Familienalbum

Ödipus

Mit einer Hochzeit ist ja landläufig ein Zusammentreffen der ganzen Familie verbunden, und wenn nahe Anverwandte fernzubleiben drohen, so empfinden nicht nur die Brautleute selbst die Abwesenheit als einen eher unfreundlichen Akt. Man sollte also schon eine wirklich gute Entschuldigung zu bieten haben, um einfach wegzubleiben, wenn die eigene Schwester heiratet, und ob A.‘s kleiner Bruder einen solchen guten Grund hat, darüber gehen die Meinungen durchaus auseinander.

„Die kleine Kröte war ja noch nie ganz normal….“, beginnt die A. ihren Bericht über die Weigerung ihres kleinen Bruders, ihrer Heirat bezuwohnen. „Hat er keine Lust zu kommen?“, frage ich und bestelle einen Montepulciano und ein paar Oliven dazu. „So ganz unverständlich ist das ja nun nicht.“, interveniert die B.² und blättert lustlos in der Speisekarte. „Der hat sich doch nicht mehr alle!“, wischt die A. den Einwand von der blanken Holzplatte und wedelt voll des Unwillens so heftig mit der Hand über den Tisch, dass beinahe die Kerzen ausgehen, und Wachs auf das Holz tropft.

Der kleine Bruder der A., erfahre ich, ist 22 oder so, studiert „irgendwas Bescheuertes“ an der HU und wohnt ein paar Straßen von seiner Schwester entfernt irgendwo in Mitte in einer schmutzigen WG. In aller Gemütsruhe, die beiden Geschwistern eigen zu sein scheint, durchfeiert der jugendliche Knabe die Berliner Nächte, verliebt sich alle paar Wochen, trennt sich enttäuscht und vorwurfsvoll, wenn der Erkenntnis, dass auch die aktuelle Bekanntschaft entgegen seiner verzweifelten Hoffnung nicht makellos ist, nicht mehr auszuweichen ist, und zieht ansonsten freudig und bedenkenlos seine lustigen Kreise. Ab und zu besucht er seine große Schwester, isst alles, was im Kühlschrank ist, und nimmt mit, was er nicht mehr essen kann.

Letztlich jedoch, eines Nachts, schrak der kleine Bruder aus dem Schlaf auf. Neben ihm lag ein schönes Mädchen, Gelegenheitsfriseurin und Möchtegernmodel, und das Mondlicht fiel durchs Fenster, weil er zwei Jahre nach seinem Einzug immer noch keine Vorhänge angebracht hat. Alles war Bestens, nichts war passiert, aber zu Tode erschrocken schlug sein Herz, und das Blut pochte mächtig gegen seine Schläfen. Ein Würgen presste sich durch seinen Hals nach oben, bis er ins Bad ging und sich minutenlang übergab. Vor seinem inneren Auge tanzten Traumbilder auf und nieder, eine blonde Frau griff nach ihm, zog ihn an sich, küsste ihn, und, was das Schlimmste war: Er küsste zurück.

Perfekt sei es gewesen, berichtete er ein paar Stunden später seiner Schwester. So großartig, wie man sich die Liebe immer vorstellt, und ein Traum von so schwereloser, heiterer Harmonie, wie es sie tagsüber eigentlich gar nicht gibt.

„Und was hat das mit der Hochzeit zu tun?“, frage ich und verziehe ein wenig das Gesicht über den sauren Kreuzberger Wein. – „Die Frau…“, japst die A. und lacht ein wenig vor sich hin. „Die Frau also…“

Die Frau, berichtet die A. als sie ausgiebig gelacht hat, sei einmal mit ihrem Vater verheiratet gewesen, der ja ganz gern einmal heirate, und dies auch alle paar Jahre täte. Nach innerfamiliär einhelliger Meinung gehöre diese Frau ganz eindeutig zu den dümmsten Frauen, denen ihr Vater jemals die Hand geschüttelt hat, und die Ehe habe, im Wesentlichen deswegen, auch nur wenige Jahre gedauert. Sie selbst habe damals gar nicht mehr zu Hause gewohnt, ihr Bruder allerdings sei damals so ungefähr 14 gewesen, bevor er dann aufs Internat kam, weil er sich mit der nächsten Frau nicht so gut verstand. – „Und?“, frage ich stirnrunzelnd und versuche, einen Zusammenhang zwischen der ehemaligen Stiefmutter, dem Bruder und der Hochzeit der A. herzustellen.

Die Ex-Stiefmutter, klärt die A. mich auf, habe sich aufgrund ihrer schier unendlichen Dummheit bei der Scheidung dermaßen übers Ohr hauen lassen, dass sie im Kreise der Familie bestehend aus Exfrauen und Exmännern, Stiefgeschwistern und Halbgeschwistern und sonstigen Verwandten nach wie vor so gern gesehen sei, dass man sie zur Hochzeit eingeladen habe.

Und ihr kleiner Bruder habe nun Angst, ihr zu begegnen.

Leicht zerkratzt, sonst gut in Form

Seit seiner Scheidung von der S. hat Vetter L. leider einen Schaden.

„Da kann ich mich mehr blicken lassen.“, ächzt der L. in den Telephonhörer und erteilt einem samstäglichen Gang über den Kollwitzmarkt eine entschiedene Absage. Er könne da nicht mehr hin, denn in der Sredzkistraße wohne, wie ich mich vielleicht erinnere, die I., und jene, das sei so gut wie gewiss, wolle ihn töten und werde diesen Plan auch voraussichtlich in die Tat umsetzen, bekäme sie Gelegenheit zu einer ebenso blutigen wie öffentlichen Hinrichtung zwischen Freilandeiern und Roter Beete aus ökologischem Anbau. – „Das ist schlecht.“, gebe ich zu und versuche mich zu erinnern, welche Ereignisse genau zu dieser nur als übertrieben zu bezeichnenden Reaktion der I. geführt haben könnten.

„Halt so ein nettes Techtelmechtel.“ entwindet sich der L. meinen Nachfragen nach der I. und murmelt irgendetwas von anlasslosen Hoffnungen jener Zeitgenossen, die aus der puren Tatsache, dass man etwas miteinander habe, auf ein weiterreichendes persönliches Interesse schließen, welches die I. veranlasst haben muss, ihre bestehende Beziehung mit einem anderen Herrn zu beenden und sogar anzunehmen, der L. wolle vielleicht statt des Verflossenen bei ihr einziehen. Jener jedoch pflegte derlei Pläne sozusagen überhaupt nicht, und die I. suchte und fand die Schuld an ihrer Fehlspekulation nicht etwa in der eigenen möglicherweise etwas lebhaften Phantasie, sondern allein bei dem L.

„Da kann man nichts machen.“, wechsele ich das Thema: „Wie läuft’s mit deiner Studentin?“, frage ich und der L. räuspert sich ein wenig verlegen vor sich hin. Nett sei es mit der Studentin, die als studentische Hilfskraft in moderatem Umfange an jenem Institut tätig sei, an dem auch Cousin L. sein Brot verdient, aber der gemeinsame Arbeitgeber sei noch nicht einmal das größte Problem. Er habe, fürchtet er, durch die desaströs verlaufene Ehe mit Kindsmutter S. offensichtlich einen Schaden davongetragen, eine Art Phobie, die ihn bei dem geringstem Anzeichen aufkeimender Verpflichtungslagen in die Flucht treibe. Leider, nuschelt der L. offenbar über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg in den Hörer, würden so gut wie alle ansonsten reizenden Damen mehr Anhänglichkeit zeigen, als er es gegenwärtig gut vertrüge, und mit ihrem Bestehen auf regelmäßige Anrufe, verbindlich gemeinsam verbrauchte Zeit und einer Planung über mehrere Monate, die beispielsweise einen gemeinsamen Erholungsurlaub umfasse, geradezu körperliche Symptome der Klaustrophobie bei ihm hervorrufen. Auch die Studentin, in die er ansonsten geradezu verliebt sei, dränge ihn seit Wochen zu einem gemeinsamen Urlaub im August und stelle gelegentlich Fragen wie „Warum hast du eigentlich nicht angerufen?“, die er als unangenehm empfände. „Ich weiß nicht, wieso Frauen immer so klammern!“, beschwert sich Cousin L. über die Damenwelt mehr oder weniger im Ganzen und kramt geräuschvoll in irgendwelchen Schubladen und Fächern nach Keksen.

Vor seiner Ehe mit Mutantin S., die mit der Geburt der gemeinsamen Tochter eine Metamorphose zu einem ganz ungewöhnlich ununterhaltsamen und leicht übergewichtigen Geschöpf vollzog, hätte dieses Problem, das man nur leicht vergröbernd als Bindungsangst bezeichnen könnte, noch keineswegs bestanden. Die Worte etwa „meine Freundin“ oder die Verpflichtung zu einem gemeinsamen Urlaub schreckten den L. damals nicht, er machte sich nicht einmal Gedanken über mögliche Verstrickungen, denen man am Ende schlecht entrinnt, und alles in allem, bilanziere ich, löffeln nun ganz normal anhängliche Frauen die Suppe aus, die Klette S. ihnen eingebrockt hat.

„So ein Schaden verschwindet auch wieder.“, rede ich dem L. gut zu und hoffe, die Studentin möge klug genug sein, auf die L.‘sche Unstetigkeit mit jener Gelassenheit zu reagieren, die reichere Früchte tragen dürfte als Bemühungen irgendwelcher Art, den L. noch einmal gewaltsam zu so etwas wie einer Beziehung zu erpressen.

„Und wenn nicht, dann nicht.“, beendet der L. das Thema und imaginiert ein Leben als alternder Junggeselle mit vielen Büchern und sehr gelegentlichem Besuch. Es hört sich ganz gut an. Und ansonsten heilt die Zeit ja bekanntlich alle Wunden.

Penaten

Gelegentlich, zum Glück nicht allzu häufig, fährt man ja durch die Außenbezirke der Städte, dort, wo die Häuser niedrig werden und die Gärten groß, und schaut älteren Ehepaaren, nicht unähnlich den eigenen Eltern, bei der Gartenpflege zu. Ein wenig verloren sehen sie aus in ihren Vorgärten, und noch viel verlorener, denkt man, sitzen sie am Abend in ihren Häusern herum, die sie sich vor über zwanzig Jahren einmal gekauft haben, als sie zwei kleine Kinder hatten, und ein drittes zwar nicht direkt geplant war, aber immerhin wäre Platz gewesen, und mit mehr Gästen, als dann schließlich jemals auf einmal erschienen, hatten sie auch gerechnet.

Nun sitzen sie also da in ihren fertig eingerichteten Häusern, die viel zu groß sind für zwei ältere Leute, wenn sie denn überhaupt noch zu zweit sind, und richten sich immerzu neu ein, kaufen Bassetti Plaids und indische Vasen, vanillefarbene Couches und immer neue Lampen, installieren in einem ehemaligen Kinderzimmer einen begehbaren Kleiderschrank, ein Bügelzimmer in einem der Gästezimmer, stellen Schränke in alle Ecken, in denen dann mehr Tischdecken liegen, als ein durchschnittliches Restaurant im Gebrauch hat, und lauter Dekorationen für Ostern, Weihnachten, Herbst und Winter. Ein wenig melancholisch schaut das Ergebnis aus, wie es jeder Perfektion eigen ist: Irgendetwas fehlt, und man kann sich ordentlich vorstellen, wie eine ältere Dame im zitronengelben Cardigan mit sanft verhangenem Blick am Fenster sitzt, irgendeinen Roman, den das Feuilleton empfohlen hat, in der Hand oder eine Biographie, und ihren Gatten anschaut, der aus purer Gewohnheit auch Jahre nach der Pensionierung immer noch den Wirtschaftsteil der FAZ liest. Viel zu groß ist das Haus, und ab und zu überlegen sie, das Haus zu verkaufen, einfach wegzuziehen, ein Haus in Oberitalien zu kaufen oder in Asien, wo es warm ist, und eine kleines Haus noch einmal ganz neu einzurichten. Unterwegs sind sie ohnehin immerzu, als hätten sie Angst, in ihrem Haus allein zu sein, ganz so, wie ihre Kinder Angst hatten vor fast drei Jahrzehnten, wenn sie am Abend in die Stadt fuhren, die zehn Kilometer oder dreißig entfernt ist, so nah jedenfalls, um viel öfter zu fahren, als sie es tun und jemals getan haben.

Vollkommen angefüllt sind ihre Häuser mit den abgelegten Schalen ihres ganzen Lebens, die ersten Regale noch aus dem Studium im Keller, die Kiefereinrichtung aus den Siebzigern, als sie jung waren und die Kinder klein, ganz oben unterm Dach, und das Leben ihrer Eltern, Tanten, Großeltern ruht verpackt in viele Kisten im Keller. Das Silber freilich, das Meissner Porzellan, das hat seinen Platz gefunden im Erdgeschoss, die Dinge jedoch, an denen das Herz der längst verstorbenen Eltern hing, und über die sie schon zu Lebzeiten der Mutter gespöttelt hatten, weil das Geliebte die Liebe nicht immer zu verdienen schien, wie es halt so geht.

Verkaufen konnte man die Dinge dann freilich doch nicht, weil die Mutter einmal so an den Weihnachtstellern gehangen hat, die Großmutter an den Nymphenburger Figurinen, die Schäferinnen darstellen oder einen verliebten Harlekin, weil irgendein vor Jahrzehnten verstorbener Onkel die Bowlenschüssel liebte, die ein Schiff darstellte. Die roten und blauen Römer, die Uhren und die Porzellanfiguren, die Szenen sehr bekannter Opern darstellen. Die Kristallschwäne und die Vasen mit großen roten Drachen, verpackt in viel Papier und aufgehoben für wen auch immer. Ein Band aus Glas und Porzellan zwischen ihnen und den Toten mag in den Kisten liegen, und die Keller sind groß genug.

Ab und zu, eher selten, lassen sich die Kinder sehen, die weit weg ihr kellerloses Leben führen und viel zu oft umziehen. Vitrinen haben sie keine, kaufen kein geschliffenes Glas und kein Porzellan, und vielleicht werden sie eines Tages die Häuser ihrer Eltern verkaufen und die indischen Vasen dazu, den Inhalt der Kisten zum Flohmarkt tragen oder dem Auflöser überlassen. Vielleicht kaufen sie selber aber auch einmal ein Haus, dessen Keller voll sein wird, noch voller, denn die Familien werden kleiner und der Erbschaften mehr, und vielleicht werden auch jene Dinge, an denen das Herz ihrer Eltern hängt, die japanischen Schalen und die italienischen Alabastervasen, die Zeitungshalter von Manufactum und das toskanische Brotkörbchen, einmal in Kisten liegen, die man kopfschüttelnd behält, weil denen, die man liebte, diese Dinge einmal lieb waren und teuer.

Aber vielleicht kommt alles anders, und es verschlingen unruhige Zeiten noch einmal die Kisten, das Glas, das Silber, den viel zu klobigen Schmuck der Großmutter und am Ende die Kinder dazu.

Die Grillplatte Akropolis

„Papa?“, stieg ich über den gleichfalls schlafenden Hund und setzte mich auf die Bettkante neben meinen Vater. „Mmmh“, antwortete der mit geschlossenen Augen und langte auf dem Nachtschrank nach seiner Brille. „Musst du nicht einkaufen?“, zog ich die Vorhänge auf, bis das Zimmer im gleißenden Mittagslicht lag, die Tapete gescheckt von den Schatten der Blätter eines Baumes vorm Fenster, und mein Vater blinzelte erst mich an, dann in die Sonne, und sah auf die Uhr. Samstagmittag war’s, 13.00 Uhr.

„Warst du lange weg gestern abend?“, fragte ich weiter, sprang auf die Decke, hörte mit halbem Ohr seinen verschlafenen Erzählungen über Freunde und Freundinnen zu, über Konzerte und Bars, und referierte die vorabendlichen Aussprüche des Babysitters, dessen Dummheit innerfamiliär geradezu sprichwörtlich war: Ein pausbackiges, rothaariges Mädchen, 16 oder 17 Jahre alt, das Lehrerin werden wollte, und es gewiss auch geworden ist.

„Heute nicht, Prinzessin.“, röchelte mein Vater zurück und schleppte sich ins Bad. Aus der offenen Badezimmertür drang das Brummen der Zahnbürste, und ich saß ein wenig enttäuscht zwischen den Decken und Kissen: Der Samstagseinkauf mit einem Frankfurter Würstchen beim Metzger auf die Hand und Schokolade am Stiel bei Edeka mit der klaren Ansage, den Kauf auf keinen Fall meiner schon eher gesundheitsbewussten Mutter zu verraten, war offenbar an widrigen Umständen gescheitert. „Nicht böse sein, Modeste.“, streichelte mein Vater mir auf dem Rückweg aus dem Bad über den Kopf. „Gehen wir halt zum Griechen.“ – Die Welt war wieder in Ordnung. „Versprochen ist versprochen!“, nagelte ich meinen Vater auf seiner schlaftrunkenen Ansage fest, und zog wieder ab, um die größte Playmobilstadt aller Zeiten weiter auszubauen, umzubauen, und dann alles wieder abzureißen.

„Ich dachte, wir gehen zum Griechen?“, bohrte ich nach, während mein Vater sich Müsli in einen Teller häufte, und sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Küchenplatte, die mir so ungefähr bis zu den Schultern ging. „Nun lass mich doch erst einmal frühstücken.“, kam es ein wenig gequält zurück, und nach einigen Stunden, begleitet von regelmäßigen Anfragen nach der genauen Zeit des Aufbruchs, rasierte sich mein Vater und suchte im ganzen Haus nach seinem Autoschlüssel. Mit einer über Jahre gestählten Gleichgültigkeit gegenüber abhandengekommenen Schlüsseln, dem genauen Aufenthaltsort von meines Vaters Portemonnaie und seinen anderen Habseligkeiten, saß meine Mutter mit meiner kleinen Schwester auf dem Schoß im Wohnzimmer und blätterte in der Zeitung.

Ungefähr mit der Ansage: „Seid ihr noch nicht angezogen?“, tauchte mein Vater irgendwann aus jenen Untiefen wieder auf, in denen sich seine Schlüssel bis heute zu verbergen pflegen. Ich öffnete die Pforte zur Auffahrt, sprang auf den linken Rücksitz, und zehn Minuten später schloss mein Vater den Wagen auf dem Parkplatz des „Akropolis“ wieder ab.

Wie es dem Betreiber des Restaurants Akropolis gelungen war, eine Baugenehmigung für die baulichen Veränderungen zu erhalten, mit denen er dem ursprünglich weißgekalkten Fachwerkbau ein eher hellenisches Aussehen zu verleihen suchte, mag der Teufel wissen: Rechts und links der Tür ragten zwei meterhohe, weiße, dorische Säulen empor und trugen ein gleichfalls weißes Vordach mit Götterstatuen obendrauf. Über jedem Fenster hatten die Betreiber einen Götterkopf angebracht, und in den Fenstern blinkten bunte Lampen in Plastikschläuchen, die sich wiederum um Götterstatuetten ringelten. Unter der Decke, aber das konnte man erst sehen, wenn man saß, hing ein Fischernetz mit lauter Plastikfischen drin, und große bemalte Amphoren lehnten in allen Ecken. An der Kopfseite des Schankraumes stand eine ungefähr lebensgroße nackte Person auf einer Art Füllhorn und schmiegte sich an eine Grotte, aus der Wasser in ein muschelförmiges Bassin plätscherte. Ich liebte das Akropolis.

„Und das Fräulein Modeste endlich auch wieder da?“, der schmierigste Kellner der ganzen Stadt reichte auch mir eine eigene Karte, obwohl er genau hätte wissen können, dass die Kunst des Lesens sich mir noch nicht erschlossen hatte. „Darf ich eine Cola?“, fragte ich meine Mutter, die nur stumm den Kopf schüttelte. Einen Apfelsaft also.

„Einmal die Grillplatte Akropolis. Und einen Halben Roten mit zwei Gläsern bitte.“, orderte mein Vater, und der Kellner schrieb die immer gleiche Bestellung auf einen dieser schmalen Kellnerblöcke, auf denen oben der Name einer Brauerei aufgedruckt ist, und unten etwas die Werbewirkung Bekräftigendes stand wie „Bierige Braukunst“ oder auch „Herzhaft frisch und würzig“. Auf dem Tisch warb ein Plastikaschenbecher für die Zigarettenmarke „HB“, und hinter den Fenstern zum See konnte man Ausflugsdampfer sehen, auf denen Familien hin und herfuhren, winkten und Kuchen aßen.

Ob die Grillplatte Akropolis wirklich so groß war, oder ob lediglich die Relation zwischen der beschränkten Größe einer fünfjährigen Person und der Fleischplatte den Eindruck übermäßiger Fülle erweckte, vermag ich nicht mehr zu sagen. Gleichwohl, groß war sie bestimmt, eine ovale weiße Bratenplatte, gefüllt mit Bergen von Gyros, Souvlakispieße waren drauf, alle möglichen gegrillten Fleischteile, Lammkoteletts und Hähnchenschnitzel, Unmengen Krautsalat mit ein paar versprengten Oliven dazu, Zaziki und Tomatenreis und Pommes Frites extra in einer Schüssel, auf deren Grund das schlangenstarrende Haupt der Medusa zu sehen war, näherte man sich dem Grund. Verzierungshalber lag an einer Seite der Grillplatte jeweils eine blütenförmig aufgeschnittene Tomate gefült mit hervorquellender Petersilie, wenn ich mich recht entsinne und die Dekoration nicht verwechsle mit jener, die das unweit gelegene, aber längt nicht so beliebte Restaurant „Dubrovnik“ zu bieten hatte. Mindestens eine ganze rohe Zwiebel lag in Ringen über dem Ensemble.

Ob meine Eltern das „Akropolis“ in der selben Weise schätzten, wie es bei mir der Fall war, mag ein klein wenig fragwürdig sein, gleichwohl, in schöner Regelmäßigkeit beschloss ich Mahlzeiten in Gesellschaft der gipsernen Göttern Griechenlands mit einer Portion Sahnejoghurt mit Honig und Nüssen, meine Eltern bekamen jeweils einen Ouzo, und wir bestiegen wieder den Wagen, den ein Jahr später, ein paar Tage vor meiner Einschulung, ein betrunkener Autofahrer auf dem Parkplatz von Peek & Cloppenburg komplett demolieren würde, und ein paar Jahre später war auch das „Akropolis“ nicht mehr da.

Schwesterchen fährt in Urlaub

„Also zu meinem Geburtstag“, hebt Schwesterchen an, „bin ich ja gar nicht da. Wenn du mich besuchen willst, dann kommst du besser früher. Oder später. An meinem Geburtstag bin ich aber nicht da, aber du wärst ja sowieso nicht gekommen. Du kommst ja nie vorbei, und ich sage noch, komm mal vorbei – aber du kommst ja nicht. Wäre aber toll, wenn du vorbeikommst, aber nicht zu meinem Geburtstag. Wir fahren nämlich in Urlaub, nach Sri Lanka. Da war ich noch nie, also auf Sri Lanka, und der T.² auch nicht, und wir freuen uns total. Da hat er mich nämlich eingeladen, als Geburtstagsgeschenk, alles dabei – eine Woche fahren wir so durch die Gegend, Wagen mit Fahrer, weil wir uns ja nicht so auskennen da vor Ort. Der T.². der würde das bestimmt alles finden, der verfährt sich nämlich eigentlich nie, aber Fahrer ist natürlich besser, da ist es bestimmt nicht so gut ausgeschildert, kann man ja auch nicht verlangen.

Finde ich sowieso total bescheuert, diese Leute, die irgendwohin fahren, und dann wollen sie, dass das alles so ist wie hier. Ist es aber nicht, das finde ich aber gerade gut so. Dann weiß man wenigstens, dass man woanders ist. Und mit Fahrer sowieso kein Problem. Der weiß denn ja, wo alles ist und fährt einen hin. Eben. Und dann eine Woche am Meer, Hotelanlage, echter Luxus, aber alles total umweltverträglich, schafft ja auch Arbeitsplätze, so Tourismus, also da habe ich gar kein Problem. Gibt ja auch so Leute, die lehnen das ab, da halte ich aber gar nichts von, sollen die sich mal fragen, was so ein Rucksacktourist im Land lässt, das bringt die Leute ja nicht weiter. Der T.² gibt richtig Geld aus, da leben die ja von. Also die Leute vor Ort. Nicht so wie diese Travellertypen, obwohl ich das auch ziemlich gut finde. So auf eigene Faust. Würde ich auch machen, aber der T.² ist da nicht so für. Finde ich super, dass du das machst, richtig abenteuerlich finde ich das, aber ich will schon wissen, wo ich abends schlafe. Und der T.² auch. Eigentlich noch mehr als ich, aber der arbeitet so viel, da kann man das auch verstehen. Weiß ich aber, dass du das spießig findest. Finde ich aber nicht.

Wo fährst du denn hin? – Sizilien hat mir ja nicht so – aber das lag am Hotel. Vietnam finde ich ja auch ganz super, da haben wir auch überlegt, aber dann hat der T.² hinter meinem Rücken einfach beim Reisebüro angerufen und einfach alles gebucht. Als Geschenk für mich. Ist wahnsinnig großzügig, was? So ist der aber. Nicht so wie der Freund von meiner Freundin K., der verdient supergut, aber zu Weihnachten, oder wenn sie mal Geburtstag hat, dann geht er hin und kauft ihr ein Buch. Oder eine CD, total geizig ist der. Wenn einer nichts hat, dann ist das eben so, aber wenn einer gut verdient, dann kann er auch, finde ich. Den sollte sie sowieso – aber das tut sie nicht. Die K. sieht aber auch nicht so gut aus. Muss man einfach ganz klar sehen, die K. ist eine wahnsinnig liebe Person, aber Männer sind da ja so – Frauen sind aber auch nicht besser. Meistens jedenfalls. Die K. aber schon, nur ihr Freund ist eine Flasche. Du glaubst gar nicht, was der ihr zu Weihnachten geschenkt hat, das war so unglaublich, das habe ich sofort wieder vergessen, aber selber kauft er sich Socken für 50 €, da schwört er nämlich drauf. – Kennst du die K. überhaupt? Nein? Gar nicht? Süße, du musst unbedingt mal herkommen, dann lernst du auch die K. mal kennen, und sie dich auch, der habe ich nämlich schon ganz viel über dich erzählt.

Überhaupt müssen wir uns mal wieder richtig unterhalten. Jetzt musst du schon wieder los? Ich bin inzwischen ja auch mal ganz gern zu Hause, aber zu zweit ist das ja sowieso alles was anderes. Also allein würde ich auch immer ausgehen. Hat ja auch was, immer unterwegs. Wo gehst du denn hin? Kenne ich nicht, nicht mal vom Namen her. Ist es gut da? Ist bestimmt gut, so wie sich das anhört. – Also, lass uns demnächst mal wieder ausführlich sprechen. Und Grüße vom T.², der findet dich nämlich auch super. „Deine Schwester sieht doch eigentlich auch richtig gut aus“, hat der erst gestern gesagt. Heute ist er aber nicht da.

Dann dir noch einen schönen Abend. Und bis bald. Schön, mal wieder von dir zu hören.“

Schwesterchen legt auf.

Nebraska

Auf der Liste der Fähigkeiten, die man sich im Laufe seiner schulischen Ausbildung erwerben sollte, gehört zweifellos auch die Beherrschung der englischen Sprache, und so schicken Jahr für Jahr Tausende Eltern ihren Nachwuchs für ein Jahr in die englischsprachige Welt, um ihn sodann ansprechend polyglott zurückzuerhalten. Wie man weiß, gibt es dabei im wesentlichen zwei Möglichkeiten – das englische Internat und die amerikanische Gastfamilie – und beide Alternativen bringen ihre ganz eigenen Risiken mit sich. Mein lieber T. beispielsweise, dieser reizende und schon an und für sich eher leptosome Zeitgenosse, kehrte seinerzeit aus einem wirklich strengen englischen Institut um acht Kilo gegenüber dem Zustand bei seiner Ankunft abgemagert zurück und berichtete schaudernd von kalten Duschen und Mahlzeiten, die in jeder kontinentalen Justizvollzugsanstalt eine unverzügliche Rebellion ausgelöst hätten.

Dass mein sowohl überaus unsportlicher als auch dem guten Essen zugeneigter kleiner Cousin sich nicht für die Internierung in einer englischen Erziehungsanstalt entscheiden würde, war vor diesem Hintergrund an und für sich nicht wirklich überraschend, und man entschied sich also für eine dieser Organisationen, die Jugendliche aus aller Welt in amerikanischen Familien unterbringen, um vor Ort den Besuch der lokalen High School zu ermöglichen. Umfangreiche Unterlagen wurden also an diese Organisation versandt, und längere Zeit, also ein paar Monate, hörte ich nichts von der ausländischen Plänen meines jugendlichen Verwandten, bis jener mich Monate später in einem Zustand eher gesteigerter Empörung anrief.

„Nebraska!“, stieß mein jugendlicher Verwandter hervor und dann noch irgendetwas Gotteslästerliches, was ziemlich schlecht zu verstehen war. „Herzchen“, beruhigte ich den Kleinen und bat um chronologische Darstellung der ebenso aufregenden wie ärgerlichen Ereignisse, die sich abgespielt haben mussten, um meinen eigentlich verhältnismäßig friedlichen Cousin zu derartigen Ausbrüchen zu bewegen.

Diese Organisationen, die Schulkinder in fremde Länder transportieren, haben es ja so an sich, dass man sich die genaue Region der ziemlich großen Zielländer nicht einfach aussuchen kann, sondern, ähnlich wie bei der ZVS, zugewiesen wird. Alle seine Freunde, so berichtete mir der Kleine, hätten es dabei ganz gut getroffen, New Hampshire, Boston, Florida – und nur er, nur er müsse ein ganzes Jahr in Nebraska verbringen und weigere sich nach einiger Information über diese eher ländliche Region, den geplante Aufenthalt auch anzutreten. „Kann ich gut verstehen.“, kommentierte ich, meine Tante allerdings zeigte für diese Weigerung aus irgendwelchen Gründen keinerlei Verständnis, und so hänge der Hausfrieden schon seit einiger Zeit vollkommen schief. „Kann man da denn gar nichts mehr machen?“, fragte ich, und schaute mir das ziemlich menschenleere Nebraska im Internet ein wenig an. Nebraska sieht langweilig aus.

„Warum immer ich?“, verzweifelte mein Vetter und beschrieb sein sechzehnjähriges Dasein als eine ziemlich eindrucksvolle Kette unerfreulicher Zufälle und unwahrscheinlicher, aber unglücklicher Umstände, die stets ihn und nie andere Leute träfen. „Hmpf.“, sagte ich und hielt ansonsten wohlweislich den Mund.

„Mein lieber Cousin!“, verkniff ich mir zu sagen: „Wie meine umfangreiche Lebenserfahrung mich gelehrt hat, zerfällt die Menschheit in zwei ungefähr gleich große Teile: Der eine Teil hat es gut getroffen – Wenn er verschläft, ist der Lehrer krank. Wenn er auf dem Weg zum Bahnhof im Stau steht, hat auch der ICE Verspätung. Wenn er sich verliebt, wartet das Objekt der warmen Empfindungen seit Monaten nur auf einen Anruf, um sich ihm in die Arme zu werfen. Wenn er einen Job sucht, wird in der Company seiner Träume gerade eine Stelle frei, und sein zukünftiger Vorgesetzter ist der Onkel seines besten Freundes.

Bei dem anderen Teil verhält es sich sozusagen andersherum: Wenn er sich verliebt, liebt die Geliebte immer jemanden anders. Wenn er Klausuren schreibt, kommt immer dran, was er nicht gelernt hat. Und wenn er einmal im Leben schwarzfährt, kommen die Kontrolleure der BVG und nehmen ihn mit, weil er zufällig auch keinen Personalausweis dabei hat.

Und zu dieser Gattung gehörst, mein geschätzter und bedauernswerter Cousin, offensichtlich auch du.“

…sagte ich nicht und beendete das Gespräch mit den herzlichsten Beteuerungen meines Mitgefühls und dem Wunsch nach weiterer Information.

Das bodenlose Privatleben meines Cousins

„Also, das ist so,“, hebt Cousin L. an, und seufzt ein wenig in sein Chirashi-Don.

„Ich bin also kaum in Berlin angekommen, da treffe ich die I. wieder. Die kennst du vielleicht, die war auf meinem dreißigsten Geburtstag. So eine Kleine, Hübsche, mit Grübchen und Locken.“ – Auf dem dreißigsten Geburtstag meines Cousins vor fast zehn Jahren waren indes Unmengen ziemlich hübscher Frauen, und an die I. kann ich mich durchaus nicht erinnern.

„Die I., die hatte hier so einen Kerl, komischer Typ, nicht viel los damit, und dann, na, du kennst das ja.“-–Ich nicke ein wenig zerstreut, und versuche, ein Ikura Nigiri in den Mund zu bekommen, ohne den Lachsrogen zu verlieren. – „Jetzt hat die I. den Kerl abgeschossen und ruft immerzu an. Ohne jede Übertreibung, wirklich immerzu. Jeden Tag. Ich mag schon gar nicht mehr rangehen.“ – „Hast du dich vielleicht ein bißchen, tja, missverständlich ausgedrückt?“, frage ich nach. „Keine Ahnung. Nein, ich habe eigentlich gar nichts gesagt.“, schüttelt Cousin L. den Kopf.

„Das ist natürlich ein bißchen blöd mit I.‘s Anrufen.“, fährt er fort. Kurze Zeit nach der Vertiefung der Bekanntschaft mit I. nämlich habe er eine Studentin kennengelernt, eine ganz reizende Person, blond und zart und verträumt, und die stetigen Anrufe der I. würden jene Studentin schon ein wenig, kaut mein Cousin, irritieren. Am Wochenende zum Beispiel, da habe die I. mindestens dreimal angerufen, und irgendwann habe die Studentin begonnen, nachzufragen, wer denn die Anruferin eigentlich sei.

„Bist du mit der Studentin zusammen?“, frage ich den L., und ordere eine weitere Schale Tee. „Ach was, nein.“, wehrt der ab. Eigentlich habe er sich sogar seiner Frau wieder ein wenig angenähert, sei das Wochenende zuvor nach Frankfurt gefahren, und habe sogar einen gemeinsamen Urlaub mit Kind geplant und gebucht.

„Hast du das den anderen Frauen erzählt?“, hake ich nach. „Ich bin doch nicht bescheuert.“, wehrt der L. ab, und erklärt, ernsthaften Diskussionen für den Rest seines Lebens aus dem Weg gehen zu wollen. „Ich war zwei Jahre verheiratet, das reicht.“

„Wieso warst du eigentlich wieder in Frankfurt?“, wundere ich mich des vor wenigen Wochen geäußerten Vorsatzes eingedenk, die Restfamilie mindestens dieses Jahr nicht mehr aufzusuchen. „Eigentlich wegen der T., der dummen Pute.“, erklärt mein Cousin und bestellt eine weitere Futo-Maki-Rolle. „Kenne ich nicht.“, schüttele ich den Kopf.

„Ist so eine kleine Freundin von meiner Ex. Dumme Geschichte irgendwann letztes Jahr, und jetzt geht sie also los und erzählt meiner Ex die ganze Sache, und die ruft also erst mal an, schimpft und heult und macht mich völlig zur Sau, und sagt, ich dürfte die Kleine nicht mehr sehen. Und dann bin ich halt hingefahren.“

„Eigentlich bist du eine ganz ekelhafte Erscheinung, weißt du das?“, kommentiere ich die Enthüllungen meines Vetters. Der L. stöhnt auf. „Dabei mache ich gar nichts. Ich laufe einfach ein bißchen herum, und ein, zwei, drei steht man vor einem unglaublichen Trümmerhaufen. Versteh‘ ich nicht, bei anderen Leuten geht das doch auch alles glatt.“

„Von außen betrachtet aber sehr unterhaltsam.“, kommentiere ich. „Darf ich drüber schreiben?“ „Klar, dann hassen die mich alle wieder.“, nickt mein Cousin und legt die Stäbchen über seine Platte.

Wenn die Götter uns bedenken

„Die Zauberflöte?“, sagt der J. und schüttelt den Kopf. Die habe man nun wirklich tausendmal gehört, alles andere, aber mit der Mozart´sche Märchenoper mit Prinz und Prinzessin, der bösen Königin der Nacht und dem gütigen Sarastro sei es nun einmal genug. „Hast schon recht.“, sage ich, lese weiter im Programm, und einige mich mit dem geschätzten ehemaligen Gefährten auf „Die Meistersinger von Nürnberg“.

Vorbei ist´s also mit Vogelmensch und Flötentönen. Damals aber…, denke ich, und lächele ein bißchen in meinen Wein:

„Malst du mich auch?“, fragte ich meine Mutter, die vorm Spiegel stand und sich schminkte. Mit einem rosa Lippenstift malte sie mir zumindest den Mund, steckte mir die Haare hoch, im Nacken mit einer riesengroßen Schleife, passend zum Lieblingskleid, einem roten Kleidchen aus Taft mit einer passenden Tasche dazu, die die „Glitzertasche“ hieß, weil der Verschluss mit ein paar Strassteinen besetzt war. Acht Jahre alt muss ich gewesen sein, der Klavierunterricht hatte die Musik noch nicht mit dem Odium vergeblicher Anstrengung bestrichen, und der Nikolaus hatte mir die Opernkarte nebst Fruchtschnitten, Honigkuchen und Bio-Bärchen in die Stiefel gesteckt. Auf dem Plattenteller meines ersten Plattenspielers drehte sich „Die kleine Zauberflöte“, extra für Kinder, aus den Boxen meines Vaters drang die Zauberflöte unter Karajan, mit Wilma Lipp als Königin der Nacht, und immer wieder hob mein Vater den Arm des Plattenspielers, um ein weiteres Mal ein Stück zurückzusetzen, auf das eine oder anderen Motiv hinzuweisen, die Dreizahl, den Fugenaufbau der Ouvertüre, die Orchestrierung, sprang zurück in die Ouvertüre, erklärte Zuordnungen und Funktion der Harmonien, brachte eines Abends sogar ein Poster mit, auf dem ein Orchester zu sehen war, und ermahnte mich, in der Oper stillzusitzen und auf keinen Fall zu murren oder aufzustehen, denn dann dürfe ich nie wieder mit. Empört wies ich die Unterstellung zurück: Schwesterchen vielleicht, die sei noch zu klein und gerade erst eingeschult, ich aber ja schon in der dritten Klasse und daher ganz und gar imstande, stundenlang so ruhig dazusitzen wie ausgestopft.

„Oh, das ist toll.“, drückte mich die beste Freundin meiner Mutter, bei der das beleidigte Schwesterchen übernachten sollte, und wünschte viel Spaß. Im Auto schärfte mein Vater mir nochmals äußerstes Stillschweigen ein, wies warnend auf den Ausschluss von der Veranstaltung hin, und ließ meine Mutter und mich vorm Portal aussteigen auf der Suche nach einem Parkplatz. Hell angestrahlt stand das Opernhaus, wunderschön war das Publikum angezogen, fand ich, und mit einer gewissen Enttäuschung sah ich den anderen Kindern zu, die an der Hand ihrer Eltern das Portal durchschritten: So erwachsen schien die Veranstaltung nicht zu sein, wie ich mir erhofft und erwartet hatte. Am Orchestergraben standen viele Kinder, denen Mutter oder Vater mit weitausholenden Bewegungen die Instrumente erklärte. Das Rascheln des Publikums, die leisen Unterhaltungen, das Treiben im Orchstergraben – mein Vater fürchtete ernsthaft für den reibungslosen Verlauf des Abends. Aufgeregt und wie ein Gummiball hin und her hüpfend lief ich von einer Seite zur anderen, war mit Mühe auf dem Klappsitz zu halten, und rutschte zudem stetig von dem Polster, das meine Eltern mitgebracht hatten, um eventuell anstehenden Sichtproblemen aus dem Weg zu gehen. Als es aber still wurde, als die Musik begann, als die Streicher einstimmten, versank die Welt und löste sich auf in einem Sprühregen aus Musik und Farben.

Und manchmal, beim Einnehmen der Sitze, in jenem Moment zwischen der Unruhe des Tages und der Ordnung und Harmonie der Musik, eingeklemmt zwischen dem mokanten Lächeln der Freunde, gefangen in der Überfütterung zweier Jahrzehnte, steigt jener Moment noch einmal auf: Ganz neu, ganz rein, bar der Flut von Eindrücken, Interpretationen, dem ironischen Lächeln derer, die zuviel gesehen und gehört haben, um in jener Begeisterung aufzugehen, die kein Tropfen schwarzes Wasser färbt, und ich beneide die Kinder im Kleidchen oder im Samtanzug mit Schleife um den Hals, die zum erstenmal unter den Linden sitzen, wenn die Musik aufsteigt und der Vorhang sich öffnet.

Die ganze Wahrheit

„Süß schaut die Kleine aus.“, lobe ich das Erscheinungsbild meiner Nichte, und reiche Cousin L., dem Vater der Kleinen, die Bilder wieder über den Tisch. „Geht so.“, meint dieser, und blinzelt müde in die Sonne über der Kastanienallee. „Ist doch ein hübsches Kind.“, lege ich noch einmal nach, und lobe die dunklen Locken und grünen Augen der bald zweijährigen ziemlich pausbackigen Kleinen, die mit ihrer Mutter in Frankfurt am Main verblieben ist, nachdem Cousin L. nach knapp einjähriger Ehe erst die gemeinsame Wohnung, und dann Frankfurt verließ, um sich sodann in Berlin anzusiedeln.

„Modeste,“, unterbricht mein Cousin meine Lobreden auf die Nichte. „ich interessiere mich nicht für Kinder, du interessierst dich nicht für Kinder – und jetzt reden wir über irgendwas anderes.“ Die meisten Leute, gebe ich ein wenig erstaunt meinem Cousin zu verstehen, seien geradezu vernarrt in den eigenen Nachwuchs, und sprächen über überhaupt nichts lieber als die eigenen Kinder. Stets hätte ich angenommen, dies sei geradezu naturgegeben und beruhe auf biologischen oder psychischen Mechanismen, die man als kinderloser Mensch schlechterdings nicht verstünde. Cousin L. schnaubt ein bißchen, schaut ein wenig gelangweilt über die Karte, und entscheidet sich schließlich für einen Kaffee, ein Frühstücksbier und ein Käsefrühstück.

„Meine liebe Cousine,“, kommt es schließlich nach längerer Pause von der anderen Seite des Tisches, und Cousin L. beugt sich ein wenig nach vorn. Ich sei, so mein Cousin, einem bedauerlichen Irrtum aufgesessen. Mit dem Kinderhaben verhalte es sich vielmehr so:

Zwei Leute lieben sich. Man zieht zusammen, man versteht sich, und am Abend erzählt man sich gegenseitig den Verlauf des Tages, schimpft auf unfähige Professoren, macht sich über abstruse Veröffentlichungen im Rahmen der eher ausgefallenen Fachdisziplin lustig, der mein Vetter anhängt, und hat gemeinsam eine Menge Spaß.

Eines Tages aber, so fährt mein Cousin fort, und nimmt sein Käsefrühstück entgegen, ist die Dame des Hauses schwanger. Man müsse sein Arbeitszimmer räumen. Die Geliebte würde immer dicker und erzähle nur noch von Presswehen und Atemübungen, Hebammen und Holzwiegen, und immerzu riefe die Mutter des geliebten Wesens an. Berichte man selber von den Triumphen und Niederlagen des eigenen wissenschaftlichen wie privaten Lebens, so bekomme die Geliebte einen sonderbar abwesenden Gesichtsausdruck, und fange an, nachsichtig zu lächeln.

Irgendwann dreht sich der ganze Alltag nur noch um das Kind. Alle Freunde fragen immerzu nach dem Stand der Schwangerschaft, man werde gezwungen, dem wirklich sehr widerwärtigen Geburtsvorgang beizuwohnen, und wenn dies überstanden sei, sei man mit Kind und Frau zusammengepfercht. Immerzu schreie das Kind, die Geliebte existiere quasi nicht mehr und spreche immerzu über das Kind, und schließlich sei man aus purer Sorge um die eigene Produktivität und Nachtruhe gezwungen, im Gästezimmer zu schlafen, weil man sonst morgens in einem Zustand sei, der nur als desolat bezeichnet werden könne. Die Geliebte fange an, sich zu vernachlässigen, zöge unglaubliche Sachen an, und bliebe überdies ein wenig – nun: füllig.

Was das Kind gerade wolle, wisse man nie, und es brülle eigentlich immer. Schreiende Kinder seien noch nicht einmal hübsch, und wenn man einmal ausginge, einen Babysitter daheim, spräche die Kindsmutter die ganze Zeit nur über ihre Sorge, der Babysitter könne vielleicht weniger gut mit dem Kind umgehen als sie selbst. Der Umzug ins Gästezimmer werde zum Anlass unendlicher Streitigkeiten, man wohne schließlich zusammen mit einem schreienden Dämon und einer keifenden Megäre, und schließlich miete man sich in der WG einiger Bekannter ein Zimmer, um auch einmal ein bißchen für sich zu sein.

Der ganz unschuldig initiierte Teilauszug werde zum weiteren Diskussionspunkt, irgendwann habe man keine Lust mehr, abends nach Hause zu kommen, und schlafe dann eben auch in dem angemieteten Zimmer. Weil man mit vierzig eine WG nicht mehr in derselben Weise schätzen würde, wie dies 15 Jahre früher der Fall sei, miete man bei günstiger Gelegenheit eine kleine Wohnung, die Freundin ginge daheim die Wände hoch und verharre in einem emotionalen Zustand, der nur als höchst unangenehm empfunden werden könnte, und um weiteren Streitigkeiten aus dem Wege zu gehen, zöge man eben mit Sack und Pack aus.

Da sei er nun. Und von Kindern könne er nur energisch abraten.

Aus dem Leben meiner kleinen Schwester

„Hast du eigentlich schon einmal an Wimpern-Extensions gedacht? Ich war ja zuerst ganz begeistert, ich war schon fast auf dem Weg zu Douglas, aber dann habe ich mir gedacht, ich lass das, ich bin ja mehr so ein natürlicher Typ, und der T.²war sowieso dagegen. Ich weiß jetzt auch gar nicht, ob dir das steht, in der Vogue sieht ja immer alles toll aus, und du schminkst dich ja nicht einmal. Du könntest echt was aus dir machen, ich habe da auch mit Mama gesprochen, die findet das auch. Wenn eine hässlich ist – bitteschön! Aber wenn man gut aussieht, so an sich, und man macht dann nichts aus sich, das ist Sünde. Haben wir ja oft genug darüber gesprochen. – Hässliche Leute gibt´s genug, finde ich. Manchmal sieht man ja Frauen, da denkt man, wieso die nicht einfach zu Hause bleibt, hat ja eh keinen Sinn, aber das ist ja auch gemein, sowas darf man gar nicht denken.

Der T.² findet dich aber auch ganz hübsch. Also du, der hat soviele Kollegen, richtig nette Jungs, alles bestens, aber ohne Frau, weil die nämlich soviel arbeiten müssen, der T.² kommt auch immer erst ganz spät heim, und glaub nicht, dass die schlecht aussehen. Also im Gegenteil.

Wie „nein“? Die sind wirklich nett. Ich weiß nicht, was du gegen Berater hast, ich habe echt so genug von diesen verschlurften Typen, wenn ich so einen schon seh´. Der T.² findet aber auch, das ist Berlin, Kunst machen wollen und bis zum Hals im Dispo. Ich sehe das ja alles schon ein bißchen differenzierter, aber der T.², der sieht das so.

Nein, die Wohnung ist so eine Sache, der T.² muss so schrecklich viel arbeiten, im Urlaub ist ja alles liegengeblieben, und seine Kollegen, die kümmern sich um nichts, er macht alles alleine. Ich war aber heute in so einem Geschäft. Und dann noch in einem anderen. – Findest du Tapeten besser oder gemalte Wände? Man hat ja jetzt wieder Tapeten, aber ich habe mich noch nicht ganz wieder dran gewöhnt. Ich bin ja nicht so, „heute dies – morgen das“. Eine Badewanne habe ich auch ausgesucht, ich könnte ja nicht leben ohne Badewanne. Ich schick´ dir mal Photos, bis jetzt sieht man da aber bloß Baustelle, da wird nämlich noch gebaut.

….

Natürlich nehme ich den Hund mit – glaubst du, ich lasse den Hund einfach da? Du hast ja eine schöne Meinung von mir, wenn du denkst, ich bringe den Hund einfach ins Tierheim oder zur Mama. Eigentlich sind in dem Haus Tiere gar nicht erlaubt, aber da soll sich erst einmal einer beschweren, da kümmert sich der T.² schon drum.

Und bei Dir? Die Diss? Könnte ich gar nicht, so ein dickes Ding, da bin ich viel zu zappelig zu. Ich mache ja gern was mit Menschen. Und privat? Viel zu tun? Ach, du bist im Stress.

Dann lass uns doch demnächst nochmal telephonieren.“