Der gute Ruf

Natürlich sei er sich so gut wie sicher, dass der X. nicht nachteilig über ihn spreche, meint der Y. auf dem Heimweg von der Tagung im ICE nach Berlin, da sind wir knapp an Wittenberg vorbei. Der X. – ich nicke – sei nämlich nicht ganz von dieser Welt, und wir sind uns alle beide nicht so ganz sicher, ob der X. überhaupt Gedanken hegt, die sich nicht auf sein ziemlich abseitiges Spezialgebiet beziehen. Es sei also gut möglich, dass dem X gar nichts aufgefallen sei. Oder dass er daraus keine Schlüsse gezogen habe. Oder dass er zwar so seine Schlüsse gezogen habe, aber sowieso keine Gespräche führe, in denen es um das Leben anderer Leute geht. Insofern, sagt der Y. und verzieht ein wenig den Mund, sei an sich und bei oberflächlicher Betrachtung alles in Ordnung. Auf den zweiten Blick allerdings sei ihm wegen dieser Sache doch alles in allem ein wenig unwohl.

Beim ersten Zusammentreffen, fährt der Y. fort, habe er natürlich noch nicht im Ansatz an seinen guten Ruf gedacht. Man denke ja überhaupt stets nur an seinen Ruf, wenn dieser einem in irgendeiner Weise gefährdet erscheine. Die damalige Situation war allerdings vielleicht auch objektiv ein klein wenig verfänglich. Er habe nämlich einen Vortrag gehalten, auf einer Fachtagung in einem Berliner Hotel, und sich ganz gegen seine Gewohnheit überreden lassen, zum abendlichen Empfang noch zu bleiben. Die A. sei hieran nicht ganz unschuldig gewesen, die kenne er nämlich sozusagen schon immer, also mindestens seit 1992, als er mit der A. gemeinsam als studentische Hilfskraft im Staub des Instituts für Völkerrecht herumgesessen habe, und so habe er Stunde um Stunde mit der A. an der Bar gestanden und getrunken. Die A. sei eine auch in ihrem 45. Lebensjahre sehr ansehnliche Dame, aber vor allem habe sie einen unschlagbaren, hemmungslosen, unwiderstehlichen Humor, und so bogen sich der Y. und die A. laut kreischend vor Vergnügen an der Theke, und als die A. den Y. zum Tanz aufforderte, war es gegen Mitternacht und beide ziemlich betrunken. Gerade aber, als sie sich mehr des Gleichgewichts als der Zuneigung wegen zu den Klängen von „In The Mood“ eng aneinander festhielten, öffnete sich eine der Türen der Bar, und der X. verließ die auch von ihm besuchte Tagung Richtung Heimat. Er sah im Wesentlichen auf seine Füße, riss aber dann, ungefähr in der Mitte des Raumes doch auf einmal die Augen auf, und dann starrte er den Y. einen Moment lang an, murmelte eine Gruß und entschwand. Zurück blieb der Y., die enthemmt kichernde A. vor der Brust.

Am Samstag drauf traf der X. den Y. im heimischen Kleinmachnow aus Anlass eines Kindergeburtstags. Ein Knabe aus dem weiteren Bekanntenkreise – auch ich kenne die Familie oberflächlich – feierte seinen Geburtstag, und beider Söhne feierten mit.

Man kennt sich in diesen Vororten. Außer den Nachbarn gibt es da ja auch meist wenig Amüsement. Man blieb also beim abendlichen Abholen noch etwas sitzen, trank Sekt und aß Schnittchen, tratschte über Abwesende, und als die B. erschien, wurde der Nachmittag richtig gemütlich. Der Y. und die B. kennen sich, seit die B. vor circa hundert Jahren mit dem damaligen Mitbewohner des Y. zusammen war, und so saßen beide also in einer Sofaecke und sprachen mit einem Glas Sekt in der Hand, und als es schließlich Zeit war zu gehen, ließ die B. ihr Auto stehen und fuhr beim Y. mit. Die beiden waren allein im Auto, denn die eigentlich abzuholenden Söhne hatten sich spontan zur Übernachtung entschlossen.

Vor der Tür der B. dauerte der Abschied. Der Y. schwört, es sei rein gar nichts vorgefallen, man habe eigentlich nur Reiseerfahrungen ausgetauscht, sich zur Illustration Handyfotos gezeigt, und als auf einmal – ausgerechnet – der X. vorbeikam, berührten sich der Y. und die B. an sich auch nicht mehr, als das eben der Fall ist, wenn man sich in einem Auto Bilder zeigt. Er habe, so der Y., im Übrigen auch nicht anders geschaut als eigentlich immer. Höchstens eine Bruchteilssekunde länger, aber das kann sich der Y. auch eingebildet haben.

Letzte Woche allerdings, da habe er dann wirklich etwas irritiert ausgesehen. Da seien sie sich nämlich auf einem Parkplatz begegnet. Der X. und der Y. Ziemlich unverwandt habe der X. ihn angestarrt, sicherlich mindestens eine Minute lang, aber die Frau am Arm des Y., war wirklich seine Schwester. Kurz sei es dem Y. sogar durch den Kopf geschossen, dem X. genau dies zuzurufen, aber vermutlich hätte der ihn dann erst recht sonderbar gefunden, und außerdem habe er sich vor seiner Schwester geniert.

Man müsse das, sagt der Y., schon noch einmal richtigstellen. Man treffe sich halt doch ständig. Die Fachwelt. Die Nachbarschaft. Und bei jeder Begegnung peinige ihn die Vorstellung, was der X. nun über ihn denkt. Er werde ihn bei nächster Gelegenheit einfach einmal ansprechen.

„Da ist er doch!“, winke ich aus dem Abteil heraus auf den Gang des ICE. Abwesend wie immer, starrt mich der X. durch die Scheibe an. Offenbar reist er mit dem selben Zug von der Tagung nach Hause. Dann schaut er den Y. an. Sodann wieder mich. Und dann schaut er auf den Boden und geht schnell weiter.

„Vielleicht rufe ich ihn mal an.“, sagt der Y., und wir beide schweigen.

 

5 Gedanken zu „Der gute Ruf

  1. Hahaha, sooo schön beschrieben! Ich habe die Situationen bildlich vor mir gesehen. Die Betretenheit beim Auftauchen des unfreiwilligen Spaßverderbers, der ungeschickterweise stets zur falschen Zeit am falschen Ort zu wandeln scheint, war förmlich zu spüren.

  2. Kann denn dem Y nicht egal sein, was der X über ihn denkt? Oder ist der X womöglich einflussreich oder eine Klatschtante? Meine Güte, warum einfach, wenn es auch kompliziert geht.

    Aber eines würde ich dem Y raten: niemals Alkohol im Übermaß bei offiziellen Anlässen trinken. Ich zumindest halte mich immer an Mineralwasser und schaue zu, wenn sich eine Mitarbeiterin beim Chef auf den Schoß setzt oder ein Kollege einem anderen betrunken die Meinung sagt.

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