Leben

19

O komm, Geliebte, komm, es sinkt die Nacht,
Verscheuche mir durch deiner Schönheit Pracht
Des Zweifels Dunkel! Nimm den Krug und trink,
Eh‘ man aus unserm Staube Krüge macht.

Omar Hayyam

Am Ende der Woche aber stehe ich bei P&C am Leipziger Platz und ziehe ein Kleid nach dem anderen an. Abstrakt mag ich starke Farben und Muster, aber rein praktisch sehe ich auch heute in den bunten Kleidern irgendwie sonderbar aus, und verlasse das Kaufhaus wieder mit Kleidung in beige und blau. Ich bin nämlich nicht nur Juristin. Ich ziehe mich auch so an.

In den Umkleidekabinen neben mir wird gelacht. Zwei Mütter und zwei Töchter probieren Kleider, offenbar für den Abiball, und die beiden Mädchen treten nacheinander in den tollsten Kleidern vor den Spiegel. Groß und rothaarig ist die eine, mit weißer Haut und schlanken Armen. Blond und strahlend die andere. Noch ganz glatt sind ihre Oberarme und Rücken, ihre Haare sehen, man kann es nicht anders sagen, saftig aus, und sicherlich sind auch ihre Zähne besser als meine. Ihre Mütter wirken dagegen fleckig und zerknittert, und auch ich mache in meinen blauen Etuikleidern vermutlich keine besonders gute Figur.

Für einen Moment beneide ich die Mädchen um ihre Vitalität. Die können bestimmt auch noch ausgehen, ohne sich tagelang zu fühlen wie Hackfleisch. Dann aber fällt mir ein, wie ich mit 19 in einem cremeweißen Kleid auf meinem Abiball stand; ich hielt gemeinsam mit einem Freund die Abirede und sah, glaubt man den Bildern, eigentlich wirklich ziemlich gut aus. Ich war ziemlich schlank, weil ich dreimal die Woche beim Sport war, ziemlich braun, weil ich immer draußen war, ich hatte lange, schwarze Haare und mein Kleid stand mir.

Ich fühlte mich fürchterlich.

Dass ich die verdammte Rede nicht hinter einem Vorhang halten konnte, setzte mir ernsthaft zu. Aus irgendeinem Grund nahm ich an, dass sowieso niemand mit mir tanzen wollen würde und behauptete deswegen, ich hätte zum Tanzen keine Lust. Ich hielt mich für eine etwas schwierige Einzelgängerin, dabei war ich im Vorjahr im Schülersprecherteam gewesen, feierte den ganzen Sommer bei lauter Leuten, die mich schließlich aus irgendeinem Grunde eingeladen haben mussten, und außerdem hielt ich mich für erotisch unvermittelbar, dabei stand mein Freund neben mir und mein Exfreund schlich irgendwo beleidigt um die Säulen.

Ich hätte eine großartige Zeit haben können. Ich wünschte, ich hätte sie gehabt. Wenn ich den fremden Mädchen in der Umkleidekabine neben mir einen Rat geben könnte, würde ich ihnen raten, sich für diesen Sommer zwischen Schule und Studium unwiderstehlich, unbesiegbar und wunderschön zu fühlen, und jedes Geschenk, jedes Lächeln und jedes Kompliment als berechtigten Tribut mitzunehmen, den das Leben ihnen vor die Füße wirft.

Doch die Mädchen bemerken mich nicht einmal, ich kaufe zwei blaue Kleider und einen Trenchcoat in beige, und im Gehen frage ich mich nur flüchtig, was mir in wiederum zwanzig Jahren leidtun wird von dem, was ich heute denke, mache, sage. Lasse.

Das Kleid

Dass man älter wird, bemerkt man ja nicht nur daran, dass die Freunde grau werden. Auch die Anlässe, zu denen man eingeladen wird, ändern sich. Ich weiß gar nicht, wann man mich das letztemal zu einem 30. Geburtstag eingeladen hat. Oder zu einer abgeschlossenen Promotion. Erst heute morgen sagte mir eine Freundin, ihre Freunde würden inzwischen zu den Konfirmationen ihrer Kinder einladen. Auch ich kenne definitiv mehr Leute, die schon verheiratet sind, als die sich noch zu verehelichen gedenken, und so spricht tatsächlich Einiges dafür, dass die in vier Wochen anstehende Hochzeit der lieben C. die letzte große Hochzeit im engeren Freundeskreis ist, auf der ich jemals tanze.

Ich freue mich auf diese Hochzeit. Die C. feiert auf einem Landgut, es wird Sommer sein, so richtig mit Pfarrer und langem Kleid, und außerdem mag ich ihren Mann und ihren Sohn, was die Feier der Dauerhaftigkeit dieser Verbindung natürlich erheblich aufwertet. Ich könnte mir also durchaus vorstellen, mir ein neues, besonders schönes Kleid zu kaufen, um auf dieser Hochzeit zu erscheinen.

Bei näherer Betrachtung besitze ich allerdings bereits ein Kleid, in dem ich Hochzeiten zu feiern pflege. Es ist altrosa, am Hals mit einer aufwendigen Stickerei versehen, eine Stola und einen Haarschmuck dazu besitze ich auch, und genug Zeit, um es reinigen zu lassen, habe ich auch. Die Sache hat allerdings einen Haken: Das Kleid ist zehn Jahre alt, weil damals besonders viele Freunde heirateten. Und ich war damals gut fünf Kilo leichter.

Nun sind fünf Kilo Gewichtsdifferenz für ein Kleid und vier Wochen an sich machbar. Ein Kilo pro Woche ist schaffbar, zwei Kilo kann man mit so einem Wäscheteil zum Zusammendrücken wettmachen, und entsprechend spricht eigentlich nichts für eine Neuanschaffung und alles für ein wenig, nein: eine Menge Zurückhaltung bei den Mahlzeiten der nächsten Wochen.

Drücken Sie mir die Daumen, meine Damen und Herren. Und führen Sie mich nicht Versuchung.

Von den Nachgeborenen

Die Stadt ist voller Toter. Sie glänzen als Stolpersteine auf den Bürgersteigen, allein in unserer Straße acht oder neun. Sie hängen als Gedenktafeln an Häusern. Manchmal bemerkt der F., dass die Toten heißen wie seine Freunde, und fragt nach, was sie getan haben, als sie in unseren Wohnungen gelebt haben, auf unseren Straßen herumgegangen sind, und wieso sie sterben mussten, fragt er auch. Wir erzählen ihm Teile der Wahrheit.

Die Stadt ist für einen Fünfjährigen ein Spielplatz, ein Labor, ein Moloch aus fremden Ideen, elektrisierenden Erfindungen, Leidenschaften aller Arten und den unglaublichsten Skandalen. An meiner Hand durchwandert der F. die Stadt, fragt nach Denkmälern und Straßennamen, Königen und Schlachten, und als wir am Sonntag aus dem Naturkundemuseum durch die Chausseestraße kommen, fragt er mich auch. Wer das denn sei, der Mann von der Tafel.

Puh, sage ich und fange an zu erzählen. Dass der Mann Gedichte und Theaterstücke geschrieben hat. Dass er erst viel Ärger hatte, weil er eine andere Regierung wollte, als die, die damals an der Macht war. Dass er im Krieg im Ausland gelebt hat, und dann wieder nach Berlin gekommen ist, als Leute die Regierung bildeten, die er für seine Freunde hielt. Dass ich glaube, dass er am Schluss enttäuscht war und feststellen musste, dass seine vermeintlichen Freunde keine waren.

Es ist schade um die großen Träume, denke ich, aber das sage ich dem F. noch nicht.

Dass seine Frau eine berühmte Schauspielerin war. Dass er geraucht hat. Dass er Frauen mochte, findet der F. gut, der auch Mädchen sehr gern hat und ein bestimmtes Mädchen heiraten will, das sehr gut malen und kämpfen kann, wie er findet. Theater findet er auch gut, und Bücher schreiben hält der F. auch für sehr, sehr toll. Aufgrund eines schwer zu beseitigenden Missverständnisses glaubt der F., dass alle Leute Bücher schreiben, und der einzige Unterschied zwischen erwachsenen Leuten darin besteht, ob diese Bücher ausgedacht sind oder nicht.

Im Innenhof krame ich in meinem Gedächtnis nach einem der Gedichte, um es dem F. aufzusagen. Ich kenne ziemlich viele Gedichte auswendig, weil mein Großvater seine Enkel gezwungen hat, sonntags Gedichte aufzusagen. Brecht war da aber nicht dabei. Schiller und Goethe lernte man damals, Uhland, Eichendorff, so etwas, dabei war das ungefähr 1985 und der arme B. B. schon lange tot.

Es ist ruhig in dem Hof, die Kastanienblätter wippen im Wind. Es sieht ganz unberlinerisch aus, kleinstädtisch, es könnte auch in Augsburg sein oder in einem böhmischen Dorf, und als ich das denke, fällt mir doch das Lied von der Moldau ein, aber das singe ich nicht in diesem leeren Hof unter den geöffneten Fenstern, hinter denen Leute sitzen, die mich hören.

Dass er nebenan auf dem Friedhof liegt, erzähle ich dem F., und der will dann gleich auf den Friedhof. Da stehen wir dann zwischen all den großen Toten, den Brüdern Herzfelde, der zweifelnden, harrenden Christa Wolf und Anna Seghers, Heinrich Mann und seiner schon fast überwucherten Frau, die sein Bruder nicht mochte, der Ruth Berghaus, deren Barbier vielleicht auch der F. noch sehen wird, und dem große G. F. Hegel.

Es ist ruhig hier, grau und maigrün. Auf den alten Steinen flirren die Schatten der Blätter, und als wir vor dem Grab Brechts und der Helene Weigel stehen, knie ich mich neben den F. und singe ihm ganz leise ein paar Zeilen der Marie A. ins linke Ohr.

Ich hätte ihm gern einen schönen Stein aufs Grab gelegt, sagt der F., als wir gehen.

Sommerkind

Es gab, erzähle ich dem F., vier Zelte in diesem Sommer. In jedem Zelt schliefen zehn Kinder. Es gab ein Mädchenzelt und drei Bubenzelte, und etwas abseits der Zelte eine Hütte mit zwei Duschen, zwei Toiletten und einer Kochgelegenheit mit zwei Platten und einer großen Flasche Gas. Vor der Hütte standen lange Bänke, da gab es das Essen.

Ich trug den ganzen Sommer dieselben Shorts und immer abwechselnd einen meiner beiden Badeanzüge in rot und blau. Ich war zehn, ich hatte einen kurzen Pagenkopf und war so braun gebrannt, dass meine Fingernägel wie weiß lackiert aussahen, weil Nagelbetten nicht bräunen.

Es gab, erzähle ich dem F., jeden Morgen Haferflocken mit H-Milch. Wir standen sehr früh auf und ruderten auf den See hinaus, wir schwammen, wir hatten abwechselnd Küchendienst und aßen zwei Wochen lang jeden Mittag im Wesentlichen wechselnde Eintöpfe mit Würstchen aus dem Glas und abends gab es den Inhalt diverser Bundeswehrverpflegungspakete. Ich weiß noch, wie das Schmalzfleisch riecht. Und wie der Früchtereis. Und Schweinefleisch mit Bohnen. Neben den Vorräten stand ein Wäschekorb mit mehligen, leicht angeschlagenen Augustäpfeln vom Bauern nebenan.

Jedes Zelt hatte ein Abzeichen, das hatten wir selbst in den ersten Tagen des Zeltlagers gebaut. Unser Abzeichen war der Delphin. Uns gegenüber waren die Raben, rechts die Wölfe. Das vierte Abzeichen weiß ich nicht mehr. Nachts wurden Wachen eingeteilt, die die Zelte bewachten, damit die anderen das Abzeichen nicht stahlen, vielleicht auch, damit die Füchse nicht an die Vorräte gingen, und wenn man eine gute Freundin hatte wie ich die N., teilte man sich die Nachwachen, saß also zweimal die ganze Nacht auf dem Rasen vorm Zelt und flüsterte seine Geheimnisse einander ins Ohr. Ich habe jedes einzelne Geheimnis vergessen.

Natürlich, erzähle ich dem F., gelang es trotzdem, jedes einzelne Abzeichen zu entwenden. Es war Ehrensache, das Rätsel, mittels dessen man das Versteck des Abzeichens finden konnte, nicht so schwierig zu gestalten, dass die andere Mannschaft ihr Abzeichen nie wiederfinden würde, auch wenn das natürlich ohne Weiteres möglich gewesen wäre, und so waren wir vermutlich sogar noch etwas bestürzter als die Raben, als die ihr von uns verstecktes Abzeichen nicht wiederfanden, dabei war das Rätsel (wir waren uns einig) geradezu lächerlich leicht.

Als unser Abzeichen verschwand, mussten wir nicht einmal suchen, der hölzerne Delphin stand nämlich auf dem Dach der Hütte. Nur die Leiter war weg. Dass ich herausgefunden habe, dass die Leiter unter einer kleinen Brücke versteckt war, macht mich noch heute stolz. Tauchen konnte ich aber nicht so gut, deswegen gehörte ich nicht zu dem Tauchtrupp, der die Leiter holte. Ich weiß aber noch, dass ich die Leiter festhielt, auf der die N. strichdünn und braun und mit fast weißen Haaren auf das Hüttendach stieg und den Delphin holte.

Ich glaube, es war dieser Sommer, in dem ich gleich zweimal die wöchentliche Regatta der Mädchen gewann und ein rotes Sparschwein bekam, das die Sparkasse gestiftet hatte und auf das ich sehr stolz war. Ich weiß noch, wie das Gras roch, in dem wir lagen. Ich weiß, dass wir den Geburtstagskindern Blumenkronen flochten, ich weiß, wie sich die reifen Ähren an nackten Beine anfühlen, wenn man am Feldrain läuft, und ich freue mich darauf, dass auch auf F. in gar nicht wenig Jahren die größten Sommer warten.

Die Liebe en miniature

Manchmal, nicht gar allzu oft, fliegen sie ja doch auf, die kleinen Fluchten. Nehmen wir beispielsweise den mir über seine Schwester, die A., bekannten Herrn O., der in einer Berliner Kanzlei irgendwas mit Immobilien macht und mit seiner Frau, einer Juristin in der Brandenburger Kommunalverwaltung, am Stadtrand von Berlin rechtschaffen und tief verankert im evangelischen Glauben zwei Töchter erzieht.

Im Leben von Herrn O. ist das Konzept der Work-Life-Balance noch nicht angekommen. Jeden Morgen um halb acht geht er aus dem Haus, bringt die Töchter zur Kita und zur Schule, fährt weiter ins Büro, arbeitet unterbrochen durch eine kurze Mittagspause bis 20.30 und fährt dann nach Hause. Außer, es ist richtig was los. Dann arbeitet Herr O., bis er fertig ist. Einmal wöchentlich geht er zum Sport und drückt und schiebt sehr ungern Gewichte, weil ihm sein Arzt ein moderates Krafttraining empfohlen hat. Jede Woche liest Herr O. ein Buch, gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern geht er regelmäßig in die Philharmonie. Herrn O.s Leben als ausgeglichen zu beschreiben, wäre alles in allem eher eine Untertreibung.

Von irgendwelchen Abwegen, auf die Herr O. sich begeben hätte, hörte man bislang nichts. Sogar seine Schwester, die ihm wirklich wohl will, beteuerte über Jahre, er habe gar kein Liebesleben, denn seine Ehe sei schon eher mehr so eine Arbeitsgemeinschaft zur gemeinsamen Bewältigung von Kindern und Haushalt und völlig frei von Leidenschaft. Vermutlich, so behauptete die A. schon lange, habe ihr jüngerer Bruder mehr S*x als ihr ältester Bruder Herr O., und der sei bei Licht betrachtet ein schon eher schwieriger Fall.

Ganz ohne Liebesleben lebt es sich aber selbst bei sehr reduzierten Ansprüchen offenbar nur mäßig. Mancher hätte sich einfach frisch verliebt und scheiden lassen, doch für so eine ganz neue Liebe ist Herr O. zu zurückgezogen, außerdem scheut er vermutlich die Mühen der Reorganisation seines Privatlebens, und so hat er sich anscheinend für eine Art Trockenübung der Liebe entschieden: Er hat sich durchaus verliebt, offenbar in eine Referendarin des Hauses, dem er angehört, dieser jungen Dame aber nie ein Wort über diese Neigung gesagt.

Um von der Verliebtheit trotzdem auch ein bisschen was zu haben, unterhielt Herr O. ein Buch. In dieses Buch schrieb er alles, was er über die junge Dame erfuhr, jede Begegnung, überhaupt alles, was ihn und sie gemeinsam betraf, und ab und zu las er in diesem Buch seine nicht ausgelebte Liebe nach. Mancher mag das kümmerlich finden, aber Herrn O. war das entweder genug oder er konnte nicht aus seiner Haut, und vielleicht hätte die Referendarin ihn ja auch gar nicht erhört. Ich glaube nämlich, Herr O. ist ein bisschen fade.

Vor einigen Wochen, ein Sonntag war’s, kam es dann aber doch zur Katastrophe. Herr O. hätte vielleicht besser eine elektronische Datei mit einem Passwortschutz unterhalten, aber wie auch immer: Seine Frau fand das Buch. Und las es in einem Sitz durch.

Vermutlich wäre es am vernünftigsten gewesen, es einfach zu ignorieren. Oder darüber zu lachen, denn schließlich ist rein gar nichts passiert, nicht einmal in der Wahrnehmung einer evangelischen Kommunalbeamtin, aber die Frau des O. reagierte bemerkenswert umsouverän und wollte sich erst unter Tränen trennen und dann eine kniefällige Entschuldigung und eine Therapie.

Nun fragt sich vermutlich auch der geneigte Leser, was genau eine Therapie ausrichten soll, wenn einer sich lautlos verliebt, und vielleicht unterschätze ich die Therapeutin auch, und es gelingt ihr, dass der Herr O. sich künftig nicht mehr zu fremden Fräuleins, sondern bekannten Ehefrauen hingezogen fühlt, aber tatsächlich, und da stimme ich mit seiner Schwester A. überein, spricht Einiges dafür, dass der A. selbst auf seinen MIniaturabwegen unser aller Mitleid in überreichlichstem Maße verdient, wie er in der Praxis einer Westberliner Therapeutin unglücklich und ohne Aussicht auf wahrhafte Besserung herumsitzt.

Herzlichen Glückwunsch

Als wir ankommen, schaut das Geburtstagskind uns an, als hätte es uns noch nie gesehen. Ich vermute einen Zuckerschock und jubele noch etwas lauter, damit der Kleine mich inmitten seiner Glucosewolke überhaupt bemerkt, der J. allerdings schnappt, unhörbar für Dritte, mehrmals nach Luft. Neben uns steht der F., streckt dem Geburtstagskind sein Geschenk entgegen und hält ihm stolz die selbstgeschriebene Karte unter die Nase. Sekunden später landen Geschenk und Karte auf dem Boden, das Geburtstagskind rennt weg und nimmt den F. mit. Den Rest des Tages sehe ich vom F. so gut wie nichts.

Möglicherweise waren frühere Kindergeburtstage schon genauso anstrengend, aber nach einer gewissen Zeit der Abstinenz habe ich das verdrängt. Normalerweise finden fünfte Geburtstage nämlich ohne Eltern statt. Heute soll aber ein Frühlingsfest unter Beteiligung der Eltern stattfinden, und deswegen sitzen wir auf der wirklich schönen Terrasse der Gastgeber, trinken Sekt und sprechen mit den anderen Eltern.

An und für sich mag ich die anderen Eltern tatsächlich recht gern. Die meisten haben interessante Berufe, sagen interessante Sachen und sehen gut aus. Gemessen an den Leuten, über die man in Zeitungen lesen kann, sind sie vermutlich auch ziemlich gute Eltern, die vom Babyschwimmen über PEKiP bis zum Kinderyoga nichts auslassen und jeden Abend vorlesen. Auch die Kinder sind zum größten Teil nette Kinder. Wenn man den Eltern aber glauben möchte: Zur Hälfte hochintelligent. Zur anderen Hälfte hochsensibel.

Die eine Mutter ist jedenfalls schon heute, 18 Monate vor der Einschulung davon überzeugt, dass die Schule um die Ecke nie im Leben geeignet wäre, ihrer Tochter gerecht zu werden. Die sei nämlich so unglaublich weit und so sagenhaft ehrgeizig, das könne gar nichts werden. Normale Schulen seien nämlich nur auf normale Kinder vorbereitet, und wenn ein Kind schon mit vier so viel könne wie andere drei Jahre später noch nicht, wären Langeweile und eine einsame Außenseiterposition die natürliche Folge. Die Mutter hat sich deswegen schon quasi alle Schulen Ostberlins angesehen und kennt alle Konzepte, von denen ich noch nie gehört habe.

Von den reformpädagogischen Schulen ist sie nicht so angetan. Ihre Tochter sei für so einen Kuschelkurs viel zu ehrgeizig, sagt sie, und streichelt der Tochter, die alle zwanzig Minuten angelaufen kommt, weil die anderen Kinder sie nicht mitspielen lassen würden, ermutigend über den Rücken. Ich kenne das sehr hübsche Mädchen in erster Linie als ein Kind, das fast jeden Morgen in Tränen ausbricht, wenn es im Kindergarten abgegeben werden soll, und sich überaus schnell langweilt. Besondere Fähigkeiten habe ich noch nicht bemerkt, aber gut, ich bin auch nicht immer dabei. Ich muss auch abwesend gewesen sein, als die Mutter des Geburtstagskindes die Führungspersönlichkeit ihres Sohns entdeckt haben will, der im Kindergarten oft, egal, wann ich komme, allein am Zaun steht und sehnlichst darauf wartet, abgeholt zu werden.

Eine andere Mutter dagegen hat panische Angst vor Leistungsdruck. Überhaupt sind sich alle einig, dass die Schule mit ihren verständnislosen Konformitätsanforderungen ein fürchterlicher Schock werden wird, zumal Lehrer ja oft nichts von Pädagogik verstehen und deswegen nicht begreifen, dass sie in erster Linie als Coach der Kinder zu fungieren haben. Zudem sei es die Aufgabe der Lehrer, vernehme ich, die Kinder zu motivieren. Wenn die Kinder nicht richtig mitgerissen würden, sei es kein Wunder, wenn die nicht mitmachen. Kurz öffne ich den Mund, um zu bedenken zu geben, dass es meines Wissens noch nicht erlaubt ist, die Abiturprüfung mit der Aussage zu bestreiten, zum Erwerb des abgefragten Wissens habe der jeweilige Fachlehrer den Prüfling leider nicht motivieren können, aber dann halte ich den Mund und fülle mein Glas nach.

Irgendwo im Hintergrund wickeln die Kinder in zwei Mannschaften andere Kinder um die Wette in Toilettenpapier. Angeblich haben danach beide Mannschaften gewonnen, was mich daran erinnert, dass nach dem letzten Sportfest in der Kita sich tatsächlich Eltern beschwert haben, weil nicht alle Kinder Medaillen bekommen haben. Vermutlich waren das dieselben Eltern, die gefordert haben, dass die Gruppensprecher nicht gewählt, sondern einfach abwechselnd bestimmt werden.

Die Kinder rennen inzwischen seit mehreren Stunden durch den Garten. Es gibt Kartoffelsalat und Würstchen, die mein Sohn peinlicherweise als „verbrannt“ geißelt, die Eltern erzählen sich gegenseitig, wohin sie verreisen, und die Kinder nehmen ihre Mitgebseltüten in Empfang. Mein F. hat sehr rote Backen und schwitzt wie nichts Gutes, springt von einem Bein aufs andere Bein, und hüpft den ganzen Weg bis nach Hause. Sehr ruhig und sehr klein sieht er aus, als eine halbe Stunde später im Bett liegt und schläft. „Mein Süßer!“, flüstere ich ihm zu, als ich ihn wieder zudecke und ihn auf sein rechtes Ohr küsse. Mein kleiner, hübscher, freundlicher und ganz normaler F.

Tunichtssonntag auf dem Sofa

Es gehört zu den subtileren Formen elterlicher Angeberei, die (meist mütterliche) Erschöpfung in drastischen Farben auszumalen. Da wurde dann angeblich seit Jahren nicht mehr auch nur ein einziges Wochenende ausgeschlafen, an ungestörtes Bücherlesen oder Duschen wäre nicht mehr zu denken, die Wohnung von den Kindern bis in die letzte Ecke okkupiert, ausgegangen würde auch nicht mehr, auf dass das geneigte Publikum erschaudernd vor diesem schier unglaubliche Grad elterlicher Selbstaufgabe bewundernd die Köpfe neige. Erstaunlicherweise funktioniert zumindest im virtuellen Raum diese an sich etwas billige Strategie offenbar ganz gut, zumindest klopfen sich die beteiligten Mütter in den Kommentaren einschlägiger Blogs gegenseitig stundenlang auf die Schultern, Heldinnen allesamt.

Ich dagegen habe nach Ansicht dieser Märtyrerinnen des häuslichen Lebens vermutlich irgendetwas falsch gemacht. Oder mein Kind ist komisch. Jedenfalls habe ich heute bis halb zehn ausgeschlafen, während der fünfjährige F. ab einem unbekannten Zeitpunkt im Schlafanzug Müsli gegessen und ein Legoraumschiff gebaut hat. Dann habe ich das Schostakowitsch-Buch von Barnes zuende gelesen und sehr gemocht, immer noch im Bett Kaffee getrunken und bin sehr, sehr langsam aufgestanden. Der F. hat währenddessen seine Hörspiele gehört, kam ab und zu ins Schlafzimmer und unterhielt sich mit mir über Eisbären, ausziehbare Feuerwehrleitern und das Höchstlebensalter von Nutztieren und verschwand dann jeweils wieder in seinem Zimmer.

Auf dem Sofa im Wohnzimmer lag der geschätzte Gefährte J., schaute Serien und las. Wir hatten gestern sehr lange Besuch, deswegen sah die Wohnung noch so ein bisschen schlimm aus, dafür gab es heute noch Reste des Essens von gestern, Eis, Kartoffelgratin und eine Möhrensuppe von Zuckerzimtundliebe. Vom Huhn, Radicchio und der Mousse au chocolat war leider nichts mehr da.

Später am Tag gingen wir spazieren und brachten Freunden am Kollwitzplatz ein bisschen afrikanischen Kaffee vorbei, von dem wir einen Riesensack geschenkt bekommen haben. Es war regnerisch und kalt, der F. hatte nach kürzester Zeit keine Lust mehr, deswegen fuhren wir mit der Tram zurück. Ich badete ausführlich und schlief. Im Halbschlaf hörte ich den F. Klavier üben. Dann baute er sich eine Höhle.

Abends nahm auch der F. ein Bad, sah in der Mediathek die dieswöchige Sendung mit der Maus und sprach beim Abendessen, japanischen Nudelsuppen, die uns der Lieferdienst foodora nach Hause brachte, über die Herstellung von Kunststoffen und den zweite Weltkrieg. Im Bett las ich ihm zwei Kapitel aus einem Buch der von ihm überaus geschätzten Kinderbuchreihe „Das magische Baumhaus“ vor, in dem der junge Mozart auftaucht. Wenige Minuten später fiel er in Tiefschlaf.

Hier sitzen wir nun. Der J. sieht einen Film. Ich lese im Netz. Von gestern haben wir noch einen Rest Weißwein, ein Riesling Kabinett, 2015, von K. H. Schneider. Dann gehe ich wieder schlafen. Ich lese von Rudolph Herzog „Truggestalten“, so ein Buch über Berliner Gespenster, und lösche das Licht noch vor Mitternacht. Irgendwo in der Dunkelheit da draußen japsen die von den wochenendlichen Strapazen total erschöpften Netzübermütter nach Luft und fallen in einen kurzen, ständig von weinenden Kindern gestörten Schlaf, der dann irgendwann in den sehr frühen Morgenstunden endet, wenn sie mit den Hühnern aufstehen, welche, sieht man ganz genau hin, hin und wieder herzhaft lachen.

Schwimmen

Man spricht mich vor einigen Wochen an von befreundeter Seite. Von ursprünglich zwölf Kindern aus des F. Kitagruppe, die ursprünglich gemeinsam den Schwimmkurs besucht haben, seien nur noch drei dabei. Die anderen weigerten sich kategorisch. Einige Mädchen seien von der Kälte im Schwimmbad krank geworden. Andere würde sich vor der Schwimmlehrerin fürchten. Mehrere Buben hätten schon am Donnerstag Abend geweint bei der Vorstellung, am nächsten Tag wieder von der Schwimmlehrerin angebrüllt zu werden. Andere hätten den halben Kurs auf einer Strafbank verbracht und weigerten sich nun zurückzukehren. Ob ich nicht auch endlich den F. von der Tortur befreien möchte.

Ich bin tatsächlich besorgt. Die Eltern sind beim Schwimmen nicht dabei, der Kurs wird von der Kita vermittelt und von einem Verein durchgeführt. Die Kinder werden mit einem Kleinbus abgeholt und zurückgebracht. Das ist nicht ganz billig, aber trotzdem hatten quasi alle Eltern der Gruppe ihre Kinder angemeldet. Der nun verbliebene klägliche Rest der Gruppe der Fünfjährigen sei nun der Gruppe der Sechsjährigen zugeschlagen worden, weil sich eine Gruppe von nur drei Kindern für den Verein nicht lohnt.

Am selben Tage befrage ich den F. Er ist müde, an den Schwimmtagen ist er immer unglaublich müde und isst ein Kilo Nudeln, sechs Äpfel und ein Pfund Emmentaler Käse dazu. Danach macht er es sich auf meinem Schoß bequem und lässt sich vorlesen. Wir lesen „Das magische Baumhaus“, von dieser Reihe gibt es quasi 50 Stück.

Kurz vorm Auftauchen des Riesenkraken auf Seite 60 unterbreche ich kurz meine Lektüre. Ob er eigentlich gern zum Schwimmen gehe, frage ich den F. Dieser nickt ungeduldig. Ja, sei schon okay. Ob die Lehrerinnen laut sprechen, frage ich. Ja, bestätigt der F. bewundernd. Die eine Lehrerin habe sogar eine Trillerpfeife. So eine will der F. auch, aber in rot.

Ob es kalt sei im Schwimmbad, bohre ich weiter, und der F. nickt. Es sei irre kalt, sehr, sehr kalt. Zu kalt für Mädchen, die wären deswegen alle abgemeldet. Er würde aber quasi nie frieren und seine beiden Freunde auch nicht, weil sie eine so dicke Haut hätten wie die Wale im Meer.

Auch auf weiteres Befragen stört ihn nach eigener Aussage nichts. Die Lehrerinnen seien eben laut, weil es im Schwimmbad laut sei. Die Strafbank nur für die Kinder bestimmt, die so doll zappeln, dass sie hinfallen und sich die Haxen brechen könnten. Es gebe eine einzige Schweinerei, betreffend den Schwimmkurs, die in dem Umstand bestehe, dass der sechsjährige V. bereits sein Schwimmabzeichen habe, der F. aber nicht. Das sei sehr ungerecht. Der F. denkt, sollte sich dieser Skandal perpetuieren, an ein gerichtliches Vorgehen gegen den V.

Ich bin zunächst beruhigt. Offenbar, so denke ich mir, sind die anderen Kinder etwas überempfindlich. In den nächsten beiden Wochen aber häufen sich weitere Ansprachen durch andere Eltern, die ebenfalls Kälte, harsche Umgangsformen und üblen Leistungsdruck bemängeln. Mehrmals spreche ich den F. an, der überhaupt nicht zu verstehen scheint, was ich meine.

Drei Wochen nach der ersten Ansprache werde ich tatsächlich etwas nervös. Ist mein Kind etwa ein seelischer Dickhäuter? Sind alle anderen Kinder sehr sensibel, und nur meins findet brüllende Leute, die drakonische Strafen aussprechen, normal? Was sagt das eigentlich über mich aus? Und habe ich nicht erst kürzlich gelesen, das Zeitalter der harten Kerle sei vorbei, und nun sei emotionale Intelligenz gefragt, die jemand vielleicht nicht besitzt, der angesichts schreiender Trainerinnen an nichts weiter denkt als an sein schnellstmöglich zu erringendes Schwimmabzeichen? Transportiere möglicherweise ich unterschwellig und ohne jemals darüber zu sprechen einen erbarmungslosen Leistungsdruck, den ich selbst mangels eigener Sensibilität gar nicht bemerke? Leidet der F. und merkt es einfach nur nicht?

Am Donnerstag Abend, einen Tag vor dem nächsten Schwimmkurs, spreche ich den F. also noch einmal an. Ob er morgen zum Schwimmen gehen möchte, frage ich. Auf jeden Fall, antwortet der F. aufgeregt. Ansonsten würde nämlich vielleicht das Schlimmste eintreten und die Nachbarstochter vor ihm die ersehnte Prüfung ablegen, und dann würde er leider so traurig werden, dass er vielleicht den ganzen Samstag weint und Papier zerreissen müsste.

Was soll ich sagen. Beruhigend ist das alles nicht.

Alles über seine Mutter

Als Vater macht man ja schon fast alles richtig, wenn man einmal die Woche von der Kita abholt und weiß, wie die Erzieherin heißt. Eine Mutter, die sich in exakt diesem Umfang engagieren würde, würde von den anderen Müttern zum Zeichen ihrer abgrundtiefer Verachtung vermutlich gesiezt. Doch nicht nur die anderen Mütter beobachten das mütterliche Engagement ganz genau. Auch die Kinder selbst führen, ich weiß das genau, eine geheime Buchführung.

Anders als die anderen Mütter glauben, geht es dabei nicht um selbstgenähte Kostüme oder selbstgebackene Kuchen. Am ehesten kann man die intensive Beobachtung vermutlich mit dem Verhältnis eines Ornithologen zu einem ganz besonderen Vogel vergleichen. Der F. etwa hat schon mehrfach gefragt, wie groß ich bin, und erst kürzlich versucht, einen Blick auf das Display meiner Waage zu werfen. Ich bin dann schnell abgestiegen, um zu verhindern, dass nicht nur der F., sondern die ganze Kita mein Körpergewicht kennt und sich ungläubig weitererzählt, wie schwer eine ganz normalen Frau werden kann. Ich bin nämlich, das nur am Rande, die dickste Mutter der ganzen Kitagruppe.

Ansonsten recherchiert der F. vorwiegend mittels ausgefeilter Interviews. Meine Lieblingsfarbe. Was ich am liebsten esse. Mein Lieblingstier. Tassen, die ich nicht mag. Wovor ich mich fürchte. Mein Lieblingsbuch als Kind. Welches Denkmal in Berlin gefällt mir am besten. Ergänzend zu bohrenden Fragen beobachtet der F. sein Studienobjekt. Das geht manchmal auch schief, so glaubt der in meinem Büro ja nicht anwesende F. wirklich, ich äße am allerliebsten Salat und Gemüse und könne Schokolade nicht leiden. Seinen vorläufigen Höhepunkt allerdings fand die Recherche kürzlich, als ich morgens davon erwachte, dass der F. mit seinem neuen Zollstock versuchte, meine Füße zu vermessen.

Bisweilen fürchte ich bei solchen Gelegenheiten, dass der F. eines Tages aus den Ergebnisse seiner Forschung eine mehr oder weniger schonungslose Veröffentlichung machen wird, mit der ich dann leben muss. Dann aber fällt mir ein: Es wäre nur fair, würde er eines Tages über seine Mutter einen fiesen Roman verfassen.

Oder ein kleines, milde spöttisches Blog.

Im Kino

Ich gehe ja nicht so oft ins Kino. Dabei laufe ich keine fünf Minuten zum nächsten, sehr schönen Kino, das dazu noch ein wirklich gutes Programm hat. Es hat also etwas mit mir zu tun, nicht mit den Umständen, die in meinem Fall eben keine widrigen sind. Wenn Berlinale ist, muss ich aber ins Kino, denn wenn ich sogar dann zuhause bliebe, kann ich eigentlich auch gleich in die Uckermark ziehen und vom Sofa aus den Kühen beim Grasen zuschauen.

Leider sehe ich quasi nie aufregende Premieren mit Prominenten oder so, weil mir niemand Karten schickt und ich es nicht schaffe, um Punkt 10.00 Uhr, wenn der Vorverkauf beginnt, Karten zu kaufen. Ich gehe also dahin, wo ich Karten bekomme und schaue mir Filme an, die dann auch gern einmal von dem Leben in einer japanischen Nervenklinik handeln oder von dem Coming Out eines mongolischen Hirten. Dieses Jahr habe ich im Berlinaleprogramm nur zwei Filme gesehen.

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Soul war sehr toll. Wie Sie, meine sehr verehrten Leserinnen und Leser, wissen, esse ich wahnsinnig gern. Ich mag alle Foodblogs, sogar die ohne Fleisch, und wenn es nach mir geht, photographiert jeder von Ihnen immerzu alles, was er isst, und postet es auf Facebook. Natürlich mag ich auch die Sektion „Kulinarisches Kino“, in dem immer irgendwie um Essen geht, in diesem Film um zwei Dreisterneköche, den jungen Basken Eneko Atxa und den alten Sushimeister Jiro Ono. Auf den ersten Blick unterscheiden sich beide in so gut wie allen Punkten, die einem überhaupt einfallen. Auf den zweiten eint beide eine Ernsthaftigkeit im Umgang mit Essen, eine Haltung, die sehr schön ist, sehr würdevoll, wie immer, wenn man Menschen bei der Arbeit beobachten darf, die ihre Arbeit lieben. IMG_3747

Der zweite Film „Joaquim“ war nichts. Nachdem ich vor ein paar Wochen in Jarmuschs „Paterson“ ziemlich lange gebraucht habe, um mich aus meinem ziemlich rasanten Alltag so zu verlangsamen, dass ein langsamer Film mich nicht nervös macht, habe ich alle langsamen Filme ausgeschlossen und einen Film über einen brasilianischen Freiheitskämpfer ausgesucht. Revolutionäre sind ja oft sehr unterhaltsam, wenn man die Revolution nicht gerade mitmachen muss, und außerdem mag ich Kostümfilme.

Dieser Film war allerdings so öde, dass ich mich immer noch frage, wie es dem Regisseur gelungen ist, einen zahnausreißenden Offizier, Goldsucher und Liebhaber so langweilig zu porträtieren wie eine schlafende Stubenfliege. Gott, es war die schiere Ödnis, und nach einer Stunde verließen der J. und ich das Kino, um für unsere 12 EUR Babysitterstundenlohn andernorts mehr Spaß zu haben. Wir waren dann erst essen und dann Bier trinken in einem dieser neuen Craft Beer Brauhäuser, die irre viele Biere on tap vorhalten, deren Phantasiebezeichnungen sich keiner merken kann.

Nicht Teil der Berlinale, aber am allerbesten war allerdings der dritte Film: The Salesman, den ich vermutlich nicht beschreiben brauche, weil ihn jeder gesehen hat wegen der vielen Preise und Nominierungen, die, ich schwöre es, jede einzelne hoch verdient sind, weil dieser Film so dicht ist, so klug, so filigran und gleichzeitig so selbstverständlich daherkommt, in einem Zuge von einem Überfall handelt, und von der Frage, wer ihn begangen hat, und welche Rache am Täter geübt werden darf. Von einem Paar, das dadurch in eine Krise gerät. Von einer morschen Gesellschaft, von brüchigen Werten, von einer maroden Stadt, und trotzdem den Optimismus hinterlässt, dass es vielleicht doch Bewegung in kleinen Schritten, Barmherzigkeit und Liebe geben kann, auch wenn jede einzelne Person in ihrem Referenzrahmen gefangen ist wie in einem rostigen, aber unüberwindbaren Käfig.