Seit das Virus in der Welt ist und ich abends nichts mehr vorhabe, verlieren meine Tage jede Struktur: Ich muss irgendwann zu Hause sein und an manchen Tagen nicht mal das. Aber weil ich immer und überall arbeiten kann, arbeite ich morgens ganz früh im Bett, wenn ich mich vom Schreck der immer weiter steigenden Infektionszahlen halbwegs erholt habe, fahre ins Büro, vertwittere dann halbe Tage, arbeite in kurzen Sprints, lese amerikanische Politblogs, arbeite weiter und fülle zwischendurch Warenkörbe von Onlineshops mit Kleidern für eine andere Frau in einem anderen Jahr, um dann wieder alle zu löschen.
Dann arbeite ich wieder weiter. Mag sein es ist acht, zehn, später. Fahre heim. Stürze mich wieder ins Netz, esse irgendwann irgendwas, arbeite und chatte und lese und areiten und fahre den Rechner herunter, wenn es so spät ist, dass ich nicht mehr arbeiten kann.
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Tatsächlich sind die meisten Leute, die von sich behaupten, sie seien socially awkward, kein bisschen peinlich, sondern einfach nur überdurchschnittlich kokett, und die immense Anstrengung, die es wirklich sozial schnell überforderte Menschen kostet, auch nur einen Empfang halbwegs störungsfrei durchzustehen, sich nach einem eigentlich gelungenen Abend gelungen zu verabschieden oder unpeinlich nachzufragen, wenn man glaubt, man habe sich irgendwie peinlich verhalten, ist ihnen erkennbar völlig fremd.
Völlig fremd ist ihnen auch die Anstrengung, nun nach langen Jahren der Anpassung an halbwegs normal erscheinende Verhaltensweisen sich an die soziale Welt mit Virus zu adaptieren. Hat man irgendwann endlich gelernt, wie lange man auf einer Veranstaltung mit Leuten spricht, auf welche Wendungen hin man sich besser verabschiedet, wie man ein Gespräch im Laufen hält und so weiter, fallen alle diese höchstpersönlichen Betriebsanleitungen angesichts des Virus in sich zusammen, weil mit den sozialen Events sich auch die sozialen Gepflogenheiten geändert haben, und die neue Welt erschließt sich mir zumindest nicht von selbst.
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In der letzten Woche mit einem Kollegen überlegt, noch ein letztes Mal in die Philharmonie zu gehen. Dann kommt heraus: Die Philharmonie ist schon ab Montag dicht. Es wird also nichts mit einem letzten Konzert, das das erste seit Februar gewesen wäre. Nichts mit Theater, nichts mit einem Rundgang durch die Gemäldegalerie. Ich werde nicht zum Sport gehen. Ich treffe die Freundinnen nicht in der Sauna. Ich gehe nicht essen. Ich treffe vielleicht ein paar Freunde, aber keine der Mittagsverabredungen, die für November in meinem Kalender stehen, wird stattfinden.
Ich werde arbeiten, diesen November. Arbeiten und irgendwas essen und irgendwann schlafen.
Ich freu‘ mich immer sehr über Ihre Fotos vom Essen, fast warte ich drauf, dass das wieder mehr werden. Aber das ist wahrscheinlich auch kein Trost…
Und dann ist da Durchatmen, weil: nur sehen wen mensch sehen will. Nur dann wann und wenn. Keine Rechtfertigung mehr für „woanders arbeiten“. Freiheit. Die drei Meter aus dem Haus in den nächsten Park. Andererseits: die fehlende Umarmung, das ausfallende sonnenherbstliche Picknick, Skpegeburtstage, keine Reisen. Es ist die Pest. Aber eines geht: Atmen, die letzten Sonnenstrahlen draussen Genüssen, gute Kaffeetrinken. Lesen. Vertrauen.
So sehe ich das auch. Natürlich ist es die Pest. Aber es ist gewissermassen auch eine Entschleunigung. Weniger Stress, weniger Termine. Die Konzentration auf Wesentliches. Und mehr Freude an den kleinen Dingen: ein schönes Essen, ein guter Wein, Musik. Ich kann nicht reisen, also schaue ich mir Bildbände und Reiseführer an und freue mich, irgendwann dort zu sein. Ich telefoniere stundenlang mit Leuten, die ich schon längst wieder mal sehen wollte. Das ist nicht das gleiche, aber trotzdem sehr schön. Ich gehe spazieren und entdecke Ecken, die ich jahrzehntelang übersehen habe. Da ist plötzlich Zeit, die sonst oft fehlt.