinden

Es ist kalt. Das Thermometer zeigt 22° C, aber das ist alles Quatsch: Ich friere fürchterlich, außerdem versuche ich einmal mehr, weniger zu essen, wenn ich schon keinen Sport machen kann, deswegen bin ich zu alledem auch noch so ein bisschen latent schlecht gelaunt. Weil ich noch nicht wahrhaben will, dass der Sommer vorbei ist, habe ich leider nur ein Sommerkleid an. Also keins von den ganz dünnen, so ein blaues Spitzenkleid mit Unterkleid, aber keine Strumpfhosen und nackte Arme. Ich muss zu Uniqlo, beschließe ich nachmittags nach ein paar sehr kühlen Stunden am Schreibtisch. Ich kaufe eine Strickjacke.

Bei Uniqlo ist nichts los. Ich ziehe eine Strickjacke aus dem Regal, Merino, schwarz, V-Ausschnitt. Hinter der Kasse langweiligen sich zwei Verkäuferinnen. „Tüte?“, fragt die eine, ich verneine, und dann verschwinde ich aus dem leeren Laden und laufe zurück ins Büro. Auf dem Rückweg komme ich an an einem leeren Dekoladen vorbei, an einem ebenfalls leeren Geschäft für Unterwäsche, und vor den Restaurants ist auch nicht viel los.

Für die Geschäfte ist das alles übel, denke ich, und schaue den einsamen Verkäuferinnen zu, die hinter den Kassen ins grell dekorierte Nichts starren. Aber wer soll Tischdeko kaufen? Niemand lädt ein, und wer Gäste hat, zelebriert das nicht, sondern stellt so eher ein bisschen verschämt auf den Tisch, was er hat. Wer soll sich Kleider kaufen, überlege ich. In den meisten Büros passiert gerade immer noch viel online, da reicht, was man sowieso hat. Und Gelegenheiten, zu denen man sich ein neues Kleid kaufen möchte, gibt es auch keine: Niemand feiert seinen Geburtstag. Ich voraussichtlich auch nicht. Niemand verabredet sich, also so richtig mit Vorfreude und Was-zieh-ich-nur-an, und in die Oper geh‘ ich auch nicht.

Das kommt alles wieder, sage ich mir, und zähle die dunklen Monate. Ich habe viel zu viel zu tun, um mich ernsthaft zu langweilen. Ich könnte lesen, ich könnte Torten backen, Klavier spielen. Ich könnte einen Roman schreiben, in dem Leute alles erleben, was ich in echt nicht erlebe, nicht einmal ohne Pandemie. Aber vielleicht ist dann, wenn das alles vorbei ist, dieses Geschäft nicht mehr da und nicht jenes. Die Geburtstage zu lange vorbei, um sie nachzufeiern. Die letzten Verabredungen zu vergessen. Die Freundinnen zu lange nicht angerufen. Die Kleider im Schrank zu lange nicht getragen. Und wo ich mich weggelegt habe so lange her, dass ich mich kaum wiederfinden kann.

6 Gedanken zu „Wiederfinden

  1. Vielleicht ist es aber auch alles viel aufregender, wenn man sich frisch geimpft zur Party treffen kann. Und nicht mehr die Routine hat, sondern sich neue Sachen überlegen muss…
    (Zweckoptimismus, ich weiß. Bis dahin sehe ich mich noch deutlich mit dem Sohn wieder im Homeoffice sitzen)
    Habe aber auch Teile von mir wiedergefunden. (Guckt auf die Wanderstiefel und Jeans)

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