Sic transit

Die Vergänglichkeit, so sagt man, beschäftigt den alten Menschen naturgemäß mehr als den jungen. Nicht nur das weitere Schicksal unserer unsterblichen Seele, sondern auch die Frage, welche künftigen Wege jene irdischen Besitztümer nehmen, die uns teuer sind, stellen auf dem Wege zum Grabe indes Umstände dar, an die gerade ein seit 15 Jahren verwitweter kinderloser Greis von über achtzig Jahren mit Bangen denken mag, und anders ist jener Vorfall des mir ansonsten ziemlich unbekannten Onkel H. auch gar nicht verständlich.

Den Onkel H., ein Vetter meiner Großvater oder so, hatte ich zuletzt auf der Beerdigung meines Großvaters gesehen, damals noch in Begleitung seiner Gattin, und nach jenem letzten gemeinschaftsstiftenden Ereignis der Großfamilie vollkommen aus den Augen verloren. Mit den Jahren, so sagt man sich, sei er ein wenig wunderlich geworden, wie es denn so geht, wenn erst die Gefährtin dahinsinkt, und man sich dann auch noch mit der ganzen restlichen Sippe zerstreitet, ohne in einem ausgedehnten Freundeskreis hinreichenden Ersatz zu finden. Allein mit einer zumindest für einen Privatmann verhältnismäßig umfangreichen Bibliothek verblieb Onkel H. also in seinem Einfamilienhaus und wurde steinalt und ein bißchen komisch. Lange Jahre hörte niemand etwas vom Onkel H.

Eines Tages jedoch klingelt bei einer Person, die ich der Einfachheit halber hier einmal schlicht eine Tante nennen möchte, das Telephon, und des H. Nachbarn sind dran. Onkel H., so berichten diese, grabe seit Anfang März den ganzen Garten einmal sorgfältig um und versenke in den offenen Löchern große, schwere Gegenstände. Oha, dachte meine Tante, und rief den Onkel bei Gelegenheit einmal an. Der Onkel verleugnete sich.

„Was meint du, mit er verleugnete sich?“, frage ich ein wenig irritiert nach. „Naja,“, sagt meine Tante, „stelle dir vor, ich rufe dich an, und du behauptest, du wärest gar nicht du. Sondern deine Mitbewohnerin.“ „Ach so.“, antworte ich, und fürchte das Schlimmste für den Geisteszustand jenes Onkels, das sich dann auch sogleich bestätigen sollte: „Onkel H. ist ja leider verrückt geworden.“, meint meine Tante, und schildert den Besuch beim H. am Wochenende nach dem erfolglosen Versuch telephonischer Aufklärung.

Gegen Mittag biegt die Tante also in die Straße des Onkels ein, und sieht schon an der Ecke das Malheur: Tatsächlich besteht der ganze Vorgarten – und wie sich später herausstellen sollte: der Garten nach hinten heraus auch – aus einer planen, wüsten Ackerfläche. „Hat er dich denn ohne Probleme ins Haus gelassen?“, frage ich, und ernte die Versicherung der Tante, der Onkel sei nachgerade froh gewesen über ihr Auftauchen, und das könne er auch sein, denn einen Geistesgestörten – nicht? – könne man ja unmöglich allein lassen, der müsse unverzüglich unter Aufsicht, und dafür habe sie dann auch gesorgt.

„Woran hast du gemerkt, dass er krank ist?“, frage ich ein bißchen irritiert nach. „Die Bücher!“, trompetet die Tante, und legt die Umstände einer wahrhaft sonderlichen Regelung auf den Todesfall dar: Besagter Onkel also, bar der Nachkommen und ohne nennenswerte literaturbeflissene Bekannte, begann wohl vor einigen Jahren, um jene Bibliothek, die den Quell der Freude seines ansonsten etwas eintönigen Lebens darstellte, zu fürchten. Traurig winkten die Bücherkisten der Trödler dem Einsamen zu, vor seinem geistigen Auge wuchsen starke Männer aus dem Boden, die im Auftrage einer Firma für Wohnungsauflösungen die Bibliothek mitnehmen und sodann auseinanderreißen und für billiges Geld verramschen würden. Weh wurde es dem Onkel, Marbach wollte seine Bibliothek nicht haben, und so beschloss der Onkel die Bücher mit ins Grab zu nehmen wie, so sagt man, Inder bisweilen ihre Ehefrau.

Größe und Benutzungsmodalitäten herkömmlicher Grabstätten verboten indes eine allzu wörtliche Ausführung dieses Plans. Unter die Erde, geschützt vor den raubgierigen Fingern der Wohnungsauflöser und der fleddernden Verwandten, die den gesammelten Kleist mitnehmen, und die Tagebücher Ernst Jüngers wegschmeißen würden, sollten die Bücher gleichwohl, und so erwarb der Onkel große wasserdichte Kisten, und hob an, das Glück seines Lebens einen Meter tief unter seinem Garten für nachfolgende Generationen aufzusparen.

„Ist er sonst denn noch ganz gut beieinander?“, frage ich die Tante, und ernte ein entrüstetes Schnauben. Mit Zähnen und Klauen habe er sich gegen das Altenheim gewehrt, mit Einweisung habe sie drohen müssen, aber so habe es ja nicht gut weitergehen können, und ein gut geführtes Heim habe sie auch gefunden. „Kann er die Bücher da denn mitnehmen?“, frage ich nach, und meine Tante weist auf die immensen Kosten der Wiederausgrabung hin. Den Nachbarsjungen habe sie Geld gegeben, und hoffe demnächst die Kisten wieder vollzählig vorzufinden.

Ins Heim aber, so sagt meine Tante, werde der alte Mann die Bücher kaum mitnehmen können, höchstens eine Auswahl, und so werde sie die Bücher wohl, wie auch das Haus, verkaufen.

14 Gedanken zu „Sic transit

  1. Ihr Onkel, verehrte Frau Modeste,…

    …dauert mich. Sein Verhalten kann ich nachvollziehen, seine Wertschätzung hat sich von den Menschen zurückgezogen und den Büchern zugewandt. So muss es umso schlimmer für ihn sein, wie seine Einschätzung durch das „Wohlwollen“ der Verwandschaft untermauert wird.

    Ich hoffe für ihn, er möge seinen Frieden finden. Vielleicht sogar — >hier?

  2. REPLY:

    Da schließe ich mich ganz dem Pathologen an. Trauriges Schicksal, sowas.
    Und dieser furchtbare Pragmatismus der Gut-Meinen-aber-nicht-gut-Tuenden
    hat etwas barbarisches.

  3. Der Alptraum

    .. eines jeden Sammlers. Ich glaube, ich will gar nicht wissen, was mit meinem Lieblingen nach meinem Tode passiert. Allerdings habe ich noch die Chance, Nachkommen heranzuziehen, die bedrucktes Papier ebenso schätzen, wie ich selbst.

  4. REPLY:

    Ich habe keine Ahnung, an was mein Onkel sein greises Herz da eigentlich gehängt hat. Falls die Bibliothek brauchbar sein sollte, werden Cousin L. und ich versuchen, den Bestand an uns zu reißen. Ich habe allerdings nicht den blassesten Schimmer, ob meine Tante die Beute wieder aus den Fängen lässt, oder schon ihre ganz eigenen Pläne hat, was mit den Büchern, repektive dem Erlös, passieren soll.

  5. Tja, mit dieser Frage werden wir Kinderhasserinnen uns wohl irgendwann auseinandersetzen müssen. Einerseits kann ich den Onkel gut verstehen, andererseits: Ich selbst hätte doch nach meinem Tod von keiner Verwendung meiner Bücher irgendwas.
    Viel Glück beim Jagen, modeste!

  6. Passt irgenwie…

    Nicht sollt ihr Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und derRost fressen und wo die Diebe einbrechen und sie stehlen.
    Sammelt euch aber die Schätze im Herzen, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und sie stehlen.
    Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.

  7. REPLY:

    Auf der einen Seite – und ganz pragmatisch betrachtet – stimmt das natürlich. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung, der eigene Bücherschrank möge von beflissenen Neffen und Nichten eifrig von vorne bis hinter durchgelesen werden, doch wesentlich reizvoller als das Bild eines mürrischen Trödlers, der die Hälfte als unverkäuflich wegwirft. Schlimmstenfalls kann man die guten Stücke viellicht einer Schule stiften. Wenn die dann noch lesen.

  8. REPLY:
    So lange

    Sie noch Zugriffszahlen auf Ihr Blog verzeichnen können, werte Frau Modeste, so lange gibt es auch noch Menschen, die des Lesens mächtig sind. Und somit wären Ihre Bücher, respektive die Ihres Onkels, gerettet.

    Wobei ich mir bei den Schulen heutzutage schon nicht mehr so sicher bin. Gibt’s den Dreisatz auch als Powerpoint-Präsentation, am besten vertont?

  9. REPLY:

    Ich habe bei meinem Umzug aus den USA nach Deutschland viele Bücher zurückgelassen und das hat mich trauriger gemacht, als ich vorher erwartet hätte. Beruhigend fand ich es da nur, dass Freunde diese Bücher bekommen haben. Insofern kann ich den Onkel gut verstehen, der seine Bücher nicht beim Trödler landen wissen wollte.

  10. REPLY:
    blog bleibt

    buch ist sowas von out
    blog ist in
    das verrottet nicht
    da kommt kein bücherwurm dran
    und auch keine milbe
    und keine silbe
    geht in den orkus
    daher
    twoday
    und die luft kann brennen

  11. Die Kunst des Loslassens. Wenn es um „Lebenswerke“ geht, wohl schwieriger als die Entfernung der angesammelten Tattoos. Ich stelle mir gerade vor, die Bücherkisten wären in Vergessenheit geraten, das Haus verkauft worden – und irgendwann hätte ein kleines Kind beim Buddeln im Garten einen echten Schatz geborgen. So wie im Buch Fred und die Bücherkiste.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie möchten einen Kommentar hinterlassen, wissen aber nicht, was sie schreiben sollen? Dann nutzen Sie den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken