Bewegte Bilder

Food Inc.

Berlinale 2009

Es muss Leute geben, die kaufen Kartoffeln in Scheiben. Im Glas. Es gibt Menschen, die tauchen mit tiefgefrorenen Tortellini in Sahnesauce, Kohlrouladen in Dosen, abgepackten, fertig gefüllten Pfannkuchen und tiefgekühlten Salamibaguettes an der Supermarktkasse auf, bezahlen für das Zeug mehr als ich oder jeder andere normale Mensch für ökologisch erzeugte Kartoffeln, Tomaten, Käse, Eier und Salat, und ich möchte wetten, dass diese Leute dieselben sind, die, nach ihren Ernährungsgewohnheiten gefragt, in Umfragen stets behaupten, gesundes Essen sei ihnen zu teuer.

Dass aber der Inhalt eines solchen Einkaufswagens nicht nur viel zu fett, viel zu reich an Nahrungszusatzstoffen, viel zu süß und viel zu viel ist für einen normal bewegungsarmen Mitteleuropäer ist. Dass vielmehr auch die Ausgangsprodukte dieser (zudem nicht besonders anziehenden) Speisen auf eine Art und Weise produziert werden, die qualvoll für die Tiere, demütigend für die Arbeiter in Fabriken und Schlachthöfen und ruinös für die Umwelt und die Bauern ist, ist den meisten Menschen zwar halbwegs bekannt. Gleichwohl verliert der genaue Blick auf die industrielle Nahrungsmittelindustrie nichts an Ekel und Schrecken: Die Hühner, die fußballrund und viel zu schnell gewachsen wegen ihrer besonders fleischigen Brustfilets nach vorn kippen, wenn sie versuchen, aufzustehen. Die Schweine, die zu je 2.000 pro Stunde in einem riesigen Schlachthof getötet werden. Die Arbeiter, die sich illegal in den USA aufhalten und aus Angst vor Abschiebung keine Arbeitnehmerrechte geltend machen. Die Kinder, die an den Folgen einer rein ertragsorientierten Wirtschaftsweise krank werden und sterben, weil Bakterien ins Burgerfleisch geraten. Kühe, die genetisch veränderten Mais fressen statt Gras (laut einem Artikel in der ZEIT von dieser Woche vertragen diese Kühe gar kein Gras mehr). Die hochverschuldeten Bauern, die von Saatgutherstellern abhängig sind wie Leibeigene vom Lehnsherrn und bei aller Plackerei im Jahr gerade einmal $ 20.000 verdienen. Am Ende der Kette dicke Kinder und kranke Erwachsene.

Gute und starke Bilder findet der Filmmacher Robert Kenner für den Skandal, den das Essen aus dem Supermarkt vielfach darstellt. Die Erklärungen und Hintergrundinformationen der Sachbuchautoren Michael Pollan und Eric Schlosser flankieren die Berichte der Bauern, des Gewerkschafters und der Lebensmittelaktivistin, und die Geschichten, die der Film dabei am Rande miterzählt über die verratenen Träume der illegalen Einwanderer und das Ende des ländlichen Amerika wären – man ahnt es – allein wert, einen Abend oder viele zuzuhören, um zu verstehen, wie diese Welt so geworden ist, wie wir sie kennen.

Dass aber die Welt der Nahrungsmittelproduktion anders aussehen könnte, sehen wir auch, illustriert anhand von Biobauern und Handelsketten auf der Suche nach anderem Essen. Dass dies teuer wäre, für viele nicht zu bezahlen, ist allerdings eine weitere Behauptung, die der Film erhebt, indem er eine Familie beim Kauf von Fast Food für $ 10,– zeigt, die steif und fest behauptet, für besseres Essen reiche das Geld nicht, und hier folge ich dem ansonsten großartigen Film nicht. Denn ich kann wie jeder andere, der kochen kann, für $ 10,– vier Leute problemlos satt bekommen, ohne auf einziges verarbeitetes Lebensmittel zurückzugreifen, Kochbücher könnte man füllen mit Rezepten, die dies ermöglichen, und so schwächt der Film die vielleicht entscheidende Wahrheit trotz dringenden Qualitätskaufappells im Nachspann leider ab: Wir selbst – niemand sonst – haben es in der Hand, wie mit Boden, Wasser, Tieren und Luft umgegangen wird. Wir müssen nicht essen, was in der Tiefkühltruhe liegt, und dann werden die Produzenten aufhören, derlei Dinge herzustellen. Wir können selber kochen, wir können besser einkaufen. Zudem: Wir brauchen meistens kein Auto und niemals einen Flachbildfernseher, aber schlechtes Essen bringt uns auf die Dauer um. Es ist unsere Schuld, wenn Nahrung so hergestellt wird, wie der Film es zeigt, und niemand wird Menschen von der Gier freisprechen, Schnitzel für € 2,99 zu verlangen, die nur unter den gezeigten Bedingungen produziert werden können.

Und nicht zuletzt (das thematisiert Food Inc. leider nicht): Wir sollten nur Aktien von Firmen kaufen, von denen wir wissen, dass ihr Gewinn uns oder anderen nicht schadet. Denn alle Unternehmen, die hier als gierige, rücksichtslose Profitmaschinen auftauchen, gehören am Ende Aktionären. Man sollte ein bisschen drauf schauen, was die Unternehmen, denen man sein Geld gibt, aus dem Auftrag machen, noch mehr Geld zu verdienen.

Food Inc.
USA 2008
Noch einmal am Montag, um 18.00 Uhr

Seishin (Mental)

Berlinale 2009

Ein einziges Mal in 135 Minuten schaue ich auf die Uhr. Ein Patient der Chorale-Klinik in Okayama sitzt mit anderen Patienten zusammen, man liest seine Gedichte, immer noch eins, eins schlechter als das andere, soweit man das nach der Übersetzung beurteilen kann. Hier hätte man kürzen können, vielleicht auf 90 Minuten, vielleicht auf 100, aber möglicherweise wäre dies der sehr, sehr verlangsamten Welt nicht gerecht geworden, die der Filmemacher Kazuhiro Soda hier dokumentiert: Eine offene Klinik für psychisch Kranke in einer japanischen Stadt.

Kommentare, Erklärungen oder auch nur Soda selber sucht man dabei auf der Leinwand vergeblich. Nach dem Film spricht er kurz über Motivation und Hintergründe und wirkt dabei sehr jung und auf eine freundliche Weise radikal. Im Fim aber lässt Soda einfach nur die Kranken sprechen, Schizophrene, Depressive zum Teil, daneben das Personal der Klinik, den Arzt, und aus vielen, vielen Einzelszenen, langen Monologen über teilweise beklemmende und tragische Lebensgeschichten setzt sich ein Panorama zusammen, das der japanischen Gesellschaft ein zwiespältiges Zeugnis ausstellt: Die Humanität des Projekts, speziell des alten, verständnisvollen gütigen Arztes, auf der einen und die pathogenen Züge einer hochgezüchteten, viel zu schnellen Leistungsgesellschaft auf der anderen Seite, die der unseren wohl nicht so arg unähnlich ist, denke ich bei mir, als wir spät, sehr spät vom Alexanderplatz nach Hause laufen, denn auch vor uns versteckt das Gesundheitssystem Krankheit, psychische mehr noch als körperliche, und schließt die Kranken fern der Städte weg.

Seishin
Japan, 2008
Noch eine weitere Vorstellung, Montag, 16.00 Uhr.

Nachtrag: Hier noch ein Link zum Blog von Kazuhiro Soda.

Countdown

Der J. trödelt. Der J. sucht in der ganzen Wohnung nach seinen Schuhen, verwirft die schwarzen mit der Ledersohle aus Witterungsgründen, hält zwei andere Paare prüfend nebeneinander, und bindet mit aller Gemächlichkeit schließlich das ausgewählte Paar zu. Eingepackt in eine Barbourjacke mit Fell, eine rote Pashmina und warmen Stiefeln stehe ich an der Tür. Die Handschuhe habe ich schon wieder ausgezogen. Es ist 18.35.

Auf der Schwedter Straße ist kein Vorankommen. Unruhig rutsche ich auf dem buckelig-vereisten Bürgersteig hin und her. Zwanzig Meter hinter mir, seelenruhig mit den Händen in den Taschen, spaziert der J. zur U-Bahn. Wir hätten doch noch 35 Minuten, wehrt der geschätzte Gefährte jede Eile ab.

„Ja, eben!“, bemühe ich mich, nicht hier an Ort und Stelle auf der Ecke zur Schönhauser zu explodieren. Es gelingt eher mäßig. Um 19.15, halte ich ihm vor, seien wir vorm Haus der Berliner Festspiele verabredet, welches sich bekanntlich am anderen Ende der Welt befindet. Außerdem haben wir die Karten, auch für die J. und die C.

Um 18.41 verpassen wir die Bahn. 19.17 wären wir mit dieser Bahn – inklusive Umsteigen – am Bahnhof Spichernstraße gewesen, das geht nun nicht mehr, und deswegen steigen wir am Alex aus. Es ist 18.55. So schnell es geht, laufe ich über den Platz, an Kaufhof vorbei, im Slalom um Passanten herum, die in hellen Heerscharen einfach so auf dem Alexanderplatz herumstehen. Aufreizend gemütlich schlendert der J. hinterher. Vor der S-Bahn warten die Taxen.

Um 19.02 fährt das Taxi los. Es werde knapp, teilt der Fahrer mit, denn am Potsdamer Platz demonstrieren irgendwelche Leute gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen. „Das ist mir egal! Wir haben es eilig!“, rufe ich aus, und der Fahrer fährt ein wenig zusammen. „Zentrale – hat sich die Demo am Postdamer Platz aufgelöst?“, fragt er über Funk an. Gott sei Dank. Die Demo ist vorbei. Der J. sieht mich strafend an. Diese verfluchten Ausbrüche, kann ich es ganz deutlich auf seiner Stirn geschrieben sehen.

Als wir im Foyer stehen, ist keiner da. Es ist 19.18, weder die J. noch die C. warten, und dass die C. auch nicht in allernächster Zukunft eintreffen werde, teilt sie per SMS mit. Sie brauche noch zehn Minuten. Inzwischen ist wenigstens die J. erschienen. Außer uns ist ganz Westberlin da. Der Altersschnitt liegt deutlich über vierzig. Das Foyer ist voll und vor den Garderoben drängeln sich ältere Herren mit den Mänteln ihrer Frau.

Es läutet. Die C. ist noch nicht da. Um 19.29 gebe ich ihre Karte am Einlass ab. Um 19.30 geht der Gong zum zweiten Mal. Um 19.31 rauscht die C., ohne den Einlass auch nur eines Blickes zu würdigen, durch die Tür. Mit offenen Mündern stehen die Einlasswärter und sehen der C. nach. Kreidebleich – sie muss gerannt sein – lehnt die C. an der Holzvertäfelung und japst ihre Anginaviren in die warme Luft. Den Mantel behält sie an.

Hinter uns schließt sich die Tür und parallel zum Erscheinen der Schauspieler drücken wir uns unter halblauten Entschuldigungen durch die Reihe. Tut mir leid, flüstere ich ungefähr sechs- bis siebenmal. Dann geht es los. Ullrich Matthes spricht. Und ja – der Onkel Wanja ist tatsächlich so grandios, wie alle sagen.

Erwartung

Bevor der Abend losgeht zu Fuß die Schönhauser Allee abwärts und in der Volksbühne auf weißen Plastikstühlen sitzen. „Das ist sonst immer auf der großen Bühne.“, sagt am Ende das Mädchen am Ausgang, als wir mittendrin gehen, weil man die Schauspieler weder sieht noch hört. Macht doch nichts, behaupten wir und laufen zurück, die Schwedter Straße hoch und sitzen ein, zwei Stunden bis es weitergeht, allein im Visite ma tente, trinken viel zu viel Crémant, erzählen uns kichernd Geschichten über andere Leute und uns selbst und prosten uns lachend zu auf die Jahre, die schon waren und noch kommen, lassen uns hochleben, als stünde das Beste noch bevor, und als warte die Stadt, die Nacht, dieses Leben mit Kelch und Fanfaren und wehenden Fahnen nur auf uns, und ganz besonders im kommenden Jahr.

Vom Wetterleuchten der Vergeblichkeit

Deutsches Theater in der Volksbühne, 23.12.2008

Irgendwann, so gegen Ende, wurde das 19. Jahrhundert seiner selbst sterbensmüde. Der soziale, technische oder medizinische Fortschritt hatte mehr Sicherheit mit sich gebracht, weniger Menschen waren gezwungen, den ganzen Tag an nichts anderes als an ihr Überleben zu denken, aber statt dass die Menschen glücklicher wurden, wurde ihnen nur langweilig.

Vielleicht war die Langeweile in einer Hinsicht sogar noch unangenehmer als die Angst und die Unsicherheit, denn ein Kranker oder Hungriger kann meist sehr genau sagen, was passieren muss, damit sich sein Leben verbessert. Ein kluger Gelangweilter jedoch weiß meist ganz genau, dass nichts, was geschehen könnte, die Langeweile beendet. Er ist am Ende aller Hoffnung angekommen. Der Hoffnungslose aber hat wenig Grund, weiterzuleben, und so ist der Schuß durch den eigenen Kopf am Ende von Tschechovs Möwe wohl nicht Ausdruck eines pathologischen, aber temporären Aufregungszustandes Kostjas, sondern dass, was man gemeinhin als einen Bilanzsuizid bezeichnet: Die Selbsttötung als rationale Konsequenz des unabänderlichen Scheiterns.

Dass Kostja als ein am Ende erfolgreicher Künstler verzweifelt und stirbt, gehört zu den genialen Zügen der Möwe, die der Autor als Komödie bezeichnet hat, obwohl im gesteckt vollen Raum der Volksbühne (das Deutsche Theater wird gerade renoviert) keiner lacht. Überhaupt sind die Erfolgreichen ebenso hoffnungslose Fälle wie die, denen Zufall wie Schicksal den Erfolg nicht vor die Füße gelegt haben. Die Arkadina ist nicht glücklicher als die erfolglose Schauspielerin Nina, ihr Bruder Sorin, dem am Ende seines Lebens nichts bleibt als unerfüllte Wünsche, nicht mehr zu bedauern als Sohn Kostja, dem der Erfolg nicht hilft, und das echte Liebeselend der Mascha nicht schwärzer als die ambivalente, monochrome Langeweile, in der der Arzt Dorn ebenso einhertreibt wie der Schriftsteller Trigorin, der Nina – so ahnt man – nicht aus Begehren, gar aus Liebe ruiniert, sondern einfach so, wie Kinder an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Garten eine Libelle oder einen grünschillernden Käfer fangen, quälen und sterbend liegenlassen.

Dankenswerter Weise hat Regisseur Jürgen Gosch darauf verzichtet, die träge, sommerwarme, unbewegliche Luft der Möwe auszutauschen gegen die elektrische Atmosphäre, die das Berliner Theater oft auch ohne Ansehung des Stücks vorzieht. Umso greller wirken die kleinen Entladungen, die Versuche der Kontaktaufnahme zwischen den Protagonisten, und besonders laut gellt die an sich nicht aus dem Rahmen der Bühne (insbesondere der Volksbühne) fallende Szene, in der Corinna Harfouchs Arkadina Trigorin zu sich zurückholt, als er sie wegen Nina verlassen will. Zuletzt wird, aber das zu sehen erspart uns Tschechow, die alte Schauspielerin die junge nicht nur im Theater, sondern auch in der Liebe besiegen.

Den Untergang der Nina spielt Kathleen Morgeneyer als eine Klimax der Intensität. Unhübsch, fragil, ganz Gefühl und Nerven, fällt im Laufe der mehr als drei Stunden dieses Abends jede komische oder rührende Arabeske von ihr ab, bis in der letzten Szene nurmehr der blanke Schmerz auf der Bühne steht. Jirka Zett kann da nicht mithalten, allzu blond wirkt sein Kostja an Leib und Seele, und auch Alexander Khuon als Trigorin macht es den Zuschauern durchaus schwer nachzuvollziehen, was gleich zwei Frauen an ihm finden, aber vielleicht macht es sich Gosch auch nur ein wenig leicht mit diesem ein wenig kanaillesken Routinier der Kunst, derweilen er ihm die Nachsicht versagt, die aus Tschechovs todtraurigem Stück von der Vergeblichkeit des menschlichen Lebens, von der Tödlichkeit der Langeweile dann doch eine Komödie macht, denn was wäre eine Komödie anderes als eine Geschichte von der Unüberwindlichkeit der Differenz zwischen Sein und Sollen, die ihre Komik aus dem Umstand bezieht, dass es den Ort gar nicht gibt, nach dem alle suchen, den goldenen Zustand jenseits der Ausweglosigkeit der Langeweile, es sei denn im Moment der letzten Pointe: Dem Schuß.

La Traviata

Komische Oper, 23.11.2008

Es ist anzunehmen, dass es in Kreisen, denen die Herstellung von Kultur obliegt, einen Komment gibt, nach welchem es besser ist, Erwartungen zu enttäuschen als zu bedienen. Zielvorgabe der Bühnenkunst etwa soll es danach sein, dass der Besucher einer Vorstellung das Gegenteil von dem sieht, was er in der Vorstellung des Kulturschaffenden zu sehen angenommen hat. Wartet der zu irritierende Besucher mutmaßlich auf ein Boudoir, so ist die Bühne am besten so gut wie leer, und nur ein paar große Bühnenelemente aus Metall werden hin und hergeschoben. Rechnet der Besucher mit einer opulenten Ausstattung, so sollten alle Protagonisten am besten scheußliche Kleidung tragen, die gerade bei Personen, welche laut der inszenierten Handlung der Oberschicht angehören, so billig wie möglich aussehen sollte.

Wenn bedingt durch Musik, die die ganze Zeit spielt, mit einem ebenfalls vorgegebenen Gesang schon wenig Möglichkeiten für ernsthafte Veränderungen der Bühnenhandlung bestehen, so soll diesem Übereinkommen zufolge zumindest eine Person auf der Bühne stehen, die mit der Handlung nichts zu tun hat, sondern die ganze Zeit schweigt. Hans Neuenfels nennt diese Person „den Zuhälter“.

Nun ist es keineswegs so, dass der frischerfundene Zuhälter der Violetta die Dinge täte, die normalerweise die Beschäftigung eines solchen Herrn bilden. Vielmehr handelt es sich um eine Art Doppelgänger der Violetta, eine Animus-Figur, welcher das Herz herausgeschnitten wird, verliert Violetta die Liebe des scheinbar verlassenen Alfred, und der sich zwei lange Nadeln in die Plastikhoden sticht, geht es ans Sterben. Überhaupt ist die Symbolik der Inszenierung von einer Simplizität, wie man sie etwa aus Schulaufführungen kennt. Die angedeutete Kreuzigung der Violetta, der Bocksfuß des Vaters: Dass man das Publikum der vollbesetzten Oper nicht die ganze Zeit laut stöhnen hörte, lag vermutlich allein an der Musik, die laut, aber nicht ebenso gut dargeboten wurde. Das Orchester hat schon bessere Abende gesehen, aber nun gut: Einer neuen musikalischen Leitung sei die Übergangszeit nach Petrenko zugestanden.

Dass Sinéad Mulhern als Violetta kaum zu verstehen ist, gehört schon fast zu den Vorzügen des Abends, denn die deutsche Fassung des Texts – Standard der Komischen Oper – bietet vielfältige Ansatzpunkte für das Phänomen, welches man als Fremdschämen kennt. Dass ihr Alfred über keinerlei erotische Anziehung verfügt, fällt da schon schwerer ins Gewicht, denn so grandios, dass er auch hätte 230 Kilo wiegen dürfen, so grandios war er nun wiederum nicht. Aris Argiris als Alfreds Vater war dagegen schon von anderem Kaliber, auch der Chor war wie immer nicht schlecht, und wäre etwas von dem entschlossenen Willen, die Erwartungshaltung eines Abonnementspublikums zu enttäuschen, in eine Regie geflossen, die nicht darin bestanden hätte, die Sänger ab und zu nach vorn treten und singen zu lassen, dann wäre der Abend möglicherweise alles andere als perfekt, aber nicht halb so langweilig verlaufen.

So aber schloss der alte Herr rechts neben mir immer wieder kurz die Augen. Hinter mir wurde gekichert, meine Freundin, die J., zog ein- oder zweimal scharf die Luft ein, wie sie es immer tut, wenn Faux Pas größerem Ausmaßes auftreten, und von dem Stück, von dieser mit herrlichem Gesang verschleierten unfassbaren Wahrheit, dass die Liebe uns nicht retten wird, blieb nichts als ein langer, langer Sonntagabend, und ein mäßiger Applaus.

Wächter der Nacht

Es ist ein Märchenmoskau, wiewohl ein Märchen im kaputten, grellen, auseinandergebrochenen Moskau der Gegenwart, ein Moskau mit Vampiren und Hexen, das ein wenig ausschaut wie das Endzeitparis von Delicatessen, und jeden Moment, denkt man, wird Bulgakows schöne Margarita um die Ecke des nächsten heruntergekommenen Mietshauses in diesen reizenden Film geflogen kommen, um ihren Meister zu erlösen. In einer skurrilen Welt haben hier Licht und Finsternis einen Pakt geschlossen, und verspielt, ein wenig kokett, ein klein wenig unernst, rasen die Wächter der Nacht in einer Art Entstörungswagen durch die Stadt, das Gleichgewicht von Hell und Dunkel zu wahren, dass durch den unbeabsichtigten Tod eines Vampirs dann endgültig aus der Balance gerät.

Die Kampfszene, in der der Vampir schließlich liegenbleibt, ist von fulminanter Komik, ein burlesker Tanz zwischen sichtbaren und unsichtbaren Kombattanten in einem Raum, der eine Art Mischung aus einer Lagerhalle und einem Friseursalon darzustellen scheint. In den schmierigen Spiegeln tauchen Gesichter, erhobene Kleiderständer, Taschenlampen auf, verschwinden wieder, ein Kind läuft davon, und blutig bleiben ein Lebender und ein Toter liegen. In einer Ecke weint ein Mädchen, eine hübsche Vampirin, der die Taschenlampe das Gesicht zu blutigen Blasen verbrannt hat. In einer Szene von surrealer, schmutziger Schönheit läuft sie schließlich verloren irgendwo auf der Moskauer Stadtautobahn dem Blut des entkommenen Kindes entgegen, den Wächter Anton Gorodetskij zu locken und Rache für den Tod des Geliebten zu nehmen.

Das Blut, das menschliche Blut, spielt ohnehin eine zentrale Rolle in dieser Geschichte. Nicht nur die Vampire gieren nach der dunkelroten, dicken Flüssigkeit, die schon optisch wenig gemein hat mit dem Kunstblut von Hollywood. Man meint es zu riechen, warm, süsslich, schal und wie nach Eisen steigt der Dunst aus den offenen Leibern hervor, aus den Schlieren, die das Nasenbluten des kleinen Jungen im Wasser des Schwimmbades hinterlässt, aus einer Art Marmeladenglas, das der traurigen Vampirin aus einem Auto entgegengehalten wird, um sie zu locken. Fast körperlich spürbar wird ihre Gier, die letztlich ebenso wenig befriedigt werden wird, wie die Sehnsucht des Anton, der einen Verlorenen wiedergefunden hat, nur um ihn gleich wieder unwiderruflich zu verlieren.

Oberhalb der Ebene der Straßenkämpfer werden die Kräfte gemessen, das Böse streckt seine Hand nach Moskau aus, und vertreibt sich die Zwischenzeit an der Playstation. Der Herr des Lichts malt üppige Frauen auf den Rand alter Chroniken, betrachtet sein Werk, und zieht die Linien noch ein wenig rasanter. Aus den Frauen entsteht eine Trickfilmsequenz, das Licht über Moskau geht aus, und schließlich wieder an, ein Flugzeug stürzt doch nicht ab. Fabelhaft bunt, gezeichnet von überquellenden Einfällen, in einer sinnlich sehr fassbaren Welt, in der die Fahrstühle von sowjetischer Schmutzigkeit sind und schrecklich quietschen, und in einem Topf im Moskauer Elektrizitätswerk die Würste platzen, überschlagen sich die burlesken Einfälle, so dass die an sich nicht sonderlich originelle Story fast in den Hintergrund gerät, und man sich freut über die Rückverwandelung einer ausgestopften Eule oder über den vampirischen Metzger, der eine kleine Rede auf die Vorzüge von Schweineblut hält, bevor er den gefüllten Deckel seiner Thermoskanne dem Freund seines Sohnes anbietet.

Äußerlich ist, wie es sich gehört, den Protagonisten von Licht und Finsternis nicht das Geringste anzumerken, und wer jemals die Reisebusse aus dem Osten am ZOB hat ankommen sehen, kann sich ungefähr vorstellen, wie die Helden des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse aussehen. Man hofft, wenn man das Kino verlässt, dass die fälligen Fortsetzungen der offenen Geschichte nicht mit schöneren Schauspielern neu besetzt und seine Schauplätze proper ausgestattet werden, und so beraubt des schmierigen, skurrilen Charmes. Man fragt sich und seinen Begleiter, warum Englisch eigentlich eine Weltsprache geworden ist, wenn sich Russisch doch viel schöner, viel lakonischer und wilder anhört, zumal überdies der Film für jene, die wie wir über keine wirklich ausgereiften Russischkenntnisse verfügen, immer noch gut verständlich bleibt.

Man trinkt einen blöden, sauren Merlot statt roten, süßen Krimsekts, den die lausige Bar natürlich nicht auf der Karte hat, und nimmt sich wieder einmal vor, den Potsdamer Platz nachts großflächig zu meiden.