Ein zum Rühmen Bestellter

Bücher des Jahres (3)

Friedrich Sieburg, schreibt Marcel Reich-Ranicki 1967, habe mehr Geist als Format besessen, mehr Macht als Autorität, und seine Koketterie habe seinen Geschmack beeinträchtigt. Die zeitgenössische Literatur habe Sieburg – immerhin einer der einflussreichsten Kritiker gerade der Fünfziger Jahre – verkannt. Weder Marie-Luise Kaschnitz, noch Koeppen, weder Nossack noch Hildesheimer, weder Dürrenmatt nicht Peter Weiss, Schnurre, Eisenreich noch Johnson habe er auch nur einer Erwähnung wert gefunden. Das rasche Verblassen des Renommés des damals erst einige Jahre verstorbenen Kritikers der FAZ erkläre sich zumindest maßgeblich auch aus dieser Abkehr von der Gegenwart.

Uns aber, die diese vierzig, fünfzig Jahre vergangene Gegenwart nicht mehr im selben Maße als maßstäblich gilt, vermag dieses Diktum wenig zu beeindrucken. Kein Buch der als Beleg für das mangelnde Verständnis der Gegenwartsliteratur von Reich-Ranicki herangezogenen Autoren gehört zu jenen, die ich auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde, und insbesondere diejenigen Schriftsteller, die man der Gruppe 47 zuordnet, haben mich herzlich gelangweilt. Die Abkehr dieser Autoren von einer Tradition, deren moralische Diskreditierung ihren ästhetischen Glanz aus unserer Sicht nicht zu zerstören vermochte, erscheint uns aktuell nicht mehr als verdienstvoll, und so könnte es durchaus erstaunen, dass eine Renaissance derjenigen Essais Sieburgs, die nicht nur der schnellen Vermittlung des tagesaktuell Lesenswerten dienen, bisher – dem konservativen Zeitgeist zum Trotz – ausbleibt. Ganz unerklärlich ist dies allerdings nicht:

Mag auch das allzu Saloppe beginnen, ein wenig zu langweilen, und die Annäherung der Schrift- an die gesprochene Sprache uns nicht mehr als frisch, als neu und unmittelbar erscheinen: Das allzu gravitätische, allzu parfumierte Deutsch, mit dem Sieburg all das, was er beschreibt, verpackt wie die Verkäuferin einer teuren Boutique ein Stück Seife in drei Lagen Tüll und glänzendes Papier einwickelt, versperrt die Sicht auf den Gegenstand seiner Betrachtung oftmals nicht wenig. Entsprechend erfährt man etwa aus Sieburgs Frankreich-Büchern wenig über Frankreich, kaum etwas über die französische Gesellschaft, nicht viel über die französische Literatur, und auch die Charaktere, die Sieburg beschreibt, kann man sich nur mit Mühe vorstellen. Tatsächlich weiß man nach vollendeter Lektüre nur wenig mehr über das Paris der Zwischenkriegszeit als zuvor. Viel aber – und bisweilen lohnt dies den Kauf und die aufgewandten Stunden – erfährt man über den Autor.

Nicht besonders sympathisch erscheint freilich Sieburg selbst nach eigenen Zeugnissen. Auffallend die Larmoyanz, die fast alle konservativen Stimmen nach dem 2. Weltkrieg vereint, als habe man dieser Generation bürgerlicher Denker Unrecht getan, als man ihre Fehler und Verbrechen nicht auf der Stelle vergaß. Ich kenne keine Ausnahme: Der denkende Konservatismus der letzten 60 Jahre tritt einem stets mit einer leicht beleidigt wirkenden Miene entgegen, die es schwer macht, diese an sich nicht vollkommen unsympathischen Menschen posthum ernst zu nehmen. Sieburg ist hier keine Ausnahme.

Befremdlich auch der geradezu putzige Snobismus. Die Selbstgefälligkeit, mit der manche freilich gelungene Formulierung auch dort angebracht wird, wo sie der Natur der Sache nach keinen Glanz entfalten kann noch soll, strengt auch den bereitwilligen Leser mächtig an, und doch, jeweils kurz vor dem Moment, in dem man zu einem anderen Buch greifen würde, das den Nachttisch beschwert, berührt ein poetisches Bild, ein schöner, demütiger Satz, und man schlägt Unsere schönsten Jahre, die Bilanz eines halben Lebens in Frankreich, trotz des scheußlichen,überaus kitschigen letzten Kapitels mit einem kopfschüttelnden Lächeln zu.

Auf dieses Päckchen Nachsicht sind die Biographien Sieburgs keinesfalls angewiesen. Die Betrachtung Robespierres, vor guten zehn Jahren gelesen, kann all das für sich in Anspruch nehmen, was die literarische Biographie an Vorzügen für sich geltend machen kann. Für diesen Satz hätte Sieburg mir Strychnin in den Sekt geschüttet, indes meine ich, behaupten zu dürfen: Wer an Stefan Zweigs Biographien nichts als den allzu schlamperten Stil bemängelt, wird mit Sieburg glücklich werden. Ein Sinn für das Dramatische, für den großen Moment, für die welthistorische Sekunde, in der sich aus dem Alltäglichen das Überlebensgroße formt, und ein Stil, der sich – zumeist wenigstens – dem Gegenstand der Betrachtung unterordnet, macht hier das Lesen zum Vergnügen. Die große Biographie Chateaubriands, die Darstellung der hundert Tage der Rückkehr Napoleons: Eine fast ungeschmälerte Freude, bei allen Abweichungen der Art und Weise, wie wir Geschichte betrachten, stets angenehme, nie langweilige Stunden.

Großartig auch die Miniaturen über die großen Toten. Maupassant. Heine. Kleist, in denen Sieburg sich, bewahrend und bewundernd, dem Geist einer Epoche, eines Menschen, dem Duft der Sprache selbst nähert, um bisweilen all das, was wir als Leser spüren, ohne es fassen und ausdrücken zu können, in einer einzigen, einer schlagenden Formulierung zärtlich zu umfassen.

Hier mag der Kreis sich schließen. Der – gleichfalls verblassenden – Gegenwart seiner Tage mag Sieburg das Angemessene schuldig geblieben sein. Dort aber, wo die ferne Vergangenheit nach Bewunderung verlangt, nach Liebe sogar, dort bleiben ein paar Aufsätze, der Abdruck einer Sehnsucht nach dem ganz gerundeten Schönen, nach dem, was an Sprache der Anbetung wert erscheint, und wenn es auch nicht mehr sein mag, was bleibt: Für diese zwei, drei schmalen, längst vergriffenen Bände lohnt es sich, diesen einst mächtigen Mann nicht ganz und gar zu vergessen.

Friedrich Sieburg, Unsere schönsten Jahre, 1950;
ders., Robespierre, 1935;
ders., Chateaubriand, 1959;
ders., Napoleon, die hundert Tage, 1956;
ders., Nur für Leser. Jahre und Bücher, 1974 (Anthologie).

alle antiquarisch

12 Gedanken zu „Ein zum Rühmen Bestellter

  1. Strychnin in Sekt ist schonmal eine ziemlich schäumende Angelegenheit liebe Modeste. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieser Anblick auch ein durchaus spektakulärer ist. Aber wenn sich Herr Ranicki in deinem ersten Satz über Geist und Format Sieburgs äußert, dann ist das umso schäumender wenn man weiß welche Anspielung dahinter steckt …

    LG
    Janice

  2. in hinblick auf uns beiden bekannte

    literatur, würde ich beim herrn koeppen einwerfen, dass ich mich zwar auch nicht besonders gut an den inhalt erinnere, aber wenigstens noch weiß, dass mir mindestens ein buch gefallen hat …

  3. REPLY:

    Wirklich? Das ist bemerkenswert – ich habe sowohl das „Treibhaus“, als auch die „Tauben im Gras“ mit einem erheblichem Maß an Desinteresse gelesen, und nie verstanden, was an diesem Autor bemerkenswert sein soll. Ich stehe gar nicht an, anderen das Lesevergnügen azusprechen – aber schwer tatsächlich haben mich sowohl die Thematik als auch die Charaktere gelangweilt, und der Stilzumindest nicht begeistert. Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen, nun mit dem Abstand mehrerer Jahre.

  4. REPLY:
    kann sein, dass der abstand hilft,

    mir ist nur grad ganz was anderes – bezogen auf einen viel früheren beitrag von dir – eingefallen: den mangel an guter gegenwartsschilderung behebt von „unseren“ autoren arno geiger mit „es geht uns gut“ gar nicht so schlecht.

  5. ja, der sieburg.

    die napoleon-biografie ist auch mal bei heyne erscheinen. schon nicht schlecht.

    und dann war da noch: blick durchs fenster. bei rororo, den alten, den mit dem gelben rückenfalz. sehr zu empfehlen*), weil, sieburg schreibt da sehr schön und anschaulich. über paris, über frankreich, über london und england. so wie er da schreibt, muss er nicht nur beobachtet, sondern auch gesehen haben, und das ziemlich scharf. einige dieser texte hätte man früher als kabinettstückchen bezeichnet, aber genug.

    schade, ich finde den rororo-band nicht. dabei habe ich ihn doch in dem antiquariat in paris, passage verdeau, gekauft, von daher ein souvenir besonderer art.

    —-
    *) mal bei amazon recherchieren. sogar die gebundenen ausgabe gibts dort günstig. kaufen, lesen.

  6. Beim Lesen dieser Zeilen verspüre ich eine eigenartige Unbehaglichkeit. Dürrenmatt und Hildesheimer, Kaschnitz und Eisenreich kenne ich. Bei Johnson weiß ich nicht, welchen Johnson ich da kennen sollte, vielleicht Eyvind.
    Wenn ein Kritiker einen anderen ausstalliert, fällt mir immer meine eigene kindliche Fragestellung ein: warum gelten die Zöllner in der Bibel als so schlechte Leute? Später habe ich die Antwort verstanden. Aber ich glaube, dass Kritiker noch eine Stufe darunter stehen. Eine Krähe hacke der anderen kein Auge aus, scheint hier nicht zu gelten.
    In der Literatur kann ich da nicht mitreden. Aber für mich stellt Eduard Hanslick das Musterbeispiel des Kritikers an sich dar: Verriss um des Verreißens willen.
    Es gibt ja auch nicht viele Kritiker, an die man sich heute noch erinnert.
    Aus der Bücherliste lässt sich eine gewisse Frankophilie ablesen. Wenigstens mit Chateaubriand kann ich etwas anfangen…

  7. Sieburgs ‚Erfolgsbücher‘ – alle die zahllosen Frankreich-Bücher also – sind heute zu recht vergessen. Was aber bleibt, sind seine Literaturtexte und seine Polemiken gegen die Gruppe 47 – er stellte sich doch nahezu als einziger damals gegen die Machtergreifung dieser ‚Veristen‘. Einer von denen schrieb: „Dies ist mein Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug …“ – und meinte, damit das Rezept für große Literatur gegeben zu haben (G. Eich: Inventur). Es gibt eine zweibändige Sammlung ‚Zur Literatur‘ von Sieburg, die jeden Cent lohnt …

  8. REPLY:

    Das habe ich letztlich gelesen, allerdings war ich angesichts der Vorschusslorbeeren der Kritik dann doch etwas enttäuscht. Der das Haus ausräumende Protagonist kommt in seiner ganzen Lethargie nicht wirklich näher. Das ist eine schwierige Identifikationsfigur, und mit seiner Freundin sieht es nicht besser aus. Was schwerer wiegt: Das Buch hat mir stilistisch nicht übermäßig gefallen.

    Ganz interessant aber die Flut an Familiengeschichten in den letzten Jahren, die – anders als in den letzten Jahrzehnten – Familie oft einfach erzählen, und nicht die Dysfunktionalität in die Mitte des Geschehens rücken. Das nimmt den Büchern oft das Zentrum, gleichwohl ist Irene Disches Familienroman lesbar (anders als ihre anderen Bücher, die mir durchweg, sofern gelesen , nicht gefallen haben). Wirklich charmant ist Eva Menasses „Vienna“, auch wenn die Protagonisten durch die Konzentration aufs episodische sehr unterschiedlich stark konturiert werden. Sehr nett an letzterem Buch der Verzicht auf diese etwas anstrengenden formalistischen Attitüden, die eines Tages dazu führen werdne, dass der größere Teil der Gegenwartsliteratur in tot weggeschmissen werden wird.

  9. REPLY:

    Nun, Herr Steppenhund, die meisten Bücher sind natürlich schlecht. Genauso, wie die meisten Gebrauchsgegenstände hässlich sind, die meisten Menschen schlecht kochen, und so gut wie alle Hobbymaler ihre Bilder nach Fertigstellung wegwerfen sollten, ist auch von dem, was zwischen zwei Buchdeckeln gekauft werden kann, wenig Gutes und viel Müll dabei. Diesen Mül auszusortieren, halte ich für eine ziemlich wohltätige Sache, die der Literatur vermutlich ganz gut tut. Im besten Fall ist die Kritik selber ein Stück Literatur, und im schlechteren Fall doch immer noch eine Art öffentlicher Diskussion darum, was sich zu lesen lohnt.

  10. REPLY:

    Das ist wahr, die habe ich auch und habe die Lektüre sehr genossen. Was die Gruppe 47 angeht, so ist dies mir ein stetig unverständliches Rätsel. Was daran de Lesern tatsächlich gefallen hat – ich weiß es nicht. Eine vollkommen unvertsändliche ästhetische Konstitution.

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