Über Essen

Der letzte Tisch der Stadt

Heiligabend, hört man, isst die Nation einträchtig Kartoffelsalat und Würste. Der eine oder andere ist auf Fondue umgestiegen, bisweilen werden Räucherfischplatten bestellt, aber wenn man nicht daheim ist, weil das Weihnachtsritual der Familie des geschätzten Gefährten geeignet ist, auch robuste Gemüter dem Nervenzusammenbruch einige entscheidende Meter näher zu bringen, und die eigene Familie weihnachtstechnisch unergiebig (und zumeist nicht da) ist, dann, meine sehr verehrten Leserinnen und Leser, dann kann es passieren, dass man, so circa 17.30 Uhr, perhorresziert von der Vorstellung, sich vom Zimmerservice ein paar belegte Brote schmieren lassen zu müssen, auf seinem Hotelzimmer sitzt und verzweifelt versucht, den letzten freien Platz der ganzen Stadt zu reservieren.

Nicht, dass man anspruchsvoll wäre. Vielleicht war man’s noch zwei Stunden vorher, inzwischen indes wäre alles recht, fast alles vielleicht, alles jedenfalls, was festlicher anmutet als ein Clubsandwich aufs Zimmer.

Sie seien restlos ausreserviert, bescheiden hintereinander fast alle Restaurants der Stadt. Sie seien über die Feiertage geschlossen, bedauern andere. Man möge es bei einer anderen Nummer versuchen, da sei der Geschäftsführer mit dem Reservierungsbuch erreichbar, rät ein weiteres Lokal, aber unter der angebenen Nummer nimmt keiner ab.

Immer verlockender werden die Speisekarten im Netz. Immer tiefer sinkt die Stimmung, und in dem Spiegel über dem Schreibtisch des Zimmers sieht man eine mürrische, dickliche Frau telefonieren, die ich auch nicht bei mir verköstigen würde.

„Gar nichts?“, seufze ich in den Hörer, und der geschätzte Gefährte ächzt ein bißchen mit. „Nicht einen Tisch? Auch nicht später?“, bohre ich nach, aber alle, alle, alle Wiener Wirtshäuser sind gebucht bis auf den letzten Platz.

„Sind sie so nett…“, bitte ich die freundliche Concierge eins- ums andere Mal um verstärktes Engagement um einen Tisch und eine warme Mahlzeit. Vergebens ruft die blonde Dame mit den sehr, sehr schmalen Augenbrauen ein Restaurant nach dem anderen an, und abwechselnd dringen die Erfolglosigkeitsmeldungen der Rezeption und die Absagen der Wiener Gastronomen an mein Ohr. Im Hintergrund sitzt, schon reichlich resigniert, der geschätzte Gefährte und spielt mit seinem Handy.

Am Ende aber hat die Congierge Erfolg. Auf 22.00 Uhr, verkündet sie mit gut hörbarem Stolz, hätte Sie den letzten freien Tisch der ganzen Stadt für uns reserviert, und als der Taxifahrer uns vor der Tür der Kuchlmasterei absetzt, stört weder die abstruse Dekoration aus Kupferpfannen, Mühlrädern, künstlichen Blumen und goldbesprühten Schaufensterpuppen, noch gibt das – mäßig kreative, aber tadellose – Essen Anlass zu Ärger. Mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung, Dankbarkeit gar, kaue ich kurz vor elf auf einer dicken Scheibe Gäsestopfleber herum, schütte eine Maronensuppe hinterher, verschlinge ein Kalbssteak, einen Obstsalat, ein par Kekse, und liege um eins mit dem angenehmen Gefühl des Davongekommenseins im Bett.

Lautlos, denn der Ton ist abgestellt, zelebriert Papst Benedikt XVI. die Weihnachtsmesse im Petersdom.

Die Heimsuchung (auch: der Couscoussalat)

Die ganze Woche ernähren Sie sich unglücklich und schlechtgelaunt von irgendwelchem Zeug. Hier ein Stück lauwarme Pizza, dort eine Thai-Suppe aus Fertigpaste mit Bambussprossen aus der Dose, und gelegentlich ein fettiges Halloumi unterwegs. Ab Mittwoch aber denken Sie beim Warten auf die Bahn bereits an Speckknödel, am Donnerstag träumen Sie die ganze Nacht von Rinderbraten, Freitag früh haben Sie heftige olfaktorische Halluzinationen, die mit Schnitzeln zu tun haben, und am Freitag abend endlich sind Sie in irgendeiner Küche zu Gast.

Es werde gefeiert, hat man Ihnen gesagt, und es gebe ein Buffet. Alle Gäste brächten etwas mit. Wirklich scheint der Tisch sich zu biegen, aber neben einem Rest Kartoffelsalat, einer Riesenschüssel grüner Büschel mit Parmesanspänen und ohne Dressing, steht, ja, ganz als hätten Sie‘s gewusst: Dreimal der Couscoussalat von Jamie Oliver, dieses stetige, verlässliche Grundrauschen aller Parties aller Leute, die Sie kennen. Einmal leicht verrutscht in einer pastellfarbenen Tupperschüssel, einmal etwas zu knackig in einer handgetöpferten Schale, die aussieht wie ein Exponat der prähistorischen Sammlung, und einmal einfach so in Glas.

Alle drei Salate sind so gut wie unberührt, denn der Couscoussalat von Jamie Oliver ist eine fast völlig geschmacklose, leicht krümelige Substanz. Zwischen den wahlweise kinderzahnharten oder kinderbreiweichen Couscouskörnern liegen Gemüsestücke, irgendwelche schlappen Kräuter versuchen vergeblich, das Ganze zu aromatisieren, und während Sie die letzten Resten der anderen Salate zusammenkratzen, tritt ein anderer Gast neben Sie und spricht die goldenen Worte:

„Du musst unbedingt den Couscoussalat probieren! Das Rezept ist von Jamie Oliver.“

„Jamie Oliver“ intoniert Ihr Mitgast ungefähr so wie ein gläubiger Christ „die Heilige Jungfrau“ betont – halb ehrfurchtsvoll, halb ungläubig staunend ob der Realität der Jungfrauengeburt, nein: des Couscoussalates, und leicht geniert ob so viel Inbrunst drehen Sie sich weg, beißen sich auf die Unterlippe und suchen nach einer angemessenen und doch höflichen Antwort.

„Jamie Oliver ist ein aufgeblasener Fatzke und hat eine komische Frisur.“, fällt Ihnen ein, aber so etwas zu sagen gilt in Gesellschaft bekanntlich als hochgradig kindisch. „Jamie Oliver’s Rezepte bestehen aus steinhartem Gemüse und schmecken nach nichts.“, könnten Sie statt dessen sagen, aber Ihr Mitgast scheint – der Salat weist es aus – ein großer Anhänger dieses Herrn zu sein, der seine Reputation im Fernsehen erworben haben soll, wo man bekanntlich das Essen nur sehen, nicht aber es verzehren kann, und das, so fällt Ihnen ein, mag das Geheimnis des Erfolgs von Jamie Oliver sein. „Mir sagt Jamie Oliver ja wenig.“, hören Sie sich statt dessen sagen und ärgern sich ein wenig über Ihre schrecklich blöde und grauenhaft belanglose Stellungnahme zu diesem blonden Ärgernis der Gegenwart, das zu bekämpfen jeder billig und gerecht Denkende aufgerufen sein müsste. Ach, da stehen Sie in der fremden Küche, suchen nach passenden Worten, kramen in ihrem Gedächtnis nach Begriffen, die einprägsam, präzise und trotzdem vernichtend die nichtssagende Natur der Rezepte Jamie Olivers bezeichnen, aber dann, lange bevor Ihnen das schlagende, das treffende Wort, die endgültige Auslöschung der verderblichen Dominanz von Jamie Olivers Couscoussalat einfallen mag, ist der Mitgast verschwunden, und nur sein Salat ist noch da.

Fütterung

Wer könnte schweigen, wenn Frau Engl fragt:

1) Kannst du kochen? Wenn ja, kochst Du gerne?
Ich bewundere Leute ganz außerordentlich, bei denen das gekochte Essen so modern aussieht und schmeckt. Mariniertes Thunfischcarpaccio auf Wasabischaum mit Couscoussalat oder so, alles auf riesigen weißen Tellern, der exorbitante Wein vom demnächst preisgekrönten Winzer – so etwas habe ich nie hinbekommen. Ich habe mir ziemlich viele Kochbücher gekauft, um auch mal elegant und modern einzuladen, aber wenn ich dann Leute an meinen Esstisch setze, gibt es jedesmal Hirschrücken mit Rotkohl und Kroketten oder Karpfen blau oder ähnlich altmodische Gerichte. Meine Fertigkeiten enden also ungefähr im kulinarischen Jahr 1960.

2) Wann ißt bei Euch die ganze Familie gemeinsam?
Wenn ich weder arbeite noch verabredet bin.

3) Was ißt Du zum Frühstück?
Nichts.

4) Wann, wo und wie eßt ihr in der Woche?
Leider hat sich herausgestellt, dass meine Gewohnheit, mittags essen zu gehen und abends meistens nochmal etwas zu essen, in Kombination mit einem Stück Nachmittagstorte den Rahmen meines Kalorienbedarfs sprengt. Zukünftig also entweder mittags eine Hauptmahlzeit oder abends, aber nicht zweimal täglich, und zwischen den Mahlzeiten höchstens ein sehr kleines Stück Torte.

5) Wie oft geht ihr ins Restaurant?
Meistens mittags, dann so zwei, bis dreimal die Woche abends und oft am Wochenende. Ich würde gern mehr kochen.

6) Wie oft bestellt ihr Euch was?
So gut wie nie.

7) Zu 5 und 6: Wenn es keine finanziellen Hindernisse gäbe, würdet ihr das gerne öfters tun?
Nein.

8) Gibt es bei Euch so was wie “Standardgerichte”, die regelmäßig auf den Tisch kommen?
Nudeln mit Sauce, Reispfannen, Eintöpfe, Gulasch, Schmorbraten und alles Mögliche mit Hackfleisch.

9) Hast Du schon mal für mehr als 6 Personen gekocht?
Eintöpfe.

10) Kochst du jeden Tag?
Nein.

11) Hast Du schon mal ein Rezept aus dem Kochblog ausprobiert?
Nein.

12) Wer kocht bei Euch häufiger?
Ich.

13) Und wer kann besser kochen?
Ich.

14) Gibt es schon mal Streit ums Essen?
Ab und zu verfallen der J. und ich auf die Idee, wir sollten weniger Fleisch essen, oder überhaupt weniger essen, weil wir leider immer dicker werden. Dann sitzen wir uns gegenüber, stochern traurig in einer vegetarischen Kartoffelpfanne mit ziemlich viel Gemüse und sonst nichts, und fangen irgendwann an, uns anzukeifen, wer auf diese idiotische Idee gekommen ist. Dann gehen wir doch irgendwohin und essen da.

15) Kochst du heute völlig anders, als Deine Mutter/Deine Eltern?
Meine Mutter kocht nicht gern.

16) Wenn ja, ißt Du trotzdem gerne bei Deinen Eltern?
Ja, mein Vater kocht ziemlich gut.

17) Bist Du Vegetarier oder könntest Du Dir vorstellen vegetarisch zu leben?
Nein, von fleischlosem Essen werde ich traurig und aggressiv.

18) Was würdest Du gerne mal ausprobieren, an was Du Dich bisher nicht rangewagt hast?
Ich würde gern einmal einen Kochkurs bei einem Mordsrestaurant machen. In der Zeit war vor ein paar Wochen oder Monaten mal ein Test verschiedener Kochkurse, aber den habe ich leider nicht aufbewahrt. Ich glaube, das mache ich mal und werde sehr modern.

19) Kochst Du lieber oder findest Du Backen spannender?
Das ist mir egal. Ich backe auch gern, allerdings kann da natürlich mehr schiefgehen.

20) Was war die größte Misere, die Du in der Küche angerichtet hast?
Ab und zu versalze ich mal irgendetwas.

21) Was essen Deine Kinder am liebsten?
Wenn ich Kinder hätte, würden sie den ganzen Tag Schokolade essen und wären kugelrund.

22) Was mögen Deine Kinder überhaupt nicht?
Weil meine Kinder mir ja sehr ähnlich wären, würde sie Innereien hassen und ab und zu gebratene Leber aus dem Fenster werfen, um ihren Abscheu öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck zu bringen.

23) Was magst Du überhaupt nicht?
Die gefüllte Milz meiner Tante M., den gebratenen Schweinebauch meines ehemaligen Mitbewohners H., der sich zu allem Überfluss das ausgebratene Fett am Ende auch noch über ein Stück Graubrot gekippt hat. Ansonsten Blutwurst und gebratene Nieren.

24) Zusatzfrage: Wofür darf man dich nachts wecken?
Foie Gras. Diese kleinen, dunkelrosa Nordseekrabben. Und Crème brûlée. Ich stelle mir das übrigens großartig vor: Ich liege im Bett, schlafe, man klopft mir zart auf die Schulter, ich öffne kaum die Augen, und bekomme Löffel für Löffel in den halbgeöffneten Mund geschoben.

Dann schlafe ich weiter.

Antworten soll jeder, der mag, und insbesondere Herr Lucky.

Das Tiefkühlschwein

Berlin, liebe Leserinnen und Leser, bietet vielerlei Attraktionen, und von den Kroatischen Kulturtagen bis hin zu einem regen Vortragswesen, welches dem geneigten Besucher etwa die Zubereitung von Moorschnucken oder das Innere des kretischen Wohnhauses nahebringt, haben Besucher wie Einheimische vielfältige Möglichkeiten, ihre Freizeit ebenso interessant wie lehrreich zu verbringen. Sofern Sie in Berlin wohnen, haben auch Sie daher sicherlich einen eng gefüllten Terminkalender, indes möchte ich nicht versäumen, Ihnen eine Attraktion des an Sensationen reichen Bezirks Mitte besonders ans Herz zu legen.

Als ein regelmäßiger Besucher der Lesungen, welche das freundliche Fräulein Wortschnittchen und ich gelegentlich zu veranstalten pflegen, ist Ihnen das Café LassunsFreundebleiben natürlich ohnehin ein Begriff, und vielleicht kaufen auch Sie Ihre Lebensmittel regelmäßig dort um die Ecke im Kaisers Markt am Teutoburger Platz, den aufzusuchen ich Ihnen hiermit wärmstens empfehle.

Betreten Sie also den Markt, durchqueren die äußerst mittelmäßige Gemüseabteilung, streben entlang der Kühlregale dem hinteren Ende des Selbstbedienungsmarktes zu und bleiben vor der hintersten Tiefkühltruhe stehen. Hier können Sie gefrorene Enten kaufen, ganzjährig sind Teile von Hirschen und Gänsen erhältlich, Hühner aller Größen und Beschaffenheit warten auf den Geflügelfreund, und so stand auch ich letztlich vor dem Tiefkühlfleisch und erwog den Kauf eines Suppenhuhnes. Rechts von mir lagen also die Hühner. Links aber lag ein Schwein. Ein Ferkel, genau gesagt, etwa einen halben Meter lang, unzerteilt, wie Spanferkel zu sein pflegen, und mit Kräutern eingerieben.

Die Augen hatte man dem armen Tier entnommen, die Ohren lagen angelegt, und der Rüssel streckte sich dem oberen Rand der Tiefkühltruhe entgegen, als wolle das Schwein nach Luft schnappen. „Da liegt ein ganzes Schwein.“, sprach ich ein wenig irritiert zum geschätzten Gefährten, und strich mit der Hand über des Ferkels Flanke. „Spanferkel. € 153.“, stand auf dem Schild, das auf der Plastikumhüllung des Ferkels prangte, und für einen kurzen Moment, einen sehr kurzen Moment, überlegte ich, maß das Schwein von vorn bis hinten mit meinen Augen, um festzustellen, dass es sicherlich nicht in den häuslichen Backofen passen würde. Außerdem mag ich kein Schweinefleisch, was gleichfalls gegen den Kauf zu sprechen schien.

„Vielleicht grillen und Leute einladen?“, unterbrach der J. meine Überlegungen. „Willst du das essen?“, fragte ich, und versuchte, das Schwein anzuheben. „Ach was.“, wies der J. den Verzehr des Schweines zurück, und wandte sich ab. Das Schwein sah uns mit gefrorenem Blick hinterher auf dem Weg zum Käse.

„Das Schwein ist immer noch da!“, rief der J. mir selbigen Ortes eine Woche später zu, und berührte das tote Tier vorsichtig mit einem Fingernagel. „Tatsache!“, sprach ich, und überlegte, welcher Art wohl der Kunde sein müsste, der dieses Tier kaufen und zubereiten würde.

Am Samstag drauf aber weilte ich fernab der Stadt, ging nicht einkaufen, und so kann ich nicht versprechen, dass sich das Schwein nach wie in der Tiefkühltruhe befindet, wenn Sie zum Teutoburger Platz fahren, um den wohl einzigen Supermarkt der ganzen Stadt aufzusuchen, der bewogen von Gott-weiß-welchen Überlegungen ganze Spanferkel ins Sortiment aufgenommen hat, was beinahe so erstaunlich ist, wie wenn jemand dieses Tier tatsächlich kaufen würde und brät.

Sollten Sie sich der Sache annehmen, schreiben Sie mir einfach eine Mail. Ich komme dann vorbei und werde Sie und das Schwein photographieren.

Chili con carne

„Willst du Zwiebelringe? Soll ich Zwiebeln braten?“, fragt der J., und ich schüttele den Kopf. Muss nicht sein, denke ich, und: Je schneller, desto besser. – Der J. wendet Lammsteaks in der Pfanne, deckt den Tisch, mischt Salat, und ich muss lächeln.

„Was lachst du?“, fragt der J. und kramt nach Besteck. „Nichts..“, sage ich und lache noch immer: „Weißt du noch, das Chili con carne?“ – „Das war was.“, sagt der J. und schüttelt den Kopf. „Da kannten wir uns noch gar nicht lange.“, erinnert er sich jener längst versunkenen Tage.

1997 war’s, und wir Studenten. Vielleicht war’s auch ein Jahr später, aber wie auch immer: Der J. war damals lediglich ein geschätzter Bekannter, der gelegentlich einmal vorbeikam, um in Gesellschaft anderer netter Menschen meinen Kühlschrank leerzufressen. So ganz besonders oft, also irgendwie auffällig oft, kam er eigentlich nicht, seltener als R., der freilich auch im selben Haus wohnte. Auch seltener als die C.², die täglich da war, wenn ich nicht bei ihr weilte, aber regelmäßig, alle paar Tage, nahm der J. an meinem Tisch Platz, und es gab etwas zu essen. Bevorzugt Spaghetti.

„Da wolltest du dich mal revanchieren.“, krame ich aus meiner Erinnerung zusammen. „Meine Mutter“, beginnt der J. sich auf der Stelle zu rechtfertigen, „hat mich ja nie in die Küche gelassen.“ – und deswegen ging der J. mit viel gutem Willen und weitaus weniger Sachverstand zu Werke.

An ein vollkommen selbständig zubereitetes Gericht wagte sich der J., eingedenk des Premierencharakters der ganzen Angelegenheit, nicht heran. Eine Packung Fertigmischung für „Chili con carne“, 300 Gramm Gehacktes, zwei Dosen Bohnen. Und natürlich Reis. In Kochbeutel verpackt von Uncle Ben’s. „Komm rein!“, öffnete der J. die Tür, zu der ich damals noch keinen Schlüssel besaß, und ich warf meine Sachen irgendwo in eine Ecke. „Es gibt Chili!“, trumpfte der J. auf und öffnete zwei Dosen rote Bohnen. „Riecht gut.“, lobte ich, setzte mich aufs Sofa und plauderte ein bißchen vor mich hin. Ab und zu antwortete der J., der um die Ecke, unsichtbar für mich, über zwei Töpfen vor sich hin werkelte.

„Bald fertig?“, fragte ich nach einer Weile und schnupperte ein wenig vor mich hin. Es roch verbrannt. „Irgendwas brennt da.“, bemerkte ich. „Jetzt riech‘ ich’s auch.“, sagte der J. und hob entsetzt die Deckel der Töpfe. – Es brannte zweifellos.

„Das riecht aber komisch.“, merkte ich an. Ein dicker, chemischer Geruch drang um die Ecke. „Das qualmt total!“, warf der J. einen Deckel wieder auf den Topf und zog ihn vom Feuer. „Was ist denn da passiert?“, stand ich auf und kam in die Küche.

Vor dem Herd enthüllte sich mir das ganze Ausmaß der Katastrophe. Schwarzer, dichter Qualm stieg aus dem Topf auf, in dem der J. den Reis kochen wollte. Der Plastikbeutel hatte sich offenbar entschlossen, dem Druck der Temperaturen nicht länger standzuhalten.„Hast du da kein Wasser drin?“, wandte ich mich um und sah den J. an.

„Wasser?“, fragte der J. in so ungefähr demselben Tonfall, in dem er im selben Zusammenhang nach Nagellackentferner, Jauche oder Badezusatz gefragt hätte.

Der Fall war klar.

„Jaja….“, brummt der J., an das volle Ausmaß seiner Unfähigkeit erinnert, und verteilt das Fleisch fast gerecht auf beide Teller. „Ein gewisser Fortschritt ist ja zu verzeichenen.“, necke ich den geschätzten Gefährten und steche mit der Gabel in das braungebratene, duftende Fleisch.

The silent downturn of Krokette

Da gehen Sie also einmal richtig gut essen, es gibt irgendwas mit Trüffel obendrauf oder Seezungenröllchen mit Morchelsülze oder ein Risotto aus Lebensmitteln, von denen Sie nie angenommen hätten, das man daraus Risotto machen kann, Graupen oder so. Gefüllte Nudeln werden immer gern genommen, vielleicht mit einem wirklich exotischen gehackten Kürbis innendrin oder Entenstopfleber oder derlei Dingen, die ja wirklich gut schmecken, wie man weiß. Steak steht auch auf der Karte, aber wenn Sie das bestellen, habe ich gehört, wird Sie der Koch verachten, den Sie zwar nicht kennen, aber das hat man ja nicht so gern, und Steak gibt’s schließlich auch anderswo.

Vielleicht ist Ihnen das auch alles zu teuer, Sie haben kein Geld und niemanden, der Sie einladen möchte, und gehen deswegen einfach eine Portion Sushi essen, Ente in Misosauce und dazu gibt es Reis. Sie können auch Pizza essen, so eine riesengroße Pizza mit wahnsinnig viel Lachs drauf und einem ganzen Becher Créme fraîche in den S-Bahnbögen, thailändische, scharfe Suppen bei Monsieur Vuong, oder ein Wiener Schnitzel in Kreuzberg.

Dann schleppen Sie sich nach Hause. Sie sind satt. Sie sind so eindeutig satt, dass es fast schon widerlich ist, aber irgendetwas, irgendetwas fehlt. Sie hatten Reissuppe mit japanischem Berggemüse, Sie haben Weinbergschnecken bekommen, man hat Ihnen Tarte Tatin gebracht und Seewolf gebraten, aber in Ihrem Magen ist ein Loch. Nicht ein richtiges Loch, keine tatsächliche Leere. Tatsächlich sind Sie eigentlich pappsatt und können überhaupt nichts mehr essen, und wenn Sie es versuchen würden….tja, das ginge schlecht aus und morgen lägen Sie im Bett.

„Mein liebes Fräulein Modeste!“, ächzen Sie pappsatt, aber diffus unbefriedigt, in die Nacht und bitten um Aufklärung, was nun eigentlich gerade nicht stimmt. Sie haben etwas nicht bekommen, wonach Ihnen der Sinn steht, aber Sie wissen nicht was. Ihre Sehnsucht, um einmal ein wenig pathetisch zu werden, kreist ziellos über Ihrem Bauch. Verschwörerisch, fast etwas geheimnisvoll, beuge ich mich dann über Sie und flüstere Ihnen die ganze Wahrheit ins linke Ohr: Es liegt an den Beilagen. Sie stottern etwas von Bärlauchspätzle und gratinierten Stampfkartoffeln, von großartigem Brot oder Sobanudeln, aber ich, ich schüttele einfach nur den Kopf. Kroketten, sage ich, und auf einmal wissen Sie, woran es fehlt.

Seit Jahren, stöhnen Sie aus den schmerzhaften Tiefen Ihrer Übersättigung, fressen Sie sich durch die Berliner Gastronomie. Wo man isst, da essen auch Sie, wo man trinkt, da lassen Sie sich nieder, und der Tag ist nicht fern, an dem die Berliner Sommeliers zu Ihrem Geburtstag eine Delegation schicken werden. Kroketten aber, Kroketten haben Sie jahrelang keine gesehen, noch nicht einmal von Kroketten gelesen, denn die Speisekarten Berlins, sie sind vollkommen krokettenfrei, denn die Krokette muss irgendwann aus der Mode gekommen sein und niemand isst mehr davon. Ein trauriges Randgruppendasein führt die Krokette und wird lediglich von älteren Damen noch heimlich aus den Tiefkühltruhen gefischt und sofort unter einem Beutel Rucola verborgen.

Da liegen Sie dann also, halten sich den Bauch und stöhnen nach Kroketten. Natürlich paniert, knusprig außen, innendrin weich und saftig mit Jägersauce oder Rahmsauce dazu, und dazu passt weder eine marinierte Ente mit Ingwer und Honig noch Jacobsmuscheln oder Lammbratwurst. Zu Kroketten passen ein paar Bratenscheiben, Rinderschmorbraten oder ein Kalbsrücken oder einfach ein Butterschnitzel mit Spiegeleiern obendrauf.

„Das kann so schwer nicht sein.“, fangen Sie an zu spekulieren. „Hah!“, sage ich und berichte über eins der letzten schwarzen Löcher der Berliner Gastronomie: Wo man Kroketten isst, da will man nicht hin, weil die Küche da Tiefkühlerbsen auftaut und stinkende Braten aus alten Schweinen zubereitet. Außerdem sind die Leute hässlich, die in diesen Restaurants verkehren, und das Interieur sagt einem ästhetisch empfindsamen Gemüt auch nicht zu. Der Untergang der Krokette in der Wohlfühlgastronomie, sage ich.

Das darf doch nicht wahr sein, protestieren Sie und schlafen ein mit Ihrem vollen Magen. In Ihren Träumen servieren reizende Kellnerinnern krosse Kroketten und Schmorbraten dazu, Küchenchefs beherrschen die Kunst der perfekten Rotkohlzubereitung, aber in Wirklichkeit, in der Berliner Realität, gibt es keine Schmorbraten, keine Kroketten, und das ist sehr, sehr schade.

Orangen

Schwer summt der Abend in der Heizungsluft, und die Süße einer Sampoerna, der dunkle, fast schwarze Wein lasten auf einmal wie ein stumpfer Leim auf meinen Lippen und treiben mich in die Küche. So kalt beißen die Fliesen in meine Sohlen, dass ich nicht lang wähle vor der weißen Schale mit dem durchbrochenen Rand. Eine Orange soll es sein, und über das geschmeidige Dielenholz des Korridors laufe ich zurück, ziehe mir die Decke bis unter die Achseln und presse den Daumen tief in den Scheitel der Orange, bis die Schale nachgibt, und ein kleines, unregelmäßiges Stück, nicht länger als das oberste Glied meines kleinen Fingers, abreißt. Säuerlich, gebrochen von Bitterkeit – nein: von dem Schatten einer Bitterkeit – berührt der Geruch meine Wange und füllt den Raum.

Dick und weiß wie geschlagene Sahne zeigt die Orange ihre Haut, ein paar Fasern stehen aus der offenen Stelle auf der Oberseite der Orange hervor wie die zarten Tentakel ganz kleiner Korallen, und mit der linken Hand drehe ich die Frucht, grabe den rechten Daumen seitlich, ganz vorsichtig, nicht zu tief in die Schale und reiße Stück für Stück von den Spalten, die zwischen der glatten Haut hindurchschimmern. Feucht und nicht größer als ein Muttermal glänzt der Saft der Frucht an einer Stelle, an der der Daumen zu tief in die Haut gerissen hat, und ich ziehe kreisförmig, von oben nach unten, die Schale von den Spalten, bis die Frucht, nur verhüllt noch von den eigenen Häuten, vor mir liegt.

Mit beiden Daumen in die Öffnung zwischen die Spalten zu greifen, die Frucht auseinanderzubrechen, bis sie klaffend, wie eine halbgeöffnete Blüte auf dem Teller liegt. Die aufgerissenen Häute der Fruchtspalten so zart wie die Flügel von Insekten, die Üpppigkeit des Fruchtfleisches, und der Saft rinnt an den Händen abwärts bis zu den Handgelenken und hinterlässt eine Klebrigkeit, die man kaum zusammenbringt mit der Frische im Mund, mit dem süßen und doch säuerlichen Saft, der die Zähne badet in einer hellen Sauberkeit wie ein Morgen am See. Stück für Stück reiße ich die Spalten auseinander, lasse den Saft über meine Zunge laufen, fange die Tropfen auf meinen Händen mit den Lippen auf, und lecke den letzten Rest des Saftes von meinem Mund, lange, bevor der Geruch der Orange aus der Luft verschwunden ist.

Am Ende aber bleibt nichts als ein paar Schalen auf einem Teller, deren weiße, weiche Innenseiten in ein paar Stunden schon eingetrocknet und unansehnlich sein werden, duftlos und nichts weiter als Abfall, den ich in die Küche trage, gleich morgen früh.

Verlorene Paradiese

Wo sind sie hin, die kalten Platten der Vergangenheit, diese untergegangenen kulinarischen Welten: Acht Jahre bin ich alt, Sonntagnachmittag ist es, vielleicht ein Geburtstag, und ich sitze auf dem weißen Hocker am Küchentisch meiner Großmutter und plaudere ihr ein wenig über meine verhasste Mathelehrerin vor und über die ersten Reitstunden auf einem großen Pferd statt auf dem verachteten, dicken, langsamen Pony. Im Wohnzimmer sitzen die Herren, manchmal hört man ihr dröhnendes Lachen bis in die Küche, die Damen haben es sich im Esszimmer gemütlich gemacht, die Pumps ausgezogen und plaudern über Dinge, für die ich noch zu klein bin, wie man mir sagt, wenn ich mal nachfrage.

Meine Großmutter stellt die Platten auf den Tisch, achtelt Zitronen und Tomaten, schickt ihre Schwiegertöchter in den Keller, wo die fertigen Platten stehen, und braust dicke Büschel Petersilie ab. Mir wird eine Schale harter Eier hingestellt, die ich pellen soll, die Hälfte darf ich mit dem Eierschneider für den Salat vorbereiten, die andere Hälfte wird halbiert und mit Appetitsild aus der Dose dekoriert oder mit deutschem Kaviar. Dem Suppenhuhn von der Bouillon vom Mittagessen wird das Fleisch abgeschält für den Geflügelsalat mit Mayonnaise, Sellerie und Äpfeln in ganz dünnen Streifen. Der ganze, gekochte Lachs, mit einer dünnen Schicht Aspik überzogen, damit er schön glänzt, steht aufrecht auf einer der Platten, die Jagd- oder Fischereiszenen darstellen, auf dem Rand werden die halbierten Eier drapiert, und das Ensemble liegt auf einem Kissen krauser Petersilie. In weiten Glasschalen wird der Krabbencocktail verteilt, gleichfalls üppig verziert mit Zitronenachteln; Wurstscheiben werden gerollt, Käsescheiben mit Paprika edelsüß bestäubt, und Forellenfilets sternförmig auf einen großen, runden Teller gelegt, den ich am liebsten habe, weil er einen dicken Tanzbär zeigt, der von einem Mann an einer Leine herumgeführt wird. Ab und zu stecke ich mir eine Scheibe Käse in den Mund, eine Olive, und schneide mit einem gezackten Messer Muster in Radieschen und fülle mit einem Löffel Butter in kleine Förmchen, so dass sie aussieht wie Blumen oder Fische. Meine Großmutter füllt Tomaten mit Mayonnaise und mischt Salat in riesigen Schüsseln.

Ach, aus und vorbei. Die Großmutter ist lange tot, die Verwandtschaft zerstreut seit der Beerdigung des Großvaters, als sich alles in die Haare geriet, lautstark und giftig. Das Haus verkauft, die Platten und Teller in einer der Kisten, die auf dem Dachboden stehen, weil sie keiner haben will, denn besonders schön sind sie nicht, und zu groß dazu. Bin ich eingeladen irgendwo an jene Tische, die meinen Freunden gehören, so gibt es keine kalten Platten, höchstens Antipasti, vielleicht eine Platte mit Käse, aber jene überladenen, fettigen Freuden sind verschwunden, vom Orkus der Zeit verschluckt, und keiner will sie mehr essen.

Ob es schade ist drum? Ich habe sie nicht gemocht, die kalten Zungenscheiben gerollt und gefüllt mit Kapern oder Kresse. Die Pasteten mit den Teigblümchen obendrauf und den kalten, gelben Fettstückchen auf der Oberseite der Fleischfüllung. Die Kartoffelsalate mit Gänseschmalz, deren fettigen Geschmack ich bis heute auf der Zunge habe. Die Aspikorgien, und was wurde nicht irgendwann in Aspik gegossen in jenen Tagen? Das trockene Roastbeef in Scheiben.

Sei es, wie es sei. Stehe ich im KaDeWe im obersten Stockwerk, wo sie fast alles haben, was man essen kann, stehe ich nicht vor den Torten von Lenôtre, nicht vor den Gänsestopflebern und selbst vor der Vitrine mit dem französischen Käse nur ganz kurz. Vor der Vitrine mit dem kalten Platten bleibe ich stehen, betrachte die Schalen mit dem Krabbencocktail, die gerollten, gefüllten Schinkenscheiben, die gefüllten Eier und die dekorierten Gurken, und denke einen Moment zurück an die verlorenen Paradiese, die mir auf ewig im Herzen bleiben – gefüllt mit Mayonnaise, dekoriert mit Petersilie und ein Tomatenachtel mit einem Zahnstocher festgesteckt obendrauf.

Champagnercremetorte

Es soll Menschen geben, denen die Welt in Katzen- und Hundeliebhaber zerfällt, andere unterscheiden Optimisten und Pessimisten, und manche teilen das Universum sogar in Sozialdemokaten und Konservative auf. Alle diese Unterscheidungen, o meine verehrten Leser, gehen indes am Kern der Sache selbstverständlich vollkommen vorbei. Das innerste Wesen des Menschen, sein Geheimstes und Intimstes, verrät der Mensch nicht als reuiger Sünder, nicht als Beichtkind, und nicht einmal im Suff: Es sind die Torten, die die Geister scheiden.

Vollkommen klar ist jedem denkenden Wesen, dass zwischen Obst- und Sahnetortenliebhabern eigentlich keinerlei Gemeinsamkeiten bestehen können: Die grazile Käuferin eine Stücks Erdbeertorte auf Biskuit? Vergessen Sie´s, wenn Sie in Nusstorte, dreilagig mit Sahne ihr Glück gefunden haben. Die gesteigerte und verfeinerte Form des Tortenessers, die Liebhaber raffinierter Cremetorten, finden aus selbigem Grunde selten Freunde oder bloß Geschäftspartner in den Reihen derjenigen, denen die schlichten, rustikalen Genüsse genügen.

Warum aber, so fragt sich der geneigte Leser, sollen ausgerechnet Torten die Kriterien darstellen, an denen sich die menschliche Welt in divergierende Teile scheidet? Sind, so fragt sich der magere tortenabstinente Leser, denn Torten überhaupt so wchtig, darf, fragt sich der Moralist, ein für die Erhaltung der Volksgesundheit ganz und gar überflüssiges Gebäck diese Relevanz besitzen?

Torten sind, so erwidere ich jene Einwendungen, keinesfalls ein bloßer Luxus, ein überflüssiges und dickmacherisches Produkt geschäftstüchtiger Konditoren. Torten, meine Damen und Herren, sind der Nabel der Welt. – „Wie kommen Sie denn darauf?, murmelt es aus den Tiefen des Netzes. Nun, sage ich – diese Feststellung beruht auf unmittelbarer sinnlicher Anschauung, und wird von der gesamten tortenessenden Welt geteilt:

Die Gabel in ein blattdünn mit aromatisiertem Marzipan überzogenes Tortenstück zu senken. Der aufsteigende Geruch von Mandeln, Champagner, weißer Schokolade und Biskuit. Die helle Ceme, locker, aber keinesfall von jener Schaumigkeit, die die Backmischung verrät, die geschlagene Sahne besitzt genau jene Konsistenz, die ein einziges Grad leichter ist als der helle Biskuit. Die Sahne, die auf der Zunge warm wird und verläuft, die nachlässigen, leichten Bissen, die dem Boden gelten. Die Cremefüllung, die vanillig und leicht auf den ersten Bissen wirkt, und dann ins warme, weinhaltige changiert, um nach dem Hinunterschlucken der ganzen Pracht am Ende einen Eindruck, nein: eine Vision von Orange zu hinterlassen, und man der Gabel selig nachlächelt.

Ein solches Erlebnis, meine Damen und Herren, kann das Zentrum der Welt nur sein.