Durch die engen Gassen der Souks von Kairo, vorbei an den Gerüchen der aufgetürmten Früchte und Gewürze, vorbei auch an Ballen leuchtender Stoffe, die höher gestapelt waren als ich, die acht Jahre alt oder neun an der Hand meines Vaters durch den ägyptischen Januar lief. „Magst du dir die Hände mit Henna bemalen lassen?“, fragte er, als eine alte Frau mich zu sich in den Laden winkte. Ich drückte mich an ihn, eingeschüchtert von den schreienden, gestikulierenden Händlern, und müde von dem langen Flug und dem frühen Aufstehen. Mein Vater vertrieb die Händler mit einigen Handbewegungen, und zog mich weiter Richtung Ausgang, als eine alte Frau sich uns in den Weg stellte. Gebieterisch, die Hände in die Hüften gestützt, stand sie vor uns, sehr dick, in einer Mischung aus traditioneller und moderner Kleidung, und streckte mir eine Handvoll Zettel entgegen. „Nimm schon.“, sagte mein Vater, und gab der Frau etwas Geld, auf dass sie den Weg wieder freigebe.
Ordentlich drei- oder viermal zusammengefaltet waren die Zettel, wie herausgerissen aus einem Schulheft, und ich öffnete den ersten, nur um festzustellen, dass die handschriftlichen Zeilen sich meinen Lesekünsten jedenfalls entzogen. Schüchtern drückte ich der Frau die Zettel wieder in die Hand. Sie verweigerte die Annahme, und ich schob die Zettel wieder tief in meine Hosentasche. An der Frau vorbei zog mich mein Vater in den Fleischsouk, wo abgezogene Hammelköpfe mich aus blauen Augen ansahen. Die Frau kam uns hinterher und hielt mich fest.
Mag sein, dass mein Vater irgendetwas zu ihr sagte, mag auch sein, dass ich versuchte, ihr meinen Arm zu entziehen. Am Ende stand die Frau vor mir, die Zettel in der Hand, und entfaltete in großer Hast einen nach dem anderen, um sie vorzulesen. Neben meinem Vater stand ich und sah die Frau an. „Eine Wahrsagerin.“, erklärte mein Vater.
„Was hat sie gesagt?“, fragte ich ihn, als die Ägypterin alle Zettel vorgelesen hatte, und wir durch den Dunst des frischen Fleisches endlich zum Ausgang gelangten. „Ich habe kein Wort verstanden.“, zuckte mein Vater die Achseln, und wir fuhren zum Hotel.
Jahre später, achtzehn war ich und auf Interrail-Tour, las mir eine Italienerin aus der Hand. Drei Söhne würde ich einmal haben, verriet sie mir, und einen reichen Mann. Dass sie meiner Freundin N. fast dasselbe weissagte, entzog auch im zarten Frühling meiner Leichtgläubigkeit dieser Aussage indes doch ein deutliches Maß an Glaubwürdigkeit. – Eine Prager Wahrsagerin, weitere drei Jahre später, weissagte Schlimmes, und hinterließ ein bedrückendes Gefühl in der Magengegend, und den Vorsatz, den Mund der Wahrheit bis auf weiteres nicht mehr zu befragen.
Manchmal aber, in der Ruhe eines frühen Morgens nach durchwachter Nacht, liegt die Zukunft, das nächste Jahr und der nächste Morgen, so verworren vor mir, so unklar Ziel und Weg, dass ich wünschte, einer käme zu mir, und sähe in meine Hand, selbst wenn nichts weiter darin zu sehen wäre als eine große Leere, eine ereignislose Melancholie, und ein Ende in Dunkelheit, Blut und Tränen. Vielleicht aber, denke ich dann, kommt im Leben nur einmal einer zu einem, den Nebel zukünftiger Tage zu lüften, und eine gnädige oder grausame Ironie befahl, das Abbild meiner Zukunft in fremde Worte zu verkleiden, einmal, vor vielen Jahren, irgendwo in Kairo.
Sehr schön wieder von Ihnen zu lesen, Frau Modeste. Ich habe sie vermisst.
Das erinnert mich an den kauzigen, alten Mann, der mir zu Beginn meines Studiums die Wohnung über seiner Gebrauchtbuchhandlung vermietete. Er pflegte für mich (beinahe täglich) ein Kierkegaard-Zitat zu wiederholen, das Spuren hinterlassen hat:
„Ich wünschte es würde ein Stein vom Himmel fallen und mich erschlagen; hätte ich dann doch das Vertrauen, nein die Gewißheit nicht umsonst gestorben zu sein.“
Schöne Geschichte, Frau Modeste!
REPLY:
Danke, Herr Thot – ich habe das Bloggen auch (ein bißchen) vermisst. Und Kierkegaard, Herr Wasdenktflo, sollte man sowieso viel mehr lesen, meine Vermieterin schreibt mir allerdings keine tiefgründigen Zitate, sondern vielmehr lustige E-Mails, aber das ist auch nicht übel.
Und nun?
Die Jahre, dahingegangen sind sie, verstrichen fast wie im Fluge. Die Zettel? Existieren sie noch, hueten sie noch ihr und Ihr Geheimnis der Zukunft? Oder sind sie ebenso, wie Sie, in einer Zukunft entschwunden, die Sie sich nicht so vorzustellen vermochten? Eine der vielen verpassten Gelegenheiten, die man erst im Nachhinein erkennt, eine der vielen Gabelungen auf dem Lebensweg, nach deren Beschreiten man sich nie sicher ist, was der andere Weg gebracht haette…
Schoen, wieder von Ihnen lesen zu duerfen, Frau Modeste.
Äußerst feinsamtiger neuer Lesestoff. Schön, wieder neue perlende Geschichten von Ihnen zu haben, Frau Modeste.
schöner Text
das war ein wahrer Lesegenuss, danke. Am besten gefielen mir die abgezogenen Hammelköpfe mit den blauen Augen, smile.
Ja, im Nachinein erscheint einem alles wie vorbestimmt.
Gruß
Mukono
REPLY:
Die Zettel, Herr Pathologe, habe ich gar nicht mitgenommen, und die Zukunft so unklar wie eh und je. Ob tatsächlich alles vorherbestimmt ist, oder ob nicht wirklich irgendwo alle Zeiten gleichzeitig existieren, und die Trennwand auch einmal durchsichtig werden kann – oder ob nicht all dies Unfug ist, und die sichtbare Welt auch die wahre ist – wer kann das wissen, Herr (?) Mukono.
Und Ihnen allen danke für Ihr warmes Willkommen.
Danke, liebe Modeste, für diese Geschichte. Ansonsten kann ich mich den Begrüßungen der Freunde nur anschließen.