Wenn mich nicht alles täuscht, sind die Thais in den letzten zehn Jahren dicker geworden. Ich aber auch. Das Verhältnis stimmt also wieder. Anders als damals, als ich Walross Referendarin in Bangkok war, stört es mich aber nicht mehr so.
So durchgängig gut wie in Asien schmeckt es mir nirgendwo sonst. Ich esse den ganzen Tag, morgens Nudelsuppe, mittags Pad Siiew und abends gegrillten Thunfisch. Dann eine ganze Tüte Seetang auf dem Sofa.
Wegen des F. haben sich unsere Urlaubstage extrem verkürzt. Wir schlafen immer noch lange, gehen aber meistens abends mit dem F. zu Bett. Der Tag dauert also von morgens um zehn bis abends um acht, so eine Art Lese- und Schlafkur. Gar nicht schlecht.
Am Pool und im Bett noch ein weiterer Nancy Mitford und die Frage, wieso die deutsche Unterhaltungsliteratur eigentlich so viel schlechter ist. Oder fließt die ganze mittelliterarische Energie in Krimis, die ich nicht lese?
Abends dann nach dem Essen über den Strand. Chong Moen Beach ist nahezu leer. Ein paar Spaziergänger, zwei Händler, die Feuerwerk und Laternen verkaufen. Das Meer und der Himmel in Abstufungen von Schwarz, die Sterne gestochen scharf. Irgendwo, Ahnungen und Schatten, die nächsten Inseln. Der F., wie er über den Strand läuft, beide Hände voll Sand, und dann auf dem Arm des J. nach oben zeigt. „Da Terne! Oben! Groß!“, freut er sich und jubelt, und für ein paar Minuten bin ich still und dankbar, dass mein Leben so ist, wie es ist, mit allen Wonnen der Gewöhnlichkeit.
Es sei, sagt der Mann hinter dem Air Berlin-Schalter in Tegel, leider ausgebucht, und schiebt bedauernd die Unterlippe nach vorn. Oje, sage ich und betrachte betrübt meinen kleinen Kerl. Bis Bangkok mit Kind auf dem Schoß wird kein Spaß. Der F. ist nämlich noch keine zwei und hat deswegen keinen eigenen Sitz. Immerhin kostet sein Flug deswegen aber auch nichts.
Dann aber sitzen wir doch bis Abu Dhabi in der ersten Reihe und der F. steht, sitzt oder liegt meistens vor uns. Da ist nämlich noch ein bisschen Platz, weil vor uns eben die Wand und keine zweite Reihe steht. Bis auf den fetten Kerl neben mir ist deswegen alles gut. Auf dem Anschlussflug mit Etihad von Abu Dhabi nach Bangkok bittet die Stewardess die Leute hinter uns, bei denen noch was frei ist, mit uns zu tauschen. Da sitzen wir dann, eine ganze Reihe für uns, und der F. schläft auf gleich zwei Sitzen zwischen uns in der Mitte. Auf dem letzten Teilstück nach Koh Samui mit Bangkok Airways bekommen wir einen eigenen Sitz für den F., stets erhält auch der F. etwas zu essen und sogar ein eigenes Baby Kit mit Spielzeug und Lätzchen, und ich schwöre mir im Stillen, nie wieder Lufthansa zu fliegen, die auf dem Weg von und nach Menton im September für den F. weder Platz noch ein eigenes Essen hatten, weil wir das ja auch nicht bezahlt hatten. Die Stewardess damals füllte schon das Trinkfläschchen sichtbar ungern. Kurz fällt mir noch der Bekannte ein, der letztes Jahr mal auf eine längere Reise Business mit der Lufthansa fliegen und seine zwei Kinder mitnehmen wollte. Die Reaktion bei der Frau hinterm Schalter sah Entsetzen wegen der armen Geschäftsreisenden schon ziemlich ähnlich.
Wenn Du meinst, dass du dir das leisten kannst, Lufthansa, verabschiede ich mich für vermutlich alle Zeiten. Neben mir torkelt der F. dem Gepäckband in Koh Samui entgegen, und todmüde lassen wir uns zum Imperial Boathouse fahren.
Wir sind ja alle Kleinstadtkinder. Wir sind irgendwann in den letzten 20 Jahren aus unseren westdeutschen Käffern nach Berlin gezogen, um Berliner zu werden. Umgekehrt ist Berlin natürlich auch ein bisschen so geworden wie wir. Also so ein Ort, in dem Leute im Chor singen, sich gegenseitig fragen, was sie für den Weihnachtsmarkt in St. Immanuel mitbringen und neuen Nachbarn Kekse und Milch vorbeibringen. So ungefähr begannen auch die Beziehungen des K. zu den neuen Nachbarn, über die er relativ schnell berichtete, sie seien Russen, aber sehr nett.
Wir lachten alle über das „aber“ und vergaßen die neuen Nachbarn sofort. Erst Monate später tauchten die Russen von nebenan wieder in den Erzählungen des K. auf, denn diese hatten einen Sohn. Jener ist ungefähr im selben Alter wie der Sohn des K., also heute so circa sechs oder sieben, und zunächst freute sich der K., dass die Buben sich gut verstanden. Was für den schon eher etwas vorsichtigeren K. schwer ins Gewicht fiel: Endlich hatte sein Sohn jemanden zum Spielen, der besucht werden konnte, ohne dass das Haus verlassen und Straßen überquert werden müssen. Der K. lebt nämlich zwar schon seit über zehn Jahren in Berlin, hat aber nie aufgehört, sich vorm Großstadtverkehr ein wenig zu fürchten, selbst wenn es den am Arkonaplatz am Rande des Prenzlbergs eigentlich gar nicht gibt.
Nach einer Weile jedoch verdüsterte sich das Bild. Zwar war der kleine Russe von nebenan weiter ein häufiger Gast. Der K. sah sein Kommen aber nicht mehr mit der selben Sympathie, denn zwischenzeitlich hatten sich beide Kinder ein neues Hobby beigelegt. Sie spielen nun Schach. Das Problem an der Sache: Der Kleine von nebenan spielt viel besser – also viel, viel besser – als der Sohn des K. Er gewinnt deswegen praktisch immer. Zu alledem gewinnt er nicht dezent, sondern so, wie es eben die Art der Sechsjährigen ist: Er jubelt. Er reisst die Arme hoch. Neulich ist er zwei Runden um den Esstisch gelaufen und hat dabei eine Art Indianergeheul ausgestoßen. Zu allem Überfluss rühmt er sich seine Siege mit einer Strichliste.
Sinnvoll wäre es sicher, der Sohn des K. würde mit dem Nachbarskind schlicht nicht mehr Schach spielen. Oder zumindest aufhören, sich zu ärgern. Der Sohn tut nun aber weder das eine, noch das andere. Er spielt immer weiter, er verliert immer weiter und er ärgert sich jedesmal. Der K. ist machtlos.
Nun ärgert der K. sich schon über die stete Störung des Familienlebens, die entsteht, wenn jeder Besuch des Nachbarsjungen in Tränen endet. Der Tag ist dann jedesmal gelaufen. Außerdem entwickelt sein Sohn langsam so eine Art Fixierung, liest Schachbücher und übt mit einer Chess-App, die er seinen Vater auf das Familien-iPad herunterzuladen gezwungen hat. In der Zeit kann dann natürlich niemand anders ans iPad. Das alles würde der K. zwar noch verschmerzen. Was aber wirklich schmerzt: Der K. und seine Frau gehören zu denjenigen Menschen, die glauben, dass Kinder ausgesprochen zarte Pflänzchen und Frustrationserlebnisse für Kinderpsychen veheerend seien. Deswegen bejubeln sie mehr oder weniger alles, was der Junge so treibt, und tadeln ihn immer nur ganz vorsichtig, damit er keine Komplexe bekommt und später einmal komisch wird. Wie aber, fragt sich der K. nun, soll sich nun ein so grauenhaftes Frustrationserlebnis auswirken wie das stetige, hoffnungslose Verlieren im Schach gegen den kleinen Russen von nebenan. Möglicherweise, so glaubt der K. heute, wäre großstädtische Anonymität gegenüber speziell diesen Nachbarn doch die bessere Alternative gewesen. Aber wer kann das vorher schon wissen.
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