„Das ist noch gar nichts.“, sagt die E. und holt tief Luft. Ihre Cousine zum Beispiel. Die habe es ja noch schlimmer getroffen.
Ihre Cousine war ziemlich lange Single. So lange waren sowohl die E. als auch ihre Schwester T. und die Cousine ohne Mann, dass die Familie begann, von einem Erbfehler auszugehen, zumindest vielleicht von einem kollektiven Erziehungsversagen, und als sogar ihre siebzigjährige Großtante begann, auffallend oft von diesen Partnerschaftsbörsen zu sprechen, bei denen ja auch diese und jener fündig geworden sei, meldeten sich die Cousine wie die E. entnervt an. Tatsächlich zieht die E. mit ihrem Fang demnächst zusammen.
Die Cousine aber hatte kein Glück. Mag sein, dass der Esoterik-Tick der Cousine nicht nur der E. auf den Geist geht. Mag auch sein, dass die schlanke, immer lachende E. generell leichter vermittelbar ist als die etwas dickliche und unglaublich schüchterne Cousine, aber dass erst nach vier Monaten ein erstes Treffen zustande kommen würde, hätte auch die E. nicht gedacht. Immerhin ging dann alles ziemlich schnell: Erstes Treffen. Zoo. Zweites Treffen. Restaurant. Der Mann aß keine Haxen (die Cousine hätte sich auch nicht daran gestört), beim dritten Treffen kam es zu einem Kuss, und beim vierten oder fünften Treffen ging man miteinander nach Hause. Für ein paar Wochen war alles bestens. Händereibend saß der liebe Gott in den Wolken und wiegte sein Opfer in Sicherheit und zunehmend süßen Träumen.
Dann aber kam es ganz dick. Am Samstag morgen fuhr die Cousine ins KaDeWe. An den Rolltreppen vor dem Sahling-Stand wartete sie inmitten des unglaublichen Gewühls des KaDeWe am Wochenende auf eine Freundin, Menschenmassen wogten hin und her, und auf einmal – inmitten der Schwaden der KaDeWe-Parfumerieabteilung – sah sie ihren Freund. Ihr Freund war in Begleitung. Die Begleitung war weiblich, und als sich die massive Mauer aus fremden Leuten für einen Moment lichtete, sah die Cousine ein Kind. Das Kind war so ungefähr fünf.
Auf Zuruf reagierte der Freund erst gar nicht. Nun ist das KaDeWe am Samstag auch nicht der Ort, an dem man irgendjemanden oder irgendetwas wahrnimmt, aber als er doch hinüberschaute, als er die Cousine sah, drehte er sich auffallend schnell weg und hastete die Rolltreppe hoch. Die Cousine lief hinterher.
Zwei Stockwerke und ein paar Gänge entlang entkam der Freund der Cousine. Dann standen Cousine und Freund vor den schönen Kleidern von Roberto Cavalli und sahen sich an. „Ist was?“, soll die Cousine gesagt haben, und der Freund legte panisch den Finger auf die Lippen. Hinter der Cousine erschienen in ziemlichem Abstand die Frau und das kleine Kind.
„Papa?“, rief das Kind und krallte sich in den Hosenbeinen des Freundes fest. Beidseitig – nein: dreiseitig – überfordert standen sich die Erwachsenen für einen Moment gegenüber. Gern hätte die Cousine dem Freund einen nassen Lappen um die Ohren geschlagen, gern einfach ein wenig gebrüllt, aber weil die Cousine eine schüchterne Cousine ist, und selbst dann keine Szenen macht, wenn sie gern Szenen machen würde, drehte sie sich um und fuhr langsam, ganz langsam nach unten, dem Ausgang zu und stieg in eins der Taxen auf dem Wittenbergplatz. Dann fuhr sie heim. Man sagt, sie habe geweint.