Zwei Wochen vor seinem 70. Geburtstag, sagt meine Mutter, sei er gestorben, und dass sie einen Kranz geschickt hätten, wenn er sich nicht vor La Gomera hätte ins Meer kippen lassen.
La Gomera hört sich falsch an, denke ich, denn für mich gehört er nach Sylt, wo er irgendwann Ende der Siebziger wie viele andere Hamburger auch ein kleines Haus gekauft hatte, unten zwei Zimmer und oben noch einmal zwei, und im Garten einen Schuppen, auf dessen Dach sein Sohn B. und dessen Freunde später, schon waren die Neunziger angebrochen, lagen und in den Himmel starrten und Pfirsichsekt und Bier dazu tranken.
Das Haus war so scheußlich eingerichtet, wie Ferienhäuser es damals eben so waren. Alles stand voller Korbmöbel, die Polster waren orange oder braun, das Geschirr war grün und vermutlich in der Familienküche ausrangiert worden, aber vom Wohnzimmer aus konnte man zwischen Heckenrosen und Schlehen das Meer sehen, es roch nach Tang, und wenn man im Meer schwimmen war, konnte man im Garten des Hauses das Salz abduschen, bevor man ganz trocken war.
Er war Arzt. Er hatte eine Praxis in Hamburg, ausreichend Privatpatienten, er trug auch Sonntags und am Meer meistens weiß, und er spielte ebenso schlecht wie gern Gitarre. Ab und zu, wenn meine Freunde noch schliefen, traf ich ihn morgens auf der Terrasse, wie er ein bisschen klimperte, Bruchstücke sang und schwarzen Tee mit Milch aus klobigen, dänischen Bechern trank.
Er war freundlich. Er füllte den Kühlschrank für die Freunde seines Sohnes mit dem Käse, der immer als erster weg war. Er merkte sich, wer wie Kaffee trank. Er schenkte mir zweimal Bücher, weil ich sie besonders mochte, und als ich 16 wurde, stellte er mir Blumen ans Bett und bestellte in der Bäckerei in Keitum einen kleinen Kuchen. Es waren leichte, schwingende Sommer damals, wir waren immerzu verliebt, meistens unglücklich, küssten ständig versehtlich die Falschen, stritten uns, vertrugen uns wieder, tranken zu viel und benahmen uns so gut oder so schlecht wie es Leute eben tun, die nichts Ernsthaftes auszustehen haben, ohne das schon zu wissen. Irgendwann in diesen Sommern war ich auch mit seinem Sohn B. zusammen, nur ein paar Tage, höchstens Wochen, so dass ich ihn schon im selben Sommer gar nicht mehr mitzählte, wenn ich über meine Exfreunde sprach.
Ich nahm ihn gar nicht wahr. Oder nur so, wie man die Eltern seiner Freunde eben wahrnimmt, als mehr oder weniger angenehme Ressourcen eben, Institutionen, die sich in Funktionen erschöpfen. Ab und zu bemerkte ich, dass er uns mit mehr Aufmerksamkeit betrachtete, als andere, die sich nicht einmal merken konnte, wer da alles durchs Haus lief. Gelegentlich fotografierte er meine Freundin N. und mich und schenkte uns die Bilder.
Jahre später traf ich ihn noch einmal am Strand. Ich war mit meinem Freund in Hörnum, wir hatten uns gestritten, und ich war losgefahren, um irgendwo allein zu sein. Da saß er in Keitum, er war etwas grauer und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber er spielte noch Gitarre und er wusste sofort, dass ich Sekt trinken wollte und welchen Käse und Sesambrötchen am nächsten Tag. Es war ein bisschen kalt an diesem Abend, vielleicht war es schon September. Es gab Freixenet, weil ich den damals wirklich sehr gern trank. Ich glaube, er las mir Erich Fried vor, allen Ernstes Erich Fried, er spielte Lieder von Hannes Wader und Reinhard Mey, aber es passte zu ihm, und ich glaube, ich sang mit. Am nächsten Morgen lief ein Film mit Jeremy Irons und Juliette Binoche, die ich wunderschön fand, und er zeigte mir ein Bild von mir, schlafend, am Morgen meines 16. Geburtstags, und dann fuhr er mich nach Hörnum. Ich vertrug mich wieder mit meinem Freund, und er fuhr davon. Ich winkte vielleicht oder auch nicht, und dann sah ich ihn nie wieder. Und jetzt ist er tot.
Ein lapidarer Nachruf, aber trotzdem schön!
Das tut mir leid.