Vorbei fährt der ICE an offenen Feldern, ein einsamer Hochsitz markiert die Grenze zum Wald, und dicht, verschlungen, zugewuchert vom Unterholz bis in die Wipfel quillt der Laubwald den Schienen entgegen. Schon sind wir weiter, vorbei ein baumumstandener, schattiger See, ein abgeerntetes Feld, eine ausgebrannte Scheune, von der nur noch Balken und Streben stehen, und in der Ferne ein paar Windräder. Windmüller sei er, fällt mir ein, sagte mir vor ein paar Tagen ein Fremder am Telefon, und sagte dies so selbstverständlich, als lägen keine russischen, bunten Märchen in diesem Wort von einem einäugigen Müller vielleicht, der des Nachts den Wind drischt, und die Hexen tanzen geschüttelt von Stürmen um seine Mühle auf einem Hügel abseits vom Dorf.
Rotbraun und kahl streckt ein Nadelwald sich der Sonne entgegen, und ich überlege, wie die Bäume wohl heißen, aber es fällt mir nicht ein. Ein Dorf, schon vorbei, eine geweißte Kirche, der Silo am Ortsausgang, und weiter, weiter, gleichmütig, eine gekühlte Dose, fährt der ICE über Land. Einen Moment nur in der lichten Traurigkeit der Birken, Tschechow, eine slawische Melancholie, und ich fahre heim in meine Stadt aus rohen, geborstenen, scheckigen Traurigkeiten, die östlichste Stadt der Republik, die östlichste Stadt des Westens.
Wie lange, überlege ich und ziehe die Beine eng an den Leib, war ich in keinem Wald. In Stahnsdorf, auf dem Waldfriedhof, im letzten Jahr, der schwarze Wein über den Gräbern, und ich lächele einem Abwesenden zu. Am Ufer des Wannsees wohl, letztes Jahr im August, aber ein wirklicher Wald, Bäume, die harzigen, geschlagenen Stämme, und ich muss lange überlegen. Letztes Jahr im Mai vielleicht, grübele ich, und für einen Moment sehne ich mich nach einem federnden Waldboden, nach dem Geruch nach einer guten Fäule und Chlorophyll, nach der Sauberkeit der Bäume am frühen Morgen, und hielte der Zug, ich stiege aus, nur für eine halbe Stunde.
Dann aber beginnen langsam, nach und nach erst und vereinzelt, die Häuser. Schallschutzwände versperren den Blick, und in einigen Minuten, dröhnt es aus den Lautsprechern, werden wir Berlin Hauptbahnhof erreichen. Zwischen den Bögen der gespannten Röhre aus Glas aber und dem Treiben der Passanten ist der Wald so weit, so unwirklich, als gäbe es ihn nicht, und die Bäume an der Schwedter Straße stehen leblos und stumm, als seien sie von allem Anfang an dazu bestimmt, die Fahrbahn zu markieren und Fahrräder anzuschließen, und Wälder, Wälder seien gar nicht wahr, ein Märchen nur oder eine bunte, phantastische Erfindung der Dichter.
Das Schönste am Wald ist immer noch der Waldrand, wo man Picknick machen kann, nachdem einem das Schwammerlsuchenund Brombeerenzupfen so gründlich verleidet wurde.
REPLY:
Die östlichste Stadt der Republik? Liegen Frankfurt/Oder, Wolgast, Eisenhüttenstadt,
Cottbus und Görlitz in Polen, oder gar in Karakapalkistan?
Und über östlichste Stadt des Westens unterhalt Dich mal mit Rheinländern 😉
Viel zu selten bin ich in meinem Leben ICE gefahren (zweimal in 26 1/2 Jahren). Was an der bekömmlichen Lektüre dieses feinen Textes wenig ändert.
Geh ins Herz der Wälder,
(…)
Das Herz der Wälder heißt mit Namen
Wild.
Da kommt
ein schönes Exemplar! Tritt näher,
schönes Exemplar, wie heißt du denn?
Ich heiße Bär.
Gut, hier hast du zwanzig Euro, dein Ehrgeiz
sei der nächste Försterball, sei sparsam
und ernähre dich.
Wir aber
steigen in den ICE… Ein
Blick zurück! Wer hat dich nur
so abgeholzt – leb wohl, du schöner
Schlagbaumlieferant.
(G.B. Fuchs)
behutsam modifiziert…
REPLY:
Man geht in den Wald hinein
und lustwandelnd langsam, aber auch nicht zu langsam, sonst wuchert einem Efeu
um die Füße, und man fällt auf sein Antlitz. Da ein Baum, dort eine Bäumin. Ein Hase.
Er ist ebenso furchtsam wie schmackhaft. Weil er das weiß, ergreift er sein Panier.
Der hat einfach keine lust, sich über den eigenen Haufen schießen zu lassen.
Ein Reh! Ein Contra! Neinnein, Schneider und Schwarz, alle oder keiner…
(Heinz Erhard)
Ich höre den Ruf der sibirischen Wölfe. Sie singen wieder ihr Lied: „Ja, mer san im Rudel
da!“
(Otto Waalkes)
Schön!
Tolle Schilderung. Ich kenne den Osten der Republik überhaupt nicht (jetzt kommt. Ich kenne den Norden auch nicht. Hat mit Ulbrichts Vorgartenzwergemäuerchen von anno tuback gar nichts zu tun.) Aber ich kann mir das jetzt gut vorstellen, wie’s aussieht.
Kein Wald seit ewig? Sie Arme. Das halte ich grade mal einen Monat aus, nicht länger…
also, ich könnte definitiv schon wieder auf stadt…
Ja, so ein Picknick am Waldrand – aber ein Spaziergang abseits von den befestigten Wegen, wo der Boden so ganz weich ist, Don, das wäre es jetzt auch. Das sollte ich öfter mal machen, Herr Remington, da haben Sie sicher recht. Und Frankfurt/O., Che, ist keine Stadt. Was sich heute alles so Stadt nennen darf.
Im ICE, Ole, fahre ich eigentlich meist recht gern, immerhin klimatisiert, und nicht allzu laut. Das Interieur, okay – aber was soll’s. Geht immerhin schnell. Und danke, Herr Wallhallada, Che, ich hätte herzlich gelacht, wenn es nicht sogar zum Lachen zu heiß wäre. Vielleicht morgen. Oder irgendwann, wenn ich mich nicht mehr so klebrig fühle. Denn heute, da bin ich mir, Herr Reuter, sicher, ist überall ein angenehmeres Klima als hier. Die Stadt schwitzt und ächzt unter einem viel zu schweren, heißen Himmel. Unangenehm ist das, und Herrn Lucky voll und ganz zuzustimmen.
S. Schama hat in Landscape and Memory einige interessante Beobachtungen angestellt zur spezifisch ‚teutschen‘ Waldfantasie.
„…lichten Traurigkeit der Birken…“ ist der Grund, warum Dersu Uzala u.a. auf den Osten Europas und noch weiter oestlich neugierig machen.
REPLY:
Was, liebste Modeste, ist denn Deiner Meinung nach eine Stadt? Qua Defintionem
ist das ja jede Ansiedlung mit Stadtrecht und mehr als 5000 Einwohnern, ab 50 000
spricht man von einer Mittel- ab 100 000 von einer großen und ab 250 000 von einer
Großstadt.
REPLY:
Gheist, ganz recht, Wälder des Ostens sind ein Geheimtipp. Ich hatte schon in kroatischen
Wäldern das Vergnügen, mich durch urwüchsige Natur förmlich hindurchschlagen zu
müssen, und weiter östlich… also Taiga, das ist Wald!
wälder sind dazu da: frische luft zu machen, getier zu verstecken und einem die aussicht zu verbauen. ansonsten soll man da draußen bleiben. außer es ist pilzsaison.
REPLY:
Pffffffff.
ich glaub jetzt habe ich lust in den wald zu gehen. zumal es jj1 nicht mehr gibt und mir also zumindest auch keine gefahr mehr von wilden bären droht.
REPLY:
Frau Wald, dein Pffffff musste ja jetzt kommen. Dennoch, würde es Dir große Mühe machen, das zu exemplifizieren? Gespannt: Onkel Che.
REPLY:
Ich habe dem Herrn Haase nur was
gehustetgepustet wegen seiner respektlosen Äußerungen. Wenn ich sowas lese, bekomme ich ja nicht übel Lust, ihm mal so richtig ordentlich die Aussicht zu verbauen. Oder ihn gleich ganz zu verstecken, haha. Pilze kriegt der dieses Jahr nicht, das ist ja wohl mal klar.Und dass Bäume eine gute Sache sind ja wohl auch.
REPLY:
Taiga. *mental note*
Auch im Dschungel der Großstadt gibt’s wilde Tiere, seltsame Pilze und allerlei Morsches.
entschuldigung. ich wusste nicht das ein wald anwesend ist. jetzt werden sie bloß nicht sauer (harhar). es gibt keine zecken in der stadt.
stadt – wald 1:0
REPLY:
Haha, Sie haben wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen, was?
Ich bin schon lange da. Sehr lange.
arboretum jongliert beiläufig mit ein paar Eicheln.
so als Tipp
mit der Straßenbahn M 10 bis zru Warschauer Straße, dann mit der S-Bahn bis Köpenick Richtung Erkner), von dort mit dem Bus nach Gosen über Müggelheim. Fahrzeit ungefähr eine Stunde. In Gosen gibt es einen sehr preisgünstigen Bootsverleih, den sogenannten Gosener Graben eine veträumte Naturlandchaft mit Raureihern, Enten und Schwänen sowieso und machmal schwirrt ein blauglänzender Eisvogel aus dem Schilf…der Seddinsee ist badetauglich.
Man kann sich den Flug nach Kanada sparen.
Keine andere Hauptstadt in Europa hat so ein Angebot wie Berlin.
touristische Grüße
Mukono
In der Naturwissenschaft, wie in der Kunst, ist die Welt seit Goethe den Weg gegangen, vor dem Goethe gewarnt hat, den er für zu gefährlich hielt. Die Kunst hat sich von der unmittelbaren Wirklichkeit ins Innere der menschlichen Seele zurückgezogen, die Naturwissenschaft hat den Schritt in die Abstraktion getan, hat die riesige Weite der modernen Technik gewonnen.
Gleichzeitig sind die Gefahren so bedrohlich geworden, wie Goethe es vorausgesehen hat. Wir denken etwa an die Entseelung, die Entpersönlichung der Arbeit, an das Absurde der modernen Waffen oder an die Flucht in den Wahn, der die Form einer politischen Bewegung angenommen hat. Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber der lichte Bereich, den Goethe überall durch die Natur hindurch erkennen konnte, ist auch in der modernen Naturwissenschaft sichtbar geworden, dort wo sie von der grossen einheitlichen Ordnung der Welt Kunde gibt. Wir werden von Goethe auch heute noch lernen können, dass wir nicht zugunsten des einen Organs, der rationalen Analyse, alle andern verkümmern lassen dürfen; dass es vielmehr darauf ankommt, mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen und sich darauf zu verlassen, dass diese Wirklichkeit dann auch das Wesentliche, das »Eine, Gute, Wahre« spiegelt. Hoffen wir, dass dies der Zukunft besser gelingt, als es unserer Zeit, als es meiner Generation gelungen ist. Werner Heisenberg
(Quelle: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft: 29ter Band, 1967,Herausgeber: Andreas B. Wachsmuth,
Zusammenstellung und Bearbeitung: Theodor Zezza)
Ehrlich gesagt, mir hängen Wälder immer noch zum Hals raus. 18 Jahre lang Pilze suchen, Waldlauf, Waldspaziergang. Waldwege, Landstraßen durch Wälder, Rehe, Hasen, Füchse, Förster, Schießstände etc. bla bla bla.
Ich konnte damals mindestens 18 weitere Jahre keine Wälder mehr sehen. Und die 18 Jahre sind noch nicht um. Ich bin ein Städter mit Leib und Seele. Noch.
Eine Stadt ist ein Urwald, Che. Eine heiße, dreckige, explosive Ansammlung von Menschen. Berlin ist eine Stadt. London oder Paris sind Städte. Frankfurt Oder ist ein schlechtes Einkaufszentrum mit ein paar Häusern drumherum. Ich war da mal zu Gericht, die Stadt verfügt über keinerlei Sehenswürdigkeiten, die Mehrzahl ihrer Bewohner ist ungepflegt und weniger ärmlich denn grell-geschmacklos gekleidet. Tee gibt es nur in Beuteln, und den besonderen, großartigen Charme des Ostens verspürt man nirgendwo, dieses Flair des verrotteten Sozialismus, der doch immer wieder zu gefallen weiß, so habe ich ein großes Faible für die „Karl-Marx-Allee“ östlich vom Alex. Sie sollten, Herr Gheist, also keinesfalls dorthin fahren. Ich empfehle da ja immer gern die verrotteten Städte der östlichen Donaumonarchie, wo Habsburger Schlamperei und sozialistische Unfähigkeit ein wirklich charmantes Flair hervorgebracht haben, der – mit den schrägen Zacken westeuropäischen Billigtourismus verziert- wirklich unwiderstehliche Resultate generiert.
Und dass, Herr Haase, Frau Arboretum nicht nur als Stammgast recht haben dürfte – nun, aber vielleicht teilen Sie die Kindheitserinnerungen des Burnsters, uns das wird schon wieder. Immerhin hat Detika recht, und man vermeidet in Großstädten die Begegnung mit freilaufenden Bären. Auf der anderen Seite hat natürlich auch Herr Atkins recht.
Für den Tipp, Herr Mukono, danke ich recht herzlich. Ich werde mir das mal genau anschauen. Und der Heisenberg, Frau Reh, mag da wohl recht haben. Auch das schaue ich mir vielleicht bei Gelegenheit noch einmal an.
REPLY:
Was Du da als städte bezeichnest,modeste, nennt man metropolen. Schon lüneburg oder bielefeld sind großstädte, und das ist keine frage des beliebigen empfindens, sondern statistisch und geografisch eindeutig definiert.
REPLY:
Die Assoziation, ich gebe es zu, liegt nahe, aber der Form halber weise ich darauf hin, dass es Herr DR. Wahllos alias Reh Volution heißen müßte 🙂
REPLY:
Ach was, jedem seine eigene Definitionsmacht. Irgendwozu muss das Internet ja gut sein. Und den Herrn Reh werde ich mir merken.