Über Träume

Traumdeutung

In Fachbüchern träumen die Leute ja immer so etwas ganz Bedeutungsvolles. Wenn man ein hinreichend altes Buch nimmt, aus der Zeit, als man über derlei Dinge noch nicht sprach, geht es zum Beispiel immer um untenrum. Heute ist das natürlich anders, da spricht jeder über Genitalien, und niemand träumt mehr davon. Heute träumen die Leute nachts dafür vermutlich vom Büro. Ich nehme an, es gibt eine ausgefeilte Traumsymbolik, in der alles Mögliche, was man gemeinhin eher der nicht so beruflichen Sphäre zuordnet, dann doch irgendwas Professionelles meint, ähnlich wie früher Schornsteine oder Muscheln – na, Sie wissen schon.

Wer allerdings in seinem Berufsleben nichts zu verdrängen hat wie ich, träumt nachts weder verhüllt noch offen von langweiligen Meetings, menschenfresserischen Vorgesetzten, beschämenden Niederlagen oder beseligenden Siegen. In meinem Privatleben gibt es ebenfalls nichts, was im Traum aufgearbeitet werden müsste. Als verheiratete Kleinkindmutter mit einem Job, der definitiv mehr als 40 Wochenstunden erfordert, habe ich nämlich kein im engeren Sinne ernstzunehmendes Privatleben mehr. Meine Vergangenheit ist umfassend aufgearbeitet. Sie, liebe Leser, sind ja seit Jahren dabei.

Nun muss der Mensch nachts aber träumen. Das gehört irgendwie dazu, und man kann dem Unterbewusstsein schließlich nicht einfach sagen, es möge seine Sachen packen und gehen. Letzte Nacht also lag ich in tiefem Schlummer. Der F. schlief, meine Erkältung war schon mal schlimmer, es störte entsprechend eigentlich nichts, und das Unterbewusstsein legte los. Gern hätte mein Unterbewusstsein irgendetwas Spannendes produziert, aber auf einer Glatze kann auch ein gut trainiertes Unterbewusstsein keine Locken drehen, und so träumte mir schließlich, ich liefe die Bötzowstraße entlang, ich ginge ins Kino, ich säße dort neben dem J. und ich sah nach divers belangloser Reklame leicht gelangweilt im halbleeren Kino: Solaris.

Dann ging ich nach Hause und wachte auf.

Bei Nacht

Vorsichtig öffne ich erst ein Auge und dann das andere. Das Schlafzimmer, immerhin, sieht aus wie immer. Der J. scheint schon aufgestanden zu sein, denn links neben mir liegt nur eine zerkautschte Decke, und Säugling F. schläft zu meiner Rechten friedlich und verzieht nur ab und zu ein wenig das Gesicht.

Ich reibe mir die Augen. Durch den Spalt zwischen Vorhang und Wand dringt ein bißchen sommerlich-helles Licht, im Hinterhof lachen zwei Nachbarinnen bei den Fahrrädern, und vor meinen Augen zerfällt ein massiger, dunkler Traum, der wirr und wüst gewesen sein muss, ein Traum wie von Lars von Trier inszeniert, und löst sich im Sommermorgen auf wie Zuckersirup in Wasser.

Ein großes Tier ist im Traum an mir vorbeigestrichen, fällt mir ein. Noch rieche ich Feuchtigkeit, nasses Fell und ganz frisch fließendes Blut. Meine Feinde kamen über mich, die Erde selbst hat den Hals aufgerissen, und ich fröstele bei der Erinnerung an den nackt klaffenden Rachen.

Nun aber ist es ruhig. Das Baby lächelt im Schlaf. Noch, so scheint es, durchsreichen weder Wölfe noch Feinde den Schlaf eines Säuglings, und ich frage mich, wann jene wohl die Tore zur Nacht durchschreiten, und woher die Tiere stammen, die nach mir schnappen, wenn es Nacht ist und ich bin allein.

Vom Äffchen

Es ist dunkel. Zwischen Vorhang und Fenster klafft ein schmaler Spalt. Milchiges Licht dringt matt in den Raum, und der J. atmet so leicht und leise, als schleiche er auf Socken, auf Zehenspitzen gar durch die Wälder des Schlafs. Es ist Sonntag, noch nicht einmal sieben.

Ich liege wach. Dem letzten Traume spüre ich nach: Soeben war ich doch noch …? Zimt, fällt mir ein. Kardamom. Silberne Karaffen. Etwas wie ein Äffchen, ein kleines, behendes Tier jedenfalls, spielt eine Rolle. Flinke, lange Arme sehe ich vor mir. Rötliches Fell. Runde, furchtsame Augen blinzeln mich an, eine Affenhand streckt sich erst aus, zieht dann zurück und schon zittert das Äffchen eine Sprung weiter im schwärzlichen Schatten am Schrank. Angst hat der Affe, springt hin und springt her, wieselt um die Lampe, hält sich an der Stuckrosette fest, am Kabel, sitzt auf den Dielen und ist aus der Tür. Gleich schreien Katzen.

Ich schließe die Augen. Warm ist es unter der Decke, es riecht nach Schlaf und nach Nacht. Schon döse ich ein, schrecke dann auf, höre Geräusche und Schritte. Das Äffchen scheint im Wohnzimmer zu springen, kratzt wohl am Schrank. Etwas scheppert, Glas vielleicht, es raschelt. Eine Jagd stelle ich mir vor. Gefleckte, gefährliche Tiere, Dampf und Dschungel. Speere und Blut.

Hinter mir aber murmelt der J. und zuckt mit den Füßen. Bestimmt ist das Äffchen in seinen Schlaf geschlüpft, auf der Flucht vor den geifernden Katzen und sitzt voller Angst in den Träumen des J. „Komm her!“, locke ich das Äffchen, das – ich sehe es jetzt erst – ein Glöckchen trägt und eine grüne Marke am Hals. Es ist angemeldet und versteuert, erschrecke ich und erstarre. Jemand wird es vermissen und zeigt uns als Tierdiebe an.

Den J. will ich wachrütteln, damit er das Äffchen verjagt. Die Katzen sollen den Affen hetzen, schnell aus dem Haus muss der Affe, damit der Besitzer mich nicht mit dem Äffchen ertappt. „Das Tier ist mir zugelaufen!“, beteuere ich und hebe die Finger zum Schwur. Man wird mir nicht glauben, das weiß ich genau, und der Richter scharrt bös mit den Füßen. „Verkündigungstermin wird auf acht anberaumt!“, brüllt das Gericht und ich zucke. „Kaffee!“, schreit das Gericht und ich laufe davon.

„Kaffee?“, hält mir der J. einen Becher entgegen. Zwischen Vorhang und Fenster dringt noch immer nur trübes Licht in das Zimmer, und vom Äffchen ist nichts mehr zu sehen.

Auf, auf und davon

Heute nacht zog ich aus. Ein LKW von Zapf fuhr vor, und kleine, runde Männer mit Glatzen schleppten schweigend und flink alles, was ich besaß, in den Wagen. Fröhlich lehnte ich vor der Tür an der Wand und zählte die Möbel und Kisten.

Alle um mich herum waren lustig mit mir. Frauen mit langem, wehenden Haar tanzten blumenbekränzt auf der Straße. In den Autos hupten fremde Leute und winkten mir zu. Gelb und rund wie ein Keks hing selbst die Sonne vergnügt in den Wolken, Kinder flogen auf und davon am unteren Ende der Seile von roten Ballons, und ich sebst verneigte mich wie ein Artist vor dem Haus und schwang mich schließlich ans Steuer.

Die große Höhle (03.12.2009)

Dass ich heut‘ nacht in der großen Höhle war, und keiner war dort außer mir. Dass es feucht von den Decken hing, und die Wände pulsierten schwarz und verkrustet von all ihren Opfern.

Dass es irgendetwas mit einem Bus zu tun hatte, dass ich dort war. Wieso keiner mir zur Hilfe kam, und nicht einmal mein Handy hatte Empfang. In meiner Tasche hatte ich zwei krümelige Kekse. Nur zu meinen Füßen bewegte sich etwas Pelziges, Kleines, vielleicht meine Katze oder ein anderes freundliches Tier.

Dass ich kurz an Flucht dachte und den Gedanken verwarf. Dass ich ins Innere lief, wo ein Strom breit nach Süden floss, dem ich folgte. Dass es hell wurde am Ausgang.

Dass ich lief und lief, aber der Schein wurde nicht heller. Ganz vergeblich rannte ich über spitze Steine, vorbei an einer ausgebrannten Telephonzelle und einem toten Pferd. Dass die Glocken läuteten irgendwann, gellend, ach: greller als alles, und der Fluß anstieg, wallte wie kochendes Öl und höher kroch, höher: Bestimmt bis zu mir.

Novembertraum

Aber heute nacht war es wirklich schlimm. Dunkler wurde es mit jeder Minute, und die Blitze erhellten nichts als Schlamm und einige wenige trockene Zweige. Mir war so kalt.

Gerufen habe ich nach dem J., nach meinem Vater und nach jemandem, den ich fast vergessen habe, wenn es hell ist und trocken. Gekommen ist keiner zu mir. Immer mehr Regen fiel, und die Erde wurde weich und rutschig und floss mit dem Regen grün und braun Richtung Westen. Mit den nackten Füßen verlor ich den Halt, fiel hin und lag für Momente auf dem kalten, feindlichen Schlamm. Zwischen zwei Steinen, verdorrten Büschen und Trümmern klafften die Risse, denen auszuweichen schwieriger wurde von Moment zu Moment.

In den Sturm ragten spitze Steine, ein sinkender Baum, und kaum eine Stimme. Alle Menschen waren fern oder tot oder gingen mich kaum etwas an. Aufgerissenen Leibes lagen die Leichen am Wegrand, und als ich rastete, wartete, den Blitzen entgegen zu atmen, sah ich am Himmel (weit weg von mir) Gottes mürbe, bläuliche Adern.

Elektrolyse

Dienstag abend schlagartig eingeschlafen. Hinter der Pforte des Schlafs zurück ins Bad. Diesmal vor dem Spiegel Bilder auf meiner Haut bemerkt: Kleine Grotesken, farbig und ornamental wie im Inneren florentinischer Paläste. Für einen Moment recht zufrieden gewesen mit meinem Aussehen, aber dann doch erst skeptisch, verzweifelt sogar ob des Termins am nächsten Morgen um zehn. Ich würde mich sorgfältig bedecken müssen, wurde mir klar. Man sollte etwas gegen die Bilder tun.

Unmittelbar danach auch schon die Klinik erreicht. Ein wenig industriell, riesige Blöcke aus Beton. Gleichwohl alles sehr sauber, mintgrün und weiß, und auch die Schwestern und Ärzte rosig und frisch und allesamt haarlos. Vermutlich ist das steriler. Der Empfang war freundlich und professionell.

Eine kurze Verwirrung umgibt den Prozess der Desinfektion. Es muss etwas schiefgelaufen sein, denn irgendwie zog es mich in der Schleuse kurz nach oben, dann ließ der Sog nach und ich fiel hart auf ein Bett. Aus irgendwelchen Gründen zog das medizinische Personal mit farblosen Stiften alle Bilder sehr sorgfältig nach.

Schließlich wurde ich zur Elektrolyse geführt. Die Ärzte sangen mehrstimmig wortlose Lieder, das Licht ging an, und mehrmals führte man mich um einen schneeweißen Trichter. In der Mitte klaffte ein Loch. Mehrere Personen schnallten mich fest. Von der Decke fielen Seile. Befestigt und mit kleinen, rosa Stöpseln in den Ohren zog man mich hoch. Lampen flackerten, es klingelte und brummte, und als ich mit den Füßen in die Öffnung geriet, kribbelte meine Haut, wurde heiß, riss (glaube ich), und im Hintergrund lachten die Ärzte und Schwestern ausgelassen und laut und etwas albern.

Schlagartig aufgewacht. Zurück ins Bad. Die Bilder immerhin wunschgemäß allesamt verschwunden.

Auf einem Boot nach Westen

Heute nacht am Lido ein Boot bestiegen, und der Himmel war so gläsern und rein wie heute morgen früh um fünf auf dem Weg nach Haus. Die Glocken läuteten mir zur Abfahrt von einem der Campanile, und mit einem Ruck bäumte das Boot sich auf und schoss an Chioggia vorbei, der Adria entgegen. Vielleicht fuhr ich heute nacht auf das offene Meer.

Feingliedrig war der Fährmann, hübsch und schön, und stand mit freiem Oberkörper am Steuer, umweht von spritzendem Wasser und Salz. Hinter dem Fährmann saß ich mit untergeschlagenen Beinen, und mit mir noch andere, drei oder vier, die raunten sich leise etwas zu, was ich nicht verstand. Die anderen Reisenden, fiel mir auf, wirkten bedrückt.

Unsinnig fröhlich war dafür ich, zog mich übermütig an den Planken des Bootes hoch und hielt meine Hand in die Gischt. Aus Trotz jubelte ich die anderen an, die dicht gedrängt nebeneinander mehr lagen als saßen. Sie wirkten löcherig, durchscheinend irgendwie und ein wenig faulstichig und braun. Verärgert wand ich mich ab.

Neben dem Fährmann stand ich dann einige Zeit, sah der Sonne entgegen und blinzelte in das strahlende, weiße Licht. Das Salz bildete Krusten auf meinen Füßen, die Sonne wurde heißer, kam näher, und leckte mit hitzigen Zungen mir über die Haut. Ganz nahe waren wir schon am Ziel, immer aufgeregter wurde ich und winkte dem Ufer zu, an dem ein paar Männer in hellen, sommerlichen Anzüge standen und auf die Uhr sahen, als sei das Boot schon zu spät.

Man reichte mir ein Glas, als ich ankam, aus dem ich durstig trank. Man warf mir eine Art Tunika über, denn ich war (das war mir entgangen) nackt. Schließlich geleitete man mich den Strand hinauf bis zu Bäumen, in deren Schatten ich bleiben würde, vorerst, umweht von Kühle, umgeben von rankendem Grün, Moos und rauschenden Blättern am Ende der See.

Journal :: 22.06.

Heute nacht war die Welt vorbei. Wasser floss aus tiefen Furchen der Erde, und es regnete, als habe es schon immer geregnet und höre auch nie wieder auf. Üppig und grün, ins Riesenhafte vergrößert, wucherten Bäume, Sträucher und Gras. Feucht glänzten die Kelche der Blumen und reckten ihren roten Schlund den Wolken entgegen.

Umschlungen von Ästen und Wurzelwerk lagen Trümmer und Scherben. Mühsam stieg ich über zerfallene Mauern, zog mich an leeren Fensterrahmen hoch und lehnte für Minuten an einer Karosserie. Ein Sessel stand auf freiem Feld, zur Hälfte eingesunken, und auf der Lehnte lag ein großes, schweres Tier und sah mich an.

Überhaupt waren die Tiere zahlreich. Sie kauerten in Nischen. Sie zogen triefend nass über die geborstenen Wege, lagerten unter großen Bäumen, und es war nicht auszumachen, ob große, seltsam verformte Katzen über die Äcker streiften, oder vielleicht Bisamratten, aufgeblasene Frettchen oder gar ins Monströse vergrößerte haselnussbraune Mäuse.

Menschen aber gab es dort nicht. Einmal meinte ich in einem Baum Füße zu sehen, eine schnelle Bewegung, als flüchte dort jemand vor mir, aber als ich näher kam, hingen nur Lianen, Luftwurzeln vielleicht, von der grauen Rinde gen Boden. Erleichtert war ich ob der Leere um mich herum, denn gut ging es mir, ganz allein, heute nacht im Traum. Nass und glücklich wanderte ich durch die Reste der Welt, ließ meine Kleider liegen zwischen den Steinen, rastete auf einer grünen Bank, aus der Moose sprossen und lagerte schließlich schmerzlos im warmen, gärenden Schlamm meines Friedens nach dem Ende der Welt.

Journal :: 25.05.

Heute nacht gibt es Milch. Die Milch entspringt einer Quelle, die sich in meiner Wohnung befindet und äußerst ergiebig zu sein scheint. In dickem Strom fließt die Milch in alle Räume, ich freue mich ganz über die Maßen, tauche meine Finger in die schneeweiße, schäumende, duftende Flüssigkeit und lecke jeden einzelnen Finger ab. Die Milch schmeckt süß und cremig.

Über die Schwellen meiner Wohnung strömt die Milch, ergießt sich über den roten Sisal der Treppe, füllt das Treppenhaus hüfthoch an, und halb rutschend, halb schwimmend, gerate ich auf der Milch erst an die Haustür und dann auf die Straße, die erst nur feucht, dann nass und dann über und über überschwemmt wird mit der Milch, die Strudel bildet, spritzt, Wogen brechen sich an den Fassaden der Häuser, und kleine Kinder, Hunde und Erwachsene in Kleidern und Anzügen stürzen sich jubelnd in die Flut.

Bis zur Brust versunken reißen die Menschen sich die Kleidung vom Leib, die – schwarz auf der weißen Oberfläche – erst ein wenig treidelt, dann schwer wird und versinkt. Fremde Menschen reiben sich gegenseitig mit der Milch ein, formen die Hände zu Schalen und füttern einander. Die Sonne wird wärmer und wärmer, der Geruch der Milch wird immer intensiver, und als ich so glücklich bin vor lauter Milch, dass ich denke, mehr gehe nimmer auf Erden, wache ich auf. Es ist 8.25, und die Milch ist verschwunden.