Eltern von Freunden waren ja schon als Kind eine spannende Sache – dass die Mutter der K. überhaupt nichts dabei fand, ihre Kinder Cola und Milchschnitten essen zu lassen, ohne dass die davon irgendwelche sichtbaren Schäden davontrugen etwa. Dass die Eltern des T. zu Hause mit derselben ausgesuchten, etwas distanzierten Höflichkeit miteinander umgingen wie auswärts, und nicht – wie bei mir zu Hause – alle durcheinander redeten und zwar ausschließlich über Dinge, die möglichst jedes anwesende Familienmitglied anders sah.
Nach dem Auszug von zu Hause entschwanden anderer Leute Eltern dem eigenen Gesichtskreis. Dass der einen Mutter ganz schön anstrengend sein kann, dass der anderen Vater ein schrecklicher Schürzenjäger ist, der sich gleichwohl niemals scheiden lassen wird: Man hörte davon, man sah die anderen Eltern nie, und wenn doch, so beschränkte sich dies auf kurze Stippvisiten in der Universitätsstadt, höchstens eine Tasse Tee in einem Café, wo man sich artig unterhielt, um einen guten Eindruck zu machen.
Andere Verwandte dagegen sieht und sah man nahezu nie. Die Tante, unter der liebe Freunde liebevoll stöhnen, die legendäre Tante des R. tauchten niemals auf, lebten allein durch Erzählungen, und unklar blieb teilweise sogar, ob die Tante oder Oma des Erzählers zum Zeitpunkt der Wiedergabe irgendwelcher Anekdoten noch unter den Lebenden weilte.
Mit der Zeit lernte man zu unterscheiden: Die Tante des R. bietet wenig Grund zur Unterhaltung, die erwähnte anstrengende Mutter ist eine derjenigen Geißeln ihrer Nachkommenschaft, die man doch nicht umhinkommt, zu bemitleiden und recht sympathisch zu finden in ihrer Enttäuschung durch ein Leben, das ihren Vorstellungen wohl unverschuldet so wenig entsprochen haben mag, wie es den eigenen Wünschen entsprechen würde, wäre man gezwungen, es zu führen. Besonders gern, begierig geradezu, wartet indes ein inzwischen größerer Kreis von Menschen auf Geschichten aus dem Familienleben der I., bevorzugt solchen, in deren Mittelpunkt der Vater der I. steht, der bekannt ist für ein unkonventionelles Verhältnis zur Essbarkeit von Tieren, ungewöhnliche Ideen zur Aquise von Lebensmitteln und ganz generell für ein Verhältnis zu den Dingen der äußeren Welt, das von den meisten anderen Leuten nicht geteilt wird.
Doch wir alle werden älter. Auch der Vater der I. altert zusehends, die Flexibilität weicht der Hartnäckigkeit liebgewonner Gewohnheiten, und so hat der Vater der I. sich seit Jahren angewöhnt, jeden Freitag einen Döner zu verspeisen. Einen „Döner mit Alles“ wie der Berliner Dönerverkäufer zu sagen pflegt. Freitag ist Dönertag.
Auch eine weitere Erscheinung des Alters macht nicht Halt vor dem Vater der I., die Haare werden schütter, der Bauch rundet sich, und die Zähne hören auf, so fest verankert im Zahnfleisch zu sitzen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Eines Tages brauchte der Vater also Stiftzähne. Zwei Stück: einen vorne rechts und einen weiteren genau daneben.
Es liegt indes in der Natur des Stiftzahnes, nicht einfach ins Fleisch gerammt zu werden und dann eine ebenso große Standfestigkeit zu entfalten, wie dies bei den eigenen Zähnen der Fall war, damals, als die Zähne noch fest saßen. Ganz im Gegenteil muss der Stiftzahnbesitzer einige Wochen abwarten, bis der Stiftzahn eingewachsen ist, und während dieser Zeit kann feste Nahrung eigentlich nicht verzehrt werden. So aß also der Vater der I. tagelang fein zerkleinerten Brei. Reibungslos verliefen so Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Dann aber ging die Sonne auf, es war Freitag, es war Dönertag, aber an den gewohnten Verzehr eines Döners war nicht zu denken, denn einen Döner ohne Vorderzähne zu essen ist, wie man weiß, nicht gut möglich, und so konnte der Vater den Döner zwar kaufen, essen konnte er ihn jedoch nicht, und so kam er, zwar gealtert, doch offenbar unverändert, auf eine seinem früheren Einfallsreichtum würdige Idee. Konnte der Döner also nicht ganz gegessen werden, so musste man ihn eben fein zerkleinern.
„Er hat den Döner püriert!“, prustet also seine Tochter auf meinem Sofa. „Püriert? Ganz? Mit Zwiebeln und Salat?“, schallt es zurück.- „Naja,“, relativiert die I. ihre frühere Aussage. Das Dönerbrot habe er ganz gelassen und lediglich in Milch eingeweicht.
„Igitt.“, stöhnt der geschätzte Gefährte, und die C. macht Geräusche, die sich anhören, als würde jemand gleich ersticken. „Das ist ja widerlich.“, sage ich, und die I. nickt.
Mit großer Freude, mit ungleich größerer Freude als zu sonstigen Verehelichungen sehen wir alle vor diesem Hintergrund der Heirat der I. entgegen, die nächstes Jahr im Mai ihren geschätzten Gefährten heiraten wird, und der Vater der I. wird, wie es sich gehört, eine Rede halten.
Man wird ihm genau zuhören, und ihn noch genauer betrachten.
danke für die anregung …
… obwohl ich mich ja mittlerweile oft selbst als die seltsam beäugte fremdmutter wiederfinde …
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Dass muss merkwürdig sein, wie ja jede Wiederspiegelung seiner selbst in den Augen von Leuten, von denen man weiß, dass sie die Welt anders sehen als man selber, nicht aber, wie.
Wegen der zunächst geschilderten Umstände haben meine Freunde und ich im letzten Studienjahr einen Elterntag veranstaltet und alle unsere Eltern zu einem Fest in unsere Studienstadt eingeladen. Muss ich mal im Detail beschreiben, war klasse.
Seltsamer Umgang mit Lebensmittel ist aber kein Privileg aelterer Leute. Gerne erinnere ich mich an meine seligen Zivizeiten im Alten – und Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt, dort hatte die ebenso resolute wie rothaarige Oberschwester unserer gloreichen Station IIb in den fruehen Herbstagen des Jahres 198x einen Entsafter und einen monstroesen Sack Mohrueben erworben damit „unsere Lieben“ „gut ueber den Winter kommen“ moegen. Nach mehreren Tagen 3 maligen Moehrensaftgebrauches wurde das Murren aus dem allerzeit blankgebonerten Speisesaal unueberhoeber laut, so dass die Beigabe des zwar gesunden aber auf Dauer nicht allzu wohlschmeckenden Saftes eingestellt wurde. Die teuer erworbenen Maschine verblieb allerdings im Stationszimmer stehen – und wurde Opfer meines Interesses. Langer Rede kurzer Sinn – die Kroenung einer langen Kette seltsamer Experimente war die Herstellung von Knaeckebrotsaft – und ihr werdet es nicht glauben – auch aus grossen Mengen von Knaeckebrot (Stichwort: Krankenhauspackung) laesst sich kein Saft herstellen, es staubt furchtbar, aber kein Troepfchen Knaeckebrotsaft wollte sich im Saftauffangbehaelter niederschlagen ….
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Oh, Frau Kaltmamsell, da bin ich sehr gespannt. Was für eine nette Idee! So bleiben einem nur Hochzeiten, und es heiratet ja glücklicherweise nicht jeder. Ich, wie man weiß, werde erst dann zum Traualtar schreiten, wenn, Herr Franzbrandtwein, es nicht nur Knäckebrotsaft, sondern auch Knäckebrotbier und Knäckebrotsekt käuflich zu erwerben gibt. Was für eine hübsche Geschichte – ich wäre gern dabeigewesen. Gibt es wenigstens Bilder?
Nein, Nein – es gibt keine Fotos, mein Gott wir schrieben das Jahr 198x da ahnte noch niemand etwas von Digitalkameras, und das Gewurschtel mit mechanischen Kameratosauriern war mir damals so suspekt wie heute … ueberhaupt duerfte sich nicht nur das damalige Knaeckebrot in Staub aufgeloest haben, auch saemtliche Bewohner der glamouroesen Station IIb sowie die besprochenen Oberschwester duerften mittlerweile als Staub in aller Herren Winde verstreut und verweht sein … und ich habe auch schon so einen trockenen Hals – schnell ein Glas …. aeh … Zwiebackploerre (aber das ist eine andere Geschichte … )
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10 Jahre alten Tempranillo Reserva, mein Freund. Auch ein G las? Salud!