Schnipsel

Am Rande der Schrauben

Sich am Ende der Woche zwischen den Mühlsteinen herauswinden. Ins Tageslicht blinzeln, die Hände vor die Augen schlagen und die Lippen zusammenpressen: Nicht schreien. Statt dessen einfach weiterlaufen und so tun, als sei alles in Ordnung, als sei die Welt ganz, und die Taubheit normal. „Ich bin ganz schön alle.“, zu sagen, und alle lächeln und nicken, als sei das völlig in Ordnung, und haben dabei sogar auch noch recht.

Am Samstag zu früh aufwachen von den Hammerschlägen im Kopf. Herumlaufen. Tüten am Arm. Am Abend zu tun, als sei man jemand, an den man sich lose erinnert. Ein Restaurant auszusuchen (schade, das nächste Mal – für zwei um acht?), einen Tisch zu reservieren, sich die Lippen rot zu malen und sich anzuschauen für eine Minute im Spiegel im Bad. Links ist es schlechter als rechts, denke ich, aber das sieht man nicht, und dann geht es los. Mit dem Taxi die Invalidenstraße abwärts, vorbei an den Bars, am Hauptbahnhof, über die Spree, die – stelle ich mir vor – jeden Moment heiß werden, gar brennen könnte, und all die Asche rieselte weiß über die Stadt und deckte uns alle zu und es würde still, der Himmel lastete schwer auf der rissigen Erde und es wäre vorbei.

Anders

„Dich habe ich mir anders vorgestellt.“, höre ich zweimal in wenigen Stunden unter der blauen Kuppel des Museums, und mich fröstelt ein wenig. Dass man so gar nicht man selbst sein kann, in all den Spiegelungen, denke ich bei mir. Nicht nur dort, wo man weiß, dass man in fremden, nur halbwegs anverwandelten Kleidern seine Rollen spielt, seine Stunden auf der Bühne. Dass man selbst dort, wo man nur sich selbst darstellt, bekleidet nur mit den armen Fetzen der eigenen Haut, dass man selbst dort so ganz unidentisch scheint mit sich selber, nirgends erkannt, und nie ganz deckungsgleich mit dem eigenen Bild.

Dass bist nicht du, sage ich zwei Stunden später zu der Frau im Spiegel, und jene lächelt und nickt mir zu.

August

Ach, aber bitte einen Sommer mit rotem, riesengroßen Mond, und die Spree muss zäh und ölig südwärts fließen, und die Luft so warm und schwer die Stadt anfüllen, dass man nicht mehr weiß, wo die Luft aufhört, und die eigene Haut beginnt. Die Füße in den Sand der Strandbars graben. Einen Eiswürfel im Mund umherwälzen, bis sich die Lippen feucht und kalt anfühlen, und küssen, küssen, küssen, als sei der Sommer der letzte, und ein allerletzter ungewiss.

März

Eines Morgens aber – Samstag vor einer Woche – wird die Luft etwas leichter. Die Moleküle scheinen weniger eng verbunden zu sein als noch vor ein paar Tagen. Die Winde tänzeln über dem Asphalt, statt starr, geballt wie eine Faust, einer am anderen zu haften, und als hätte der Wintergott seine hornige Hand etwas angehoben, gehen die Passanten aufrechter durch die Straßen.

Die Sonne leuchtet die Ecken aus, und was grau erschien, wird ziegelrot, grün und violett, ein Plakat strahlt grell auf Sichtbeton, und die Frauen schminken sich auf einmal, als gelte es, Blüten, Blätter und frisches Gras zu übertrumpfen. Auf der Friedrichstraße lächeln sich die Spaziergänger an. Die Taxifahrer erzählen übermütige, barocke Geschichten über ländliche Hochzeiten, schöne Töchter in roten, festlichen Kleidern und zeigen Photos ihrer Frauen und Kinder, und auf dem Heimweg, abends um acht auf dem Weg ins Fleury stellt der Frühling selbst sich mir in den Weg, ein Bub, blond, vielleicht fünfjährig, und kräht mir entgegen:

Bist du aber schön.

Du auch, denke ich mir. Berliner Frühling.

Brand

Gemütlich muss die alte Bundesrepublik gewesen sein. Etwas muffig, sehr, sehr sicher und kein Ort der Abenteuer. Wie einen gut gemähten Vorgarten stelle ich mir die Bonner Republik vor, gepflegte Rabatten und ein bisschen zu sauber, immer ein bisschen zu warm, zu sonnig, zu sehr Sonntag Nachmittag um vier, als dass es etwas hätte werden können mit der Schnelligkeit, der Kälte und der rasiermesserscharfen Härte, der die gute Geschichten entspringen.

1989, als jeder davon sprach, ist die alte Republik nicht untergegangen. Die Neunziger, als Deutschland sich ein wenig fühlen wollte wie London oder New York, haben der alten Tante nur ein paar neue Kleider anziehen können, und so wie Heidi Klum nie die prekäre Eleganz, die schwankende, stets etwas schwindelige, sehnsüchtige Ambivalenz erreicht hat, die Kate Moss noch mit 35 aus jeder Pore atmet, schleppte sich die Republik, zäh fließend wie Leim durch die Jahrzehnte.

Dies aber mag das Ende sein: So, wie nach einem Brand ein alter Baum noch ein wenig stehen bleibt, die Äste Asche stäuben, bis ein Windstoß das Ausgebrannte fällt, fährt die Krise, die ich nie verstanden habe und nicht verstehen werde, weil ich nichts von Geld weiß, durch die Republik, und die Fetzen der alten Welt sinken mürbe, langsam, langsam zu Boden: Märklin. Rosenthal. Schiesser. Opel, und am Rande des Sturms – ach, vielleicht in dessen Mitte – sehen wir gierig, verliebt in Feuer und Wind, dem Ende der Welt zu, die wir kennen.

Überdruss

Wie man hört, reicht dieses Jahr rezessionsbedingt das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr aus, den Frühling zu finanzieren. Das Bundeskabinett berät erfolglos über die Verstaatlichung der Jahreszeiten, von der man sich eine optimierte Bewirtschaftung derselben verspricht. Die Subventionierung im Rahmen des Konjunkturpakets wird – so die Wirtschaftsweisen – erst mit Verzögerung von einigen Monaten Wirkung zeigen, und entgegen der in der Bevölkerung weit verbreiteten Ansicht, auch hieran sei der Klimawandel auf verschlungenen Wegen, die irgendwas mit dem Golfstrom zu tun haben, schuld, geht nach Ansicht von Experten vollkommen fehl.

Man erwartet eine Erholung nicht vor Mitte Mai, möglicherweise erst im Frühjahr 2010.

Äpfel

Ein Abend am Strand. Eine Nacht. Ein paar Wolkenfetzen hinterherzuschauen bis es dunkelt. Zu schweigen, der Meereskühle nachzuspüren und sehr fern, sehr weit draußen, den Booten zuzusehen, die leuchtend vor dem schwarzen Himmel den Horizont bereisen, dem Westen zu, den Säulen der Welt entgegen, und (sagt man) bei den Hesperiden Äpfel laden, so rot und duftend, prall und schwer, als sei alles wahr, was man erzählt von diesen Früchten.

Drei Variationen über das kommende Jahr

I.

Am 28.03.2008 erwache ich morgens um kurz nach fünf und kann mich nicht bewegen. Zwei Stunden in Angst, bewegungs- und lautlos, bis der J. erwacht und feststellt, dass etwas nicht stimmt. Dann kommt der Krankenwagen.

In der Charité schieben sie mich in Röhren und klopfen an mir herum. Irgendwann, Mitte April, finden sie das Problem, das einen langen, komplizierten Namen trägt. Ende April werde ich operiert.

Am 09.06.2008 fahre ich zur Kur, um mich zu erholen. In Karlsbad hat es mir letztes Jahr gut gefallen, da fahre ich wieder hin. Kurzzeitig verliebe ich mich vor Ort in einen anderen Kurgast, Herrn Z. aus W., verliere jedoch im Zug nach Berlin seine Adresse, und kehre – durchaus erleichtert ob dieser einfachen Lösung der komplex anmutenden Situation – zum J. zurück. Anfang August sitze ich wieder am Schreibtisch.

Im September gehe ich ans Telefon, und Herr Z. aus W. ist dran. Ich bin gerade in einer Besprechung, und brülle daher nur ganz kurz in den Hörer, ich riefe zurück. Dann lege ich auf. Da Herr Z. im Sekretariat keine Nummer hinterlassen hat, wird nur leider nichts daraus, und so werde ich nie erfahren, dass Herr Z. am 05.11.2008 im Zuge einer erneuten Operation durch einen Kunstfehler des Chirurgen Dr. F. verblutet.

II.

Am 14.02.2008 tanzt Carl Friedrich Gauß dem J. im Traum eine Zahlenreihe vor, mit der mein geschätzter Gefährte am 16.02.2008 beim Lotto mehrere Millionen gewinnt. J. ist jetzt reich. Um den neugewonnen Reichtum zu feiern, fahren wir für ein Wochenende gemeinsam nach Karlsbad. Da hat es mir letztes Jahr gut gefallen.

Vor Ort verliebe ich mich unmittelbar nach unserer Ankunft noch im Foyer des Grandhotel Pupp kurzzeitig in den gleichfalls anwesenden Chirurgen Dr. F., von dem ich mich indes am nächsten Tage wegen seines Alkoholismus wiederum trenne. Dieser Umstand war mir im Zuge der ersten Bekanntschaft entgangen.

Herr Dr. F., der hinter diesem Schritt den Einfluss des J. vermutet, lauert daraufhin demselben im Kurpark von Karlsbad auf. Der durch das erzwungene Zusammentreffen verärgerte und erstaunte J. reizt die Trinkerseele des Dr. F. durch einige Verbalinjurien aufs Äußerste. Wütend und zornesrot geht Dr. F. daher schließlich auf den J. los. Es entspinnt sich ein Handgemenge zwischen beiden Herren, beobachtet von einigen zumeist älteren Menschen.

Wenig später kommt ein jüngerer Passant dem angegriffenen J. zur Hilfe. Dem ausgesprochen gutaussehenden Herr Z. aus W. schlägt seine Hilfsbereitschaft indes sehr zum Nachteil aus: Herr Dr. F. trifft ihn so unglücklich mit der Faust an der Schläfe, dass Herr W. noch vor Eintreffen des Krankenwagens erst bewusstlos wird und sodann stirbt.

II.

Unversehens verkaufen meine Nachbarn ihre Wohnung und ziehen zum 01.03.2008 aus. Statt ihrer zieht Herr Z. aus W. nebenan ein. Er ist ausgesprochen gutaussehend und charmant. Wie ich im Juni feststellen muss, beruhen seine häufigen Besuche aber nicht auf meiner Anziehungskraft, sondern auf der des geschätzten Gefährten.

Über den Hintergrund der Besuche seines Schachpartners aufgeklärt, führt der J. am 18.06.2008 ein langes, ernüchterndes Gespräch mit Herrn Z. Dieser ist am Boden zerstört. Aufgewühlt, kopflos vor Enttäuschung, verlässt Herr Z. das Haus und läuft geradewegs auf die Straße.

In diesem Moment kommt ein Kraftfahrzeug um die Ecke aus der Schwedter Straße, der Fahrer – ein Herr Dr. F. – übersieht den Z., der infolge des Zusammenpralls mehrere Meter durch die Luft fliegt, unglücklich auf den Boden aufkommt und sofort stirbt. Am 26.06.2008 wird Herr Z. in Bad Homburg neben seiner Großmutter beerdigt.

Herr Dr. F. ist schockiert und versucht seine Schuldgefühle durch den von ihm verursachten Unfall zunächst durch eine Therapie zu bewältigen, die jedoch erbärmlich scheitert. Während der zweiten Hälfte des Jahres 2008 verfällt er daher dem Alkohol. Im November 2008 vergeht kein Tag, an dem er nicht schon vormittags trinkt.

Auch der J. und ich haben unter unseren Verursachungsanteil nebst der Zeugenschaft an dem tödlichen Unfall des Herrn Z. nervlich etwas gelitten. Um uns zu erholen, beschließen wir, ein Wochenende wegzufahren und entscheiden uns für Karlsbad.

In Karlsbad hatte es mir letztes Jahr ja gut gefallen

Gib deine Hand

Wie leicht, denkt man manchmal bei Nacht: Wie leicht geht so ein Mensch kaputt. Wie leicht brechen Knochen. Wie schnell verliert ein Mensch das Gleichgewicht, fällt aus dem Fenster, schreit, schlägt auf, und dann kommen erst die Sanitäter, dann die Angehörigen mit tränenschweren Erinnerungen, und dann das Vergessen und das Nichts.

Wie einfach wäre es, einmal danebenzutreten zwischen Bahn und Bahnsteig. Sich mitnehmen zu lassen, nur ein paar Meter. Sich gegen die Wand drücken zu lassen, den Druck für einen Moment auszuhalten. Den Schmerz. Des Schmerzes Steigerung, und dann nachzugeben, zu sinken, zu bluten und zu sterben. So leicht wäre es, am Alexanderplatz, wo die Autos dreispurig fahren, die Augen zu schließen und in die Pedale zu treten. Zu zählen: Eins – Zwei – Drei, bis es laut wird (war ich das?), und dann Ruhe. Stille und Schweigen.

Aber schade, denke ich dann, wäre es doch. Schade um die Durchsichtigkeit des Himmels. Schade um den Klang einer Glocke, den Geruch von Wald. Wie die Wolken im Sommer aussehen, und wie eine Nacht riecht, so gegen sieben in der Früh, wenn man sich hellwach fühlt und alles übergroß erscheint, scharf konturiert wie sonst nie. Schade wäre es um den Geruch von Haut. Wie Blut schmeckt. Geliebt zu werden oder es wenigstens zu glauben, und an noch mehr Liebe zu denken, weil man will, dass es das gibt. Feige wäre es, die Kugel einfach vom Spieltisch zu nehmen, das Casino zu verlassen, und riskant wäre es wohl, darauf zu setzen, dass hinter den goldenen Pforten, hinter der Schwärze und hinter dem Nichts noch etwas wartet, dass all das wert wäre, wie wenig es auch sei.

Lob der Maßlosigkeit

Viel hilft viel
(Volksmund)

Nicht den Löffel Sahne, sondern den ganzen Becher – nicht die hastige Stunde zu zweit, den Blick auf die Uhr, sondern tage-, ach wochenlang nebeneinander liegen, den Geliebten ganz durchtränken, bis die Grenze unscharf wird zwischen dem eigenen Fleisch und dem fremden. Nicht das Glas Rotwein, nicht den vorsichtigen Zug an der einen Zigarette nach dem Essen, sondern solange rauchen, bis man ganz aus blauem Rauch besteht, und trinken, bis man sich auflöst in der scharfen, wasserklaren Kälte, die Straßen der Stadt pulsieren, rot und warm werden, und der Herzschlag Berlins einen weitertreibt, irgendwohin, und vielleicht am anderen Morgen zurück.

Nach jedem Moment, nach jeder Erfahrung greifen, weil man morgen tot sein kann, und nichts einen entschädigen wird für all das, was man gelassen hat, weil man zu feige war, zu träge, zu langsam für den goldenen Moment, für dieses gesteigerte Gefühl der einzigartigen Minuten irgendwo, jenseits der Grenzen. Den Triumph, sich selbst und sein eigenes Leben ausgebreitet zu haben wie einen Mantel, ein Tuch, in das man alles, alles, alles einschlägt, um es mit sich zu nehmen.

Nichts wird dir so leid tun, wie das Ungelebte, flüstert die Gier und zieht dich zu sich in den Schatten. Nichts wirst du mit dir nehmen, sagst du dir vor. Nichts wirst du nachholen können, und wenn es vorbei ist, wird nichts dir geblieben sein als die Summe deiner Momente, die Höhe deiner Sprünge und Stürze, und die Befriedigung, all das gehabt zu haben, was für dich erreichbar war, hier und heute.

Hier illustriert durch den großartigen Herrn SvenK.