Allgemein

Abgefahren

Als wir damals nach Berlin kamen, hat der J. sein altes Auto verkauft, und wir fuhren die nächsten 15 Jahre Rad, Bahn oder Taxi. In Berlin ist es wie fast überall nämlich sehr praktisch eingerichtet: Wo man schlecht hinkommt, will man meistens auch gar nicht hin.

Mit Kind änderte sich zwar weniger, als alle immer behaupten, aber zu den Änderungen, die vermutlich jeder konstatieren wird, der ein Kind bekommt, gehört das plötzliche Auftauchen des Umlandes. Berlins Umland ist zwar nicht so besonders schön, aber Kinder finden auch mittelmäßig gutaussehendes Landleben unwiderstehlich. Ins Umland kommt man nun aber wirklich schlecht mit der Bahn, deswegen haben wir seit 2014 ein Auto, seit kurzem einen Volvo. Er ist schwarz.

Ich möchte nicht indiskret erscheinen, aber der geschätzte Gefährte hat diesen Wagen wirklich auffallend gern. Ab und zu steht er in unserer Loggia und betrachtet wohlgefällig das am Straßenrand abgestellte, ansprechend gestaltete Gefährt, und wenn wir das Auto alle paar Wochen bewegen, um einen Ausflug zu machen, freut er sich jedesmal aufs Neue, was das Auto alles kann. Alleine Einparken zum Beispiel. Das neue Auto kann zudem auch sehr gut sprechen.

Den F. allerdings lässt das neue Auto komplett kalt. Er wollte nicht mit zum Autohaus. Er erkennt das Auto nicht, wenn es an der Straße steht, und ich gehe jede Wette ein, dass er nicht weiß, wie die Marke heißt, geschweige denn das Modell. Dabei kennt der F. diverse Pharaonen, Cäsaren, Insekten und Saurier mit Vor- und Zunamen, kann Länder auf Karten zeigen, Preise im Supermarkt vergleichen und Flaggen zuordnen und ist beim Memory unbesiegbar, an mangelnder Gedächtnisleistung liegt es also nicht. Er interessiert sich auch durchaus für Windräder, Flugzeuge und Reaktoren, Interesse an Technik ist also auch vorhanden. Man muss vermutlich konstatieren: Er interessiert sich einfach nicht für Autos. Mit den liebevoll aufbewahrten Matchboxautos des J. spielt er übrigens auch nicht.

Das allein würde mich, wäre ich die Autoindustrie, nicht weiter irritieren. Mein Gott, so ein einzelnes Kind in Berlin Prenzlauer Berg. Es gab schon immer Freaks, die Autos doof finden und nur Fahrrad fahren, gerade in großen Städten, in die so ein Automann schon deswegen nie ziehen würde, weil man da Probleme beim Parken hat. Der Umstand aber, dass auch niemand von den F. Freunden sich für Autos interessiert, tja, der ist immerhin bemerkenswert. Ich übertreibe nämlich nicht. Niemand.

Dabei sind des F. Freunde insgesamt schon Jungen, die zu klassischer, wenn auch sehr kleiner Männlichkeit ein eher ungebrochenes Verhältnis pflegen, also Drachen und Ritter sehr interessant finden und Ballet blöd. Ich habe mehrfach versucht, dem F. und seinem besten Freund zu erklären, dass Mädchen nicht wirklich an Einhörner glauben, aber ich dringe da nicht durch. Wenn von seinen Freunden also niemand an Autos ein gesteigertes Interesse zeigt, sind Autos vielleicht wirklich nicht mehr Teil des für kleine Jungen sichtbaren Männlichkeitskonzepts. Als Automanager würde ich zittern, denn die Väter dieser kleinen Jungen fanden vor 30 Jahren Sportwagen unwiderstehlich, fuhren mit ihren Vätern strahlend zur IAA und träumten von der Formel 1. Heute kaufen sie mit schlechtem Gewissen zu große Wagen. Ihre Söhne aber werden niemals Autoquartett spielen.

Nun mag es auf dem Land noch anders aussehen. Berlin ist ein besonderes Pflaster, was Mobilität angeht. Aber Städte waren noch immer die Labore der Moderne, was hier ausgebrütet wird, breitet sich erfahrungsgemäß aus, und so muss man wohl kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass von diesen kleinen Jungen niemand von einem 911 träumen wird, keiner auf eine S-Klasse sparen will und nicht einmal ein Tesla einen der heute Fünfjährigen hinter dem Ofen hervorlockt. Wenn sie Geld für Fahrzeuge ausgeben, dann wird es um Mobilität und Bequemlichkeit gehen, aber dass ein Auto ein Statussymbol sein kann, ein Faszinosum, etwas, für das Leute sparen und für das sie sich sehr interessieren, das geht wohl gerade zu Ende.

Als Automensch würde ich zittern und als Anleger meine Aktien langsam, nach und nach, verkaufen, wenn ich bemerke, dass die Konzerne keine Antworten auf die Frage haben, wie man mit Mobilität Geld verdient, wenn es Leuten egal sein wird, ob sie ein eigenes Auto haben, wie es aussieht, was es gekostet hat, wer es herstellt, und sie irgendwann sogar in Deutschland nicht verstehen werden, was einer sagt, wenn er behauptet: Ich stehe da hinten unterm Baum.

Verblendung

Früher, als ich noch eine bisweilen lustige Rechtsreferendarin war, fuhr ich regelmäßig mit der C. und der J. ein paar Tage weg. Wir aßen auf dem gesamten Kontinent fürchterlich viel, sahen uns an, was Leute irgendwohin gebaut hatten und tranken die geistigen Getränke des jeweiligen Landes. Das war eigentlich immer sehr schön.

Aber wie es geht: Es kamen Männer, die sich dauerhaft festsetzten und sogar zum guten Ende geheiratet wurden. Die C. und ich bekamen je ein Kind. Wir arbeiteten uns alle drei jeweils einen riesengroßen Wolf, und wenn ein Jahr zuende ging, waren wir schon wieder nicht gemeinsam verreist gewesen.

Manche sagen, das wäre ganz normal. Wenn man erst einmal ein Kind hat, schreiben manche Leute ihre Freunde nämlich quasi ab und melden sich da wieder, wenn die Kinder 18 sind. Oder nie. Vielleicht liegt es aber auch an den schrecklichen Gören, die ihren alten, im Falle der J. zumindest derzeit noch kinderlosen Freunden nicht zuzumuten sind. Ich aber, überzeugt von dem hohen Unterhaltungswert, dem guten Aussehen und der Freundlichkeit meines fünfjährigen Knaben, habe mit der lieben J. eine Woche Kroatien gebucht, habe einen Koffer mit Kindersachen und Damenkleidern vollgestopft und bin mit dem F. an der Hand nach Schönefeld gefahren, um dort ein Flugzeug zu besteigen.

Was soll ich sagen. Es war großartig. Die Gegend rund um Split sieht super aus. Der Kleine hat auch gar nicht gestört und ist brav Tag für Tag mit uns endlose Kilometer durch die Gegend gelaufen, um sich alte Steine anzusehen oder Sonnenuntergänge zu bewundern. Zwischendurch hat er lustige Sachen gesagt und manierlich gegessen.

Oder die J. ist zu sehr gute, langjährige Freundin, um mir das Gegenteil zu verraten.

 

Makarska Riviera

Ach, es ist schwierig. Spanien interessiert mich nicht besonders, in Italien war ich gerade, und nach Griechenland werden wir im Herbst wieder fahren. Frankreich liebe ich sehr, aber Frankreich liebt auch der geschätzte Gefährte, und wenn ich schon ohne den J. verreisen muss, dann würde es ihn doppelt schmerzen, führe ich an die Côte d’Azur.

Nach Ägypten wollte der F., aber dort, musste ich ihm berichten, laufen derzeit viele Räuber herum, und aus Angst vor diesen bleiben die Touristen weg, und dann sitzt man ganz allein am Pool und isst das von den demnächst betriebsbedingt entlassenen Köchen zitternd zubereitetes Essen. Dasselbe gilt vermutlich in Tunesien oder Marokko, zudem (aber das sage ich dem F. nicht) nerven mich die immer etwas zu aufdringlichen Verkäufer und Kellner des Maghreb, insbesondere wenn der geschätzte J. nicht dabei ist. Ich glaube, die J., welche auch noch ein paar Tage Resturlaub mit mir gemeinsam verbrät, ist auch keine Freundin dieser Region.

Asien oder Amerika sind für eine Woche zu weit weg. Nach Israel möchte ich länger als nur ein paar Tage. In Nord- und Osteuropa ist es mir im Mai zu kalt, und deswegen sitze ich jetzt hier: An der Makarska Riviera. Kroatien. Ich glaube, wir haben gut gewählt.

Von den Nachgeborenen

Die Stadt ist voller Toter. Sie glänzen als Stolpersteine auf den Bürgersteigen, allein in unserer Straße acht oder neun. Sie hängen als Gedenktafeln an Häusern. Manchmal bemerkt der F., dass die Toten heißen wie seine Freunde, und fragt nach, was sie getan haben, als sie in unseren Wohnungen gelebt haben, auf unseren Straßen herumgegangen sind, und wieso sie sterben mussten, fragt er auch. Wir erzählen ihm Teile der Wahrheit.

Die Stadt ist für einen Fünfjährigen ein Spielplatz, ein Labor, ein Moloch aus fremden Ideen, elektrisierenden Erfindungen, Leidenschaften aller Arten und den unglaublichsten Skandalen. An meiner Hand durchwandert der F. die Stadt, fragt nach Denkmälern und Straßennamen, Königen und Schlachten, und als wir am Sonntag aus dem Naturkundemuseum durch die Chausseestraße kommen, fragt er mich auch. Wer das denn sei, der Mann von der Tafel.

Puh, sage ich und fange an zu erzählen. Dass der Mann Gedichte und Theaterstücke geschrieben hat. Dass er erst viel Ärger hatte, weil er eine andere Regierung wollte, als die, die damals an der Macht war. Dass er im Krieg im Ausland gelebt hat, und dann wieder nach Berlin gekommen ist, als Leute die Regierung bildeten, die er für seine Freunde hielt. Dass ich glaube, dass er am Schluss enttäuscht war und feststellen musste, dass seine vermeintlichen Freunde keine waren.

Es ist schade um die großen Träume, denke ich, aber das sage ich dem F. noch nicht.

Dass seine Frau eine berühmte Schauspielerin war. Dass er geraucht hat. Dass er Frauen mochte, findet der F. gut, der auch Mädchen sehr gern hat und ein bestimmtes Mädchen heiraten will, das sehr gut malen und kämpfen kann, wie er findet. Theater findet er auch gut, und Bücher schreiben hält der F. auch für sehr, sehr toll. Aufgrund eines schwer zu beseitigenden Missverständnisses glaubt der F., dass alle Leute Bücher schreiben, und der einzige Unterschied zwischen erwachsenen Leuten darin besteht, ob diese Bücher ausgedacht sind oder nicht.

Im Innenhof krame ich in meinem Gedächtnis nach einem der Gedichte, um es dem F. aufzusagen. Ich kenne ziemlich viele Gedichte auswendig, weil mein Großvater seine Enkel gezwungen hat, sonntags Gedichte aufzusagen. Brecht war da aber nicht dabei. Schiller und Goethe lernte man damals, Uhland, Eichendorff, so etwas, dabei war das ungefähr 1985 und der arme B. B. schon lange tot.

Es ist ruhig in dem Hof, die Kastanienblätter wippen im Wind. Es sieht ganz unberlinerisch aus, kleinstädtisch, es könnte auch in Augsburg sein oder in einem böhmischen Dorf, und als ich das denke, fällt mir doch das Lied von der Moldau ein, aber das singe ich nicht in diesem leeren Hof unter den geöffneten Fenstern, hinter denen Leute sitzen, die mich hören.

Dass er nebenan auf dem Friedhof liegt, erzähle ich dem F., und der will dann gleich auf den Friedhof. Da stehen wir dann zwischen all den großen Toten, den Brüdern Herzfelde, der zweifelnden, harrenden Christa Wolf und Anna Seghers, Heinrich Mann und seiner schon fast überwucherten Frau, die sein Bruder nicht mochte, der Ruth Berghaus, deren Barbier vielleicht auch der F. noch sehen wird, und dem große G. F. Hegel.

Es ist ruhig hier, grau und maigrün. Auf den alten Steinen flirren die Schatten der Blätter, und als wir vor dem Grab Brechts und der Helene Weigel stehen, knie ich mich neben den F. und singe ihm ganz leise ein paar Zeilen der Marie A. ins linke Ohr.

Ich hätte ihm gern einen schönen Stein aufs Grab gelegt, sagt der F., als wir gehen.

Sommerkind

Es gab, erzähle ich dem F., vier Zelte in diesem Sommer. In jedem Zelt schliefen zehn Kinder. Es gab ein Mädchenzelt und drei Bubenzelte, und etwas abseits der Zelte eine Hütte mit zwei Duschen, zwei Toiletten und einer Kochgelegenheit mit zwei Platten und einer großen Flasche Gas. Vor der Hütte standen lange Bänke, da gab es das Essen.

Ich trug den ganzen Sommer dieselben Shorts und immer abwechselnd einen meiner beiden Badeanzüge in rot und blau. Ich war zehn, ich hatte einen kurzen Pagenkopf und war so braun gebrannt, dass meine Fingernägel wie weiß lackiert aussahen, weil Nagelbetten nicht bräunen.

Es gab, erzähle ich dem F., jeden Morgen Haferflocken mit H-Milch. Wir standen sehr früh auf und ruderten auf den See hinaus, wir schwammen, wir hatten abwechselnd Küchendienst und aßen zwei Wochen lang jeden Mittag im Wesentlichen wechselnde Eintöpfe mit Würstchen aus dem Glas und abends gab es den Inhalt diverser Bundeswehrverpflegungspakete. Ich weiß noch, wie das Schmalzfleisch riecht. Und wie der Früchtereis. Und Schweinefleisch mit Bohnen. Neben den Vorräten stand ein Wäschekorb mit mehligen, leicht angeschlagenen Augustäpfeln vom Bauern nebenan.

Jedes Zelt hatte ein Abzeichen, das hatten wir selbst in den ersten Tagen des Zeltlagers gebaut. Unser Abzeichen war der Delphin. Uns gegenüber waren die Raben, rechts die Wölfe. Das vierte Abzeichen weiß ich nicht mehr. Nachts wurden Wachen eingeteilt, die die Zelte bewachten, damit die anderen das Abzeichen nicht stahlen, vielleicht auch, damit die Füchse nicht an die Vorräte gingen, und wenn man eine gute Freundin hatte wie ich die N., teilte man sich die Nachwachen, saß also zweimal die ganze Nacht auf dem Rasen vorm Zelt und flüsterte seine Geheimnisse einander ins Ohr. Ich habe jedes einzelne Geheimnis vergessen.

Natürlich, erzähle ich dem F., gelang es trotzdem, jedes einzelne Abzeichen zu entwenden. Es war Ehrensache, das Rätsel, mittels dessen man das Versteck des Abzeichens finden konnte, nicht so schwierig zu gestalten, dass die andere Mannschaft ihr Abzeichen nie wiederfinden würde, auch wenn das natürlich ohne Weiteres möglich gewesen wäre, und so waren wir vermutlich sogar noch etwas bestürzter als die Raben, als die ihr von uns verstecktes Abzeichen nicht wiederfanden, dabei war das Rätsel (wir waren uns einig) geradezu lächerlich leicht.

Als unser Abzeichen verschwand, mussten wir nicht einmal suchen, der hölzerne Delphin stand nämlich auf dem Dach der Hütte. Nur die Leiter war weg. Dass ich herausgefunden habe, dass die Leiter unter einer kleinen Brücke versteckt war, macht mich noch heute stolz. Tauchen konnte ich aber nicht so gut, deswegen gehörte ich nicht zu dem Tauchtrupp, der die Leiter holte. Ich weiß aber noch, dass ich die Leiter festhielt, auf der die N. strichdünn und braun und mit fast weißen Haaren auf das Hüttendach stieg und den Delphin holte.

Ich glaube, es war dieser Sommer, in dem ich gleich zweimal die wöchentliche Regatta der Mädchen gewann und ein rotes Sparschwein bekam, das die Sparkasse gestiftet hatte und auf das ich sehr stolz war. Ich weiß noch, wie das Gras roch, in dem wir lagen. Ich weiß, dass wir den Geburtstagskindern Blumenkronen flochten, ich weiß, wie sich die reifen Ähren an nackten Beine anfühlen, wenn man am Feldrain läuft, und ich freue mich darauf, dass auch auf F. in gar nicht wenig Jahren die größten Sommer warten.

Und solltest du nicht in die Ferne reichen

Hell ist der Saal, die Bezüge rot und blau wie in einem sehr modernen skandinavischen Restaurant, ein Eindruck, den das helle Holz noch verstärkt. Der Pierre Boulez Saal wirkt heiter, nachgerade bewegt, auch weil über den Köpfen des Parketts, rund wie ein römischer Zirkus, der Rang in zwei kühnen, geschwungenen Reihen wie eine Berg-und-Tal-Bahn an den Wänden hängt.

Unter uns, gut sichtbar durch das offene Geländer, singt Juliane Banse Schubert. Im neuen Saal soll nach und nach das gesamte Leitwerk Schuberts aufgeführt werden, und so singt sich Frau Banse durch bekannte und unbekannte Lieder, die meist mit Frauen und Mädchen zu tun haben, wie es bei Schubert so zu gehen pflegt: Mehr toten Mädchen als lachenden Frauen, und nach der Pause geht es mit einigen der Goethevertonungen weiter.

Ich habe viele der Lieder sehr, sehr lange nicht gehört oder gelesen. Manche hört man freilich oft, erst vor einigen Monaten etwa Roman Trekels kraftvollen Erlkönig in der Staatsoper, aber gerade die Mädchenlieder das letztemal wohl wirklich 1997. Ich war Studentin an der Universität Bielefeld, diesem akademischen Provinzlabor der versinkenden Bonner Republik, wo weiland Karl Heinz Bohrer ein Seminar über die Lyrik Goethes gab, und als eine damals recht gelangweilte Studentin der Rechte setzte ich mich in das Seminar und beneidete diejenigen, die sich mit Goethe beschäftigen durften und nicht mit Schuldrecht beschäftigen mussten. Ernsthafte Wechselgedanken hegte ich trotzdem nicht, weil mir schon klar war, dass man für eine ernsthafte Karriere in einer Geisteswissenschaft etwas mehr hätte aufbieten müssen, als ich so zu bieten habe, und so ging es sich am Ende ja auch alles recht gut aus. Von Goethe verstehe ich bis heute nicht ein Zehntel so viel wie Bohrer, aber für eine meistenteils recht amüsante Anwaltspraxis reicht’s.

***

Vielleicht war’s im selben Jahr, vielleicht ein Jahr früher, als mich in Bielefeld der O. besuchte. Der O. ist der große Bruder meines lieben Freundes T., ein etwas entfernterer Schulkollege also, nämlich die entscheidenden fünf Jahre älter, über deren Kluft hinweg man sich als Schüler nicht mehr wahrzunehmen pflegt, weswegen wir keinerlei gemeinsame Erinnerungen haben, sondern nur gleichlaufende, aber durchaus zeitversetzte.

An den damaligen Besuch habe ich auch so gut wie keine Erinnerungen. Der O., dessen Gedächtnis um ein Vielfaches besser ist als meins, kann sich gut an lange Gespräche und deren Inhalt erinnern, aber wie wir da so nebeneinander in der Philharmonie sitzen, während Alina und Nikolay Shalamov Mozarts Sonate für Klavier zu vier Händen C-Dur, KV 521, spielen, ein bisschen zu gläsern und körperlos, um noch interessant zu sein, frage ich mich, wo eigentlich alle meine Erinnerungen an diese Jahre zwischen meiner Kindheit und dem Umzug nach Berlin geblieben sind, und ob es schade ist, dass sie mir irgendwann weggerutscht sein müssen, verschüttet unter irgendwelchen anderen Trümmern.

Tunichtssonntag auf dem Sofa

Es gehört zu den subtileren Formen elterlicher Angeberei, die (meist mütterliche) Erschöpfung in drastischen Farben auszumalen. Da wurde dann angeblich seit Jahren nicht mehr auch nur ein einziges Wochenende ausgeschlafen, an ungestörtes Bücherlesen oder Duschen wäre nicht mehr zu denken, die Wohnung von den Kindern bis in die letzte Ecke okkupiert, ausgegangen würde auch nicht mehr, auf dass das geneigte Publikum erschaudernd vor diesem schier unglaubliche Grad elterlicher Selbstaufgabe bewundernd die Köpfe neige. Erstaunlicherweise funktioniert zumindest im virtuellen Raum diese an sich etwas billige Strategie offenbar ganz gut, zumindest klopfen sich die beteiligten Mütter in den Kommentaren einschlägiger Blogs gegenseitig stundenlang auf die Schultern, Heldinnen allesamt.

Ich dagegen habe nach Ansicht dieser Märtyrerinnen des häuslichen Lebens vermutlich irgendetwas falsch gemacht. Oder mein Kind ist komisch. Jedenfalls habe ich heute bis halb zehn ausgeschlafen, während der fünfjährige F. ab einem unbekannten Zeitpunkt im Schlafanzug Müsli gegessen und ein Legoraumschiff gebaut hat. Dann habe ich das Schostakowitsch-Buch von Barnes zuende gelesen und sehr gemocht, immer noch im Bett Kaffee getrunken und bin sehr, sehr langsam aufgestanden. Der F. hat währenddessen seine Hörspiele gehört, kam ab und zu ins Schlafzimmer und unterhielt sich mit mir über Eisbären, ausziehbare Feuerwehrleitern und das Höchstlebensalter von Nutztieren und verschwand dann jeweils wieder in seinem Zimmer.

Auf dem Sofa im Wohnzimmer lag der geschätzte Gefährte J., schaute Serien und las. Wir hatten gestern sehr lange Besuch, deswegen sah die Wohnung noch so ein bisschen schlimm aus, dafür gab es heute noch Reste des Essens von gestern, Eis, Kartoffelgratin und eine Möhrensuppe von Zuckerzimtundliebe. Vom Huhn, Radicchio und der Mousse au chocolat war leider nichts mehr da.

Später am Tag gingen wir spazieren und brachten Freunden am Kollwitzplatz ein bisschen afrikanischen Kaffee vorbei, von dem wir einen Riesensack geschenkt bekommen haben. Es war regnerisch und kalt, der F. hatte nach kürzester Zeit keine Lust mehr, deswegen fuhren wir mit der Tram zurück. Ich badete ausführlich und schlief. Im Halbschlaf hörte ich den F. Klavier üben. Dann baute er sich eine Höhle.

Abends nahm auch der F. ein Bad, sah in der Mediathek die dieswöchige Sendung mit der Maus und sprach beim Abendessen, japanischen Nudelsuppen, die uns der Lieferdienst foodora nach Hause brachte, über die Herstellung von Kunststoffen und den zweite Weltkrieg. Im Bett las ich ihm zwei Kapitel aus einem Buch der von ihm überaus geschätzten Kinderbuchreihe „Das magische Baumhaus“ vor, in dem der junge Mozart auftaucht. Wenige Minuten später fiel er in Tiefschlaf.

Hier sitzen wir nun. Der J. sieht einen Film. Ich lese im Netz. Von gestern haben wir noch einen Rest Weißwein, ein Riesling Kabinett, 2015, von K. H. Schneider. Dann gehe ich wieder schlafen. Ich lese von Rudolph Herzog „Truggestalten“, so ein Buch über Berliner Gespenster, und lösche das Licht noch vor Mitternacht. Irgendwo in der Dunkelheit da draußen japsen die von den wochenendlichen Strapazen total erschöpften Netzübermütter nach Luft und fallen in einen kurzen, ständig von weinenden Kindern gestörten Schlaf, der dann irgendwann in den sehr frühen Morgenstunden endet, wenn sie mit den Hühnern aufstehen, welche, sieht man ganz genau hin, hin und wieder herzhaft lachen.

Wo bist Du, mein Golem?

Am Tag gehört auch Prag den anderen Leuten. Am Tag haben die Prager Anzüge an oder Kleider von Topshop und Ralph Lauren und verschwinden fast zwischen all den anderen, die auch durch die Stadt laufen, um alles zu photographieren und so viel Bier zu trinken wie wir. Wenn es aber dunkelt hebt und senkt sich das Pflaster der Stadt. Am Grunde der Moldau mögen die Steine wandern, doch in den engen Gassen wandern die Toten umher, tragen Kutten und lederne Wämser, zerfallende Anzüge mit seltsamen Kragen, kurze Hosen aus Asche und lange Kleider aus mürbem, staubigen Gold.

Auf dem alten Friedhof sitzen die Toten auf ihren Gräbern und recken die weißen Finger ins Mondlicht. So viel Leben weht ungelebt voller Sehnsucht im Wind. Am Tag ist es schon warm heuer im März, aber bei Nacht zähle auch ich all meine fehlenden Stunden. Wo bist du, mein Golem, rufe ich über die Friedhofsmauer bis zur Parisžka, und sage mir lautlos meinen Zauberspruch vor.

Alles über seine Mutter

Als Vater macht man ja schon fast alles richtig, wenn man einmal die Woche von der Kita abholt und weiß, wie die Erzieherin heißt. Eine Mutter, die sich in exakt diesem Umfang engagieren würde, würde von den anderen Müttern zum Zeichen ihrer abgrundtiefer Verachtung vermutlich gesiezt. Doch nicht nur die anderen Mütter beobachten das mütterliche Engagement ganz genau. Auch die Kinder selbst führen, ich weiß das genau, eine geheime Buchführung.

Anders als die anderen Mütter glauben, geht es dabei nicht um selbstgenähte Kostüme oder selbstgebackene Kuchen. Am ehesten kann man die intensive Beobachtung vermutlich mit dem Verhältnis eines Ornithologen zu einem ganz besonderen Vogel vergleichen. Der F. etwa hat schon mehrfach gefragt, wie groß ich bin, und erst kürzlich versucht, einen Blick auf das Display meiner Waage zu werfen. Ich bin dann schnell abgestiegen, um zu verhindern, dass nicht nur der F., sondern die ganze Kita mein Körpergewicht kennt und sich ungläubig weitererzählt, wie schwer eine ganz normalen Frau werden kann. Ich bin nämlich, das nur am Rande, die dickste Mutter der ganzen Kitagruppe.

Ansonsten recherchiert der F. vorwiegend mittels ausgefeilter Interviews. Meine Lieblingsfarbe. Was ich am liebsten esse. Mein Lieblingstier. Tassen, die ich nicht mag. Wovor ich mich fürchte. Mein Lieblingsbuch als Kind. Welches Denkmal in Berlin gefällt mir am besten. Ergänzend zu bohrenden Fragen beobachtet der F. sein Studienobjekt. Das geht manchmal auch schief, so glaubt der in meinem Büro ja nicht anwesende F. wirklich, ich äße am allerliebsten Salat und Gemüse und könne Schokolade nicht leiden. Seinen vorläufigen Höhepunkt allerdings fand die Recherche kürzlich, als ich morgens davon erwachte, dass der F. mit seinem neuen Zollstock versuchte, meine Füße zu vermessen.

Bisweilen fürchte ich bei solchen Gelegenheiten, dass der F. eines Tages aus den Ergebnisse seiner Forschung eine mehr oder weniger schonungslose Veröffentlichung machen wird, mit der ich dann leben muss. Dann aber fällt mir ein: Es wäre nur fair, würde er eines Tages über seine Mutter einen fiesen Roman verfassen.

Oder ein kleines, milde spöttisches Blog.

Von schlechten Eltern

Dreijährige Kinder der Mittelschicht haben einen dreimal größeren Wortschatz als Kinder der Unterschicht, behauptet Wikipedia. Arme Kinder sind schon im Vorschulalter im Durchschnitt auch dicker, weniger gesund und können sich nicht so gut konzentrieren. Die Chance, dass sie eines Tages Senatsvorsitzende am Bundesgerichtshof sein werden, Ingenieur im Wasserwerk oder auch nur Bankangestellter sind deswegen schon mit drei viel schlechter als die anderer Kinder. Das ist ein seit Jahren bekannter und beklagter Skandal.

Dass die politische Rechte nichts für die Kinder armer Leute unternimmt, wundert nun keinen. Parteien dienen – das ist ja auch nicht illegitim – der Durchsetzung von Klientelinteressen, und arme Familien gehören nicht zum Klientel konservativer Parteien. Auf der Linken sieht das anders aus. Sowohl linke Parteien als auch Verbände, linke Journalisten, das, was man so die Zivilgesellschaft nennt, erhebt einen ganzen Strauß an Forderungen. Die meisten finde ich logisch und richtig. Ganztagsschulen etwa, in denen das, was die Eltern nicht leisten, durch eine gute Nachmittagsbetreuung aufgefangen wird. Gut ausgestattete Kitas für alle ab dem ersten Geburtstag und attraktive Freizeitmöglichkeiten, die nichts kosten.

Mit diesen Forderungen, dass doch der Staat endlich etwas für arme Kinder unternehmen soll, ist allerdings fast immer eine Forderung verbunden, die ich erstaunlich finde: Man dürfe auf keinen Fall, also absolut nicht, die Eltern verantwortlich machen. In der Wahrnehmung der Linken scheinen die Eltern mit der Misere nichts zu tun zu haben. Offenbar sieht man da die Verantwortung für die unzureichende Situation allein beim Staat, bei der Gesellschaft, fiesen Pfeffersäcken, gemeinen Lehrern, bei wem auch immer, aber wer auch nur einen Löffel Verantwortung bei den Eltern sieht, gilt als böse. Oder, wie man in diesen Kreisen sagt: als neoliberal.

Nun verstehe ich, dass man zu ohnehin auf dem Boden Liegenden freundlich sein will. Aber sind Eltern nicht immer und unter allen Umständen ihren Kindern verpflichtet? Und ist nicht auch der ärmste Kerl, die ärmste Frau in Hinblick auf die eigenen Kinder nicht immer auch Täter statt Opfer? Wenn die Ursache für die schlechtere Sprachentwicklung von Kindern mangelnde Ansprache ist, dann muss doch nicht die Gesellschaft mehr mit dem Kind sprechen, sondern die eigenen Eltern. Wenn es allgemein bekannt ist, dass Vorlesen den Bildungserfolg fördert und ein eigener Fernseher ihn hemmt: Dann steht in jeder Gemeinde eine meist nahezu gratis zu nutzende Bücherei, und niemand zwingt Leute, einen Fernseher zu besitzen oder gar den Kindern ein solches Gerät ins Kinderzimmer zu stellen. Ich verstehe, wie schade es ist, wenn man nicht reisen kann. Aber viele Dinge, die eine glückliche Kindheit ausmachen, sind nahezu kostenlos. Brot backen zum Beispiel. Spazierengehen und sich Geschichten über alle Leute ausdenken, die man sieht. Und über alle Häuser. Wer in Berlin kein Geld hat, darf übrigens für sehr wenig Geld in Museen, und selbst wenn es Mutter und Vater selbst wenig interessiert, sollte es doch reichen, dass die Kinder Mumien und Gemälde vielleicht spannend finden.

Es kostet auch nichts außer ein bisschen Überwindung, seinen Kindern zu vermitteln, dass sie alle Chancen haben, auch wenn Mutter und Vater ihre nicht gut genutzt haben. Manieren. Eine Blockflöte kostet übrigens keine 20 €, und bei youtube kann man sich gemeinsam mit seinen Kindern erschließen, wie man sie spielt. Mein Sohn liebt übrigens mehr als nahezu jede kostenpflichtige Beschäftigung die Abende, an denen ich mit ihm am Tisch sitze und mit einem Kugelschreiber lustige, ziemlich läppische Geschichten illustriere, die ich mir ausdenke. Niemand hindert auch eine arme Mutter, jeden Tag über die Schule zu sprechen, zu fordern, zu loben, aber auch zu tadeln und einem Kind zu verdeutlichen, wie wichtig es für die Eltern ist, dass der Übertritt aufs Gymnasium geschafft wird, wie entscheidend jede Nachkommastelle beim Abitur. Es ist sicher nicht leicht, Würde auszustrahlen, wenn es einem nicht gut geht. Aber wenn es um das eigene Kind und seine Vorstellungen von Normalität geht, sollte man vielleicht doch jeden Tag morgens aufstehen. Aufräumen. Haltung bewahren und behaupten, man liebe Spieleabende und Linsensuppe und gehe eigentlich gar nicht gern aus.

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Es mag Menschen geben, die all das beherzigen, und ihre Kinder entwickeln sich trotzdem nicht so gut wie Angehörige weniger bedrängter Vergleichsgruppen. Es gibt gesellschaftliche Diskriminierung und das ist eine Schande. Die Statistik spricht aber dafür, dass viele Eltern von den Handlungsalternativen, die ihnen bleiben, oft nicht die besseren wählen. Warum diese Wahl ad malum den Eltern nicht vorwerfbar sein soll, hat mir noch kein Linker erklären können. Wieso diese offenbar entscheidenden Weichenstellungen anders ausfallen sollten, wenn dieselben Eltern mehr Geld bekommen, verstehe ich auch nicht. Leute sprechen doch nicht auf einmal mehr mit ihren Kindern, gehen Sonntags mit ihnen wandern und werfen den Fernseher weg, weil sie pro Kind mehr Geld bekommen? Es mag sein, dass sie sich mehr entspannen und ihr Leben mehr genießen, vielleicht reicht das schon als Rechtfertigung für diese Erhöhung der Staatsausgaben. Aber vielleicht macht man es sich auch zu bequem, wenn man den anonymen Staat und nicht die ganz und gar nicht anonymen Eltern der Misere beschuldigt. Vielleicht fördert man sogar eine Haltung mancher Eltern, Hilfe nur von außen zu erwarten. Vielleicht ist die Verantwortungsfrage am Ende auch nur halb so wichtig, weil wir nicht daran vorbeikommen, in Kitas, Schulen, Vereine, Lesepatenschaften, Kinderbauernhöfe und Sommercamps zu investieren. Aber geärgert habe ich mich über diesen Text von Julia Friedrichs über Kinderarmut doch. Sehr. Sehr.