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Allumfassende Misere

„Diese Dunkelheit.“, ächze ich. Die Dunkelheit ist fast das Schlimmste. Man wacht morgens auf und zwischen den Häusern wabert so ein dünnes, milchiges Licht, dass einem komplett die Lust vergeht, jetzt aufzustehen und rauszugehen und sich dieser Lichtlosigkeit auszusetzen, so ein bisschen, wie man Skrupel hat, in schmutziges, brackiges Wasser zu steigen.

Zu alledem weiß ich nichts mit mir anzufangen. Gut, bis letzte Woche habe ich noch ziemlich viel gearbeitet. Das war aber gar nicht übel. Ich bin alles in allem schon eher ein Arbeitstier und halte es schlecht ohne einen randvollen Tagesplan aus. Ich verkomme dann immer relativ fix , so wie früher gegen Ende der Semesterferien, wenn ich irgendwann wirklich alles erledigt hatte und mir nichts blieb außer bis morgens auszugehen und bis mittags zu schlafen. Nach spätestens drei Tagen habe ich mich dann immer irgendwie räudig gefühlt und war froh, wenn das Semester wieder losging. Aus diesem und keinem anderen Grunde habe ich als Studentin nicht einen, sondern vier Wahlfachscheine und drei Grundlagenscheine und noch so ein bisschen Krempel in anderen Fakultäten abgelegt. Manche halten mich bis heute für fleissig; in Wirklichkeit kann ich mich schlicht allein nicht beschäftigen.

Die fremde Frau, die ich mir ausgedacht habe, um mich sozusagen an ihrem Amusement zu ergötzen, hat auch nicht so richtig Spaß. Ich schicke sie kreuz und quer durch Berlin, ich mag sie auch ganz gern inzwischen, aber wie bei jedem längeren Text fallen mich die Qualitätsmängel des Konzepts nach zwanzig Seiten an und ich fühle mich irgendwie mies, so einen Schrott zu verfassen. Dabei geht es hier gar nicht um Literatur. Aber weder weiß ich, wie ich die gute Frau am Ende des bisher acht Kapitel umfassenden Konzepts vergeblicher Bemühungen um mehr Lebensfreude wieder verabschiede, noch ist mir klar, wie man den Leser davon abhalten soll, sich genauso zu sehr langweilen wie ich. Dabei ist an Leser überhaupt nicht zu denken, ich schreibe nur so ein bisschen vor mich hin, aber die schiere Existenz des Qualitätsmaßstabes guter Unterhaltung lähmt mich und macht mir schlechte Laune.

Überdies schlafe ich schlecht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich wollte Samstag ins reinstoff, aber da war ausreserviert. Im E. T. A. Hoffmann war das Essen dann auch ganz gut, aber natürlich nicht genauso großartig. Vorgestern auf dem Weg zum Fondue bei der M. und dem M. ist mir ein Absatz abgefallen, und ich habe keine Lust jetzt loszulaufen und die reparierten Stiefel abzuholen. Ich war doch schon gestern am Alex, bekanntlich einem der hässlichsten Plätze Europas. Zwei Tage hintereinander ist schon ästhetisch ein bisschen viel.

Verabredet bin ich erst um acht, da liest Jan Brandt irgendwo in Mitte aus seinem ziemlich dicken und ganz guten Roman. Ich habe Appetit auf Ananas, aber keine Lust, jetzt welche zu kaufen und zu schälen. Ich könnte irgendwo hingehen und mit Leuten sprechen, aber wenn man so mies gelaunt ist, wie ich heute, bringt das erfahrungsgemäß nicht viel, und nicht einmal das Internet vollzuschreiben macht gerade besonderen Spaß.

Madame denkt sich was aus

Mir ist langweilig. Ich habe zu tun, so ist das nicht. Ich arbeite vielleicht sogar – wie meistens eigentlich – ein bißchen zu viel, erst recht für jemanden, der sich an sich im sogenannten Mutterschutz befindet, aber Arbeit ist (entgegen anderslautender Gerüchte) ja keine Beschäftigung, die für ein amüsantes Leben ganz allein ausreicht. Ansonsten ist aktuell alles ein wenig öde: Im Kino war ich schon gestern. Theater ist okay, aber auch nichts für jeden Tag. Ausgehen macht keinen Spaß. Nachdem mir vor einiger Zeit ein Bekannter angewidert mitgeteilt hat, dass die vielen Frauen mit den Babybäuchen ihn aus ästhetischen Gründen aus Prenzlberg vertrieben haben, geniere ich mich nämlich in manchen Bars ein bißchen. Schließlich geht keiner vor die Tür, um dicke Frauen zu sehen.

Essen gehen ist okay. Da muss man schließlich auch mit dicken Leuten rechnen. Besuch von Freunden ist gut. Ansonsten sitze ich hier herum und mopse mich ein bißchen. Um mich auf das göttliche Wunder des Lebens einzustimmen, habe ich mir ein paar Bücher bestellt. Ab und zu schaue ich einen Film.

„Was machen eigentlich andere Leute in dieser Lage den ganzen Tag?“, frage ich mich und meine Umgebung. Eine vernünftige Antwort habe ich noch nicht bekommen. Meine Freundin M. hat, glaube ich, ziemlich viele DVDs gesehen. Die I.2 hat bis zum Schluss gearbeitet. Ich dagegen werde – so habe ich mir das überlegt – mir Geschichten ausdenken:

Ich werde mir eine Frau ausdenken. Ich werde ihr einen Namen geben und ein Alter. Eine Biographie. Ich werde sie mit meiner Langeweile ausstatten und sie losschicken, sich zu amüsieren.

Lauf, werde ich sagen. Lauf. Und dann schaue ihr zu.

Elend Einfamilienhaus

Man versteht es nicht. Aber irgendetwas muss an der Idee dran sein. Irgendetwas treibt bis dahin ganz normale Leute, mit Mitte 30 die Innenstadt zu verlassen und sich irgendwo am Stadtrand ein Haus zu bauen. Irgendetwas muss diesem Haus anhaften, dass Leute ein klein bißchen den Verstand verlieren, denn bei Licht betrachtet ist es doch so:

Häuser liegen am Ende der Welt, und das ist in Berlin ganz schön weit weg. Es baut sich ja keiner ein Haus im Prenzlauer Berg. Noch von Glück reden kann derjenige, der in Pankow oder Wannsee ein Haus besitzt, da fährt wenigstens noch die S-Bahn und es gibt Geschäfte, Eisdielen und Pizzerien. Die Mehrzahl der Häuslebauer aber zieht aus Geldmangel irgendwo hin, wo es schlechthin gar nichts gibt außer anderen Einfamilienhäusern, die im schlimmsten Fall – weil vom selben Bauträger errichtet – alle gleich aussehen und dicht an dicht in handtuchgroßen Gärten stehen. In den Garten passt dann knapp eine Schaukel samt Sandkasten. Grillen kann man nur, wenn die Nachbarn nicht zu Hause sind.

Weil die Häuser so weit weg von der Innenstadt stehen, sitzen die Bewohner nur noch im Auto. Morgens und abends dauert der Weg zur Arbeit eine Stunde, so dass selbst derjenige, der nur acht Stunden täglich arbeitet, zehn Stunden benötigt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn er dann erst mal zu Hause ist, fährt er natürlich auch nirgendwo mehr hin. Schließlich würde das ja wieder eine Stunde Hin- und Rückweg kosten, so dass ein Kinobesuch, ein schneller Drink nach der Arbeit mit einer Freundin, das spontane Klingeln bei Freunden, bei denen noch Licht brennt, komplett ausfallen. Entweder hat man dann ein tierisches Glück und die Nachbarn sind reizende Leute. Oder man hat dieses Glück nicht, dann muss man seinen Partner schon sehr unterhaltsam finden, denn Freunde hat man fortan nur noch theoretisch.

Zu alledem sind Häuser teuer. Okay, eine Wohnung im Prenzlauer Berg ist auch nicht umsonst, aber der fragwürdige Zauber des Hausbesitzens verführt Leute reihenweise dazu, sich in Kleinmachnow oder Lichterfelde West Häuser zu kaufen, die sie sich so gerade noch und eigentlich schon nicht mehr leisten können. Ab sofort reicht es dann natürlich nicht mehr für grandiose Gelage im Grill Royal, für Drinks galore in der King Size Bar. Für ein Wochenende in Paris, ein wunderschönes Gemälde, ein paar Schuhe von Loboutin. Alle Entscheidungen der nächsten Jahre, ach: Jahrzehnte, werden von der Notwendigkeit vorgegeben werden, das Haus zu finanzieren, und wenn es um die Frage geht, wer ein Jahr sein Büro verlässt, um ein Kind zu betreuen, wird es nicht danach gehen, was man sich so als wünschenswert vorstellt, sondern wer (wer wohl?) gerade weniger verdient.

Auch nicht wesentlich besser sieht es aus, wenn nicht die Bank, sondern die Eltern das Haus finanzieren. Ich habe keine wirklich repräsentativen Daten über die Frage, wie häufig Eltern einspringen. Ich meine, es müsste ungefähr in der Hälfte aller Fälle die Familie das Haus bezahlt haben, und natürlich ist auch das nicht umsonst. Man zahlt zwar keine Zinsen. Im besten Fall zahlt man gar nichts, außer verflucht viele Sonntagnachmittage, die man eigentlich lieber mit Freunden oder allein verbracht hätte als mit seinen Eltern. Mit der Verpflichtung, sich ziemlich viele Ratschläge anzuhören, wie man sein Haus ausstatten soll und seine Kinder erziehen und überhaupt sein ganzes Leben führen. Das ist total lieb gemeint und schlechthin nicht auszuhalten.

Zu alledem macht ein Haus richtig Arbeit. Auch ein kleiner Garten muss gepflegt werden. Ein Keller will aufgeräumt sein, ein Zaun gestrichen, mit den Fenstern, der Regenrinne, dem Dachboden muss irgendwas passieren, und während in Innenstadtwohnungen ein bisschen Toleranz und einmal die Woche eine gute Putzi reichen, sind Hausbesitzer eigentlich immerzu mit ihrem Haus beschäftigt, als seien nicht sie Eigentümer des Hauses sondern umgekehrt.

Irgendwann aber ist das Haus dann bezahlt. Man hat das Haus ungefähr zwanzigmal umgebaut, angebaut und neu isoliert. Im Garten plätschert ein Brunnen, im Wintergarten funktioniert die Fußbodenheizung inzwischen tadellos. Auf allen Etagen gibt es Badezimmer, die aussehen wie in Schöner Wohnen. Die Kinder sind so groß, dass man unbesorgt Bodenvasen aufstellen kann. Dann ziehen die Kinder aus. Man ist im Haus – zu zweit versteht sich – allein.

Auf Schlag ist das Haus viel zu groß. Statt vier bis fünf Personen, die schlafen, umherlaufen, Besuch haben oder duschen, sitzen zwei Fünfzigjährige im Wohnzimmer und lesen in der FAZ. Freunde kommen immer noch äußerst spärlich vorbei. Um selbst überhaupt noch vor die Tür zu kommen, hat man ein Abo in der Philharmonie. Man trifft sich mit anderen älteren Ehepaaren ab und zu in Weinbars oder Restaurants, in denen man dann nicht so viel trinkt, weil ein Taxi nach Griebnitzsee von Mitte aus ganz schön teuer ist, wenn man zwei Kinder hat, die studieren, und irgendwann ist man dann alt.

Man hat es sich irgendwann – da war man noch jung und musste sich den Kredit schönreden – mal ganz vorteilhaft vorgestellt, mietfrei zu wohnen, wenn man Rentner ist. Nun aber ist Berlin kalt, das Haus viel zu groß und irgendwie langweilt man sich zu zweit. Der Garten verwildert ein bißchen wegen eines Rückenleidens, das Gartenarbeit unmöglich macht. Die Kinder wohnen in London und Frankfurt und kommen selten vorbei.

Eines Tages stolpert man dann auf der Treppe und bricht sich was. Die Kinder überreden einen zu einer seniorengerechten Wohnung in der Innenstadt. Oder man hält die Einsamkeit nicht aus und reist jeden Winter drei Monate ans Mittelmeer oder nach Asien, jeden Frühling zu Kind 1 und jeden Herbst zu Kind 2. Im Sommer ist Berlin schön, dann ist man dann da.

Ganz am Ende fällt der Partner tot um. Nach der Beerdigung kann man unmöglich ins Haus zurück. Man setzt sich bei einem der Kinder ins Auto und fährt weg. Ein bißchen erleichtert ist man schon, dass man das Haus nicht mehr sehen muss. In einem Altenheim bezieht man ein kleines Appartement. Dann ist es vorbei. Gelohnt hat es sich nicht.

Man versteht es nicht. Aber irgendwas muss an dem Haus dran sein.

Die besten Wünsche

Zwischen dem Bulgogi und dem Kürbiskernparfait schlägt es zwölf und draußen knallt’s. Konfetti regnet uns über die Köpfe, das erst ein paar Stunden später daheim aus meiner Wäsche auf den Badezimmerfußboden fällt. Man umarmt sich, und immerzu fahren die Rettungswagen die Skalitzer Straße entlang. Musik, die dumpfen Schläge der Böller, Licht und Sirenen.

Im nächsten Jahr wird alles anders, prosten wir uns zu. Nur einen Schluck bekomme ich vom Champagner, aber Küsse gibt es genug, und zwischen dem Rauch, unterm Feuerwerk über Kreuzberg, wünschen wir uns, dass wir so bleiben, wie wir sind, nur in anderen Umständen, die schön und gut sein sollen, sowieso.

Lunch

Er hat sich nicht sehr verändert, denke ich und stehe kurz auf, um ihn zu umarmen. „Hey.“, sagt er und drückt mich ganz kurz an seine Brust und dann wieder weg. Noch immer streicht er sich die etwas zu langen Locken mit dem kleinen Finger der linken Hand hinters Ohr.

Neben uns, auf der anderen Seite der marmornen Säule, fuchtelt ein Mann so heftig mit den Armen, dass der Luftzug mich unangenehm an der Wange berührt. Hin und her laufen die Kellner, als gelte es, einen Schnelligkeitswettbewerb zu gewinnen. Es ist kurz vor eins, rundherum isst man genug Schnitzel, um den ganzen Gendarmenmarkt mit Kalbsfleisch zu bedecken, und ich schaue kurz und zerstreut auf die Karte. Ich nehme die Boudin. Wie immer.

Leise ist er nach wie vor. Abends, sagt er, sitze er viel in Hotelzimmern und liest. Horaz habe er kürzlich nochmals gelesen. Mosebach liest er gerade. Ab und zu zwischen zwei Meetings geht er in fremden Städten ein wenig spazieren. Manchmal kehrt er dann in Kirchen ein. Er bete aber selten, sagt er, denn das – so wisse er – stehe ihm nicht an. Ich nicke, denn etwas anderes fällt mir nicht ein.

Er ist viel unterwegs und wenig in Berlin. Er hat ein Haus gekauft. Er fühlt sich wohl auf Flughäfen, in Hotels, beim flüchtigen Gang durch fremde Innenstädte und Parks, und ab und zu fahre er an dem Ort vorbei, an dem wir beide einmal gelebt haben als wir ganz jung waren und glaubten, wir seien ein Paar. Manchmal denke er daran, noch einmal diesen Ort zu besuchen. Niemals mehr seit damals sei er dort gewesen, denn seine Mutter lebe da ja nicht mehr, die er ohnehin, so sagt er und rührt seinen Kaffee, selten sehe, sehr selten: Nur alle paar Jahre.

Ruhig sein soll.

Nichts, sage ich. Zumindest nichts Nützliches. Und nicht so viel. Einfach herumliegen würde ich derzeit sehr gern, bevorzugt am See, Wälder rundherum, ein blauer, straff gespannter Himmel.

Niemand sollte anrufen können und keiner kommen. Vielleicht höchstens (am Wochenende gern, gern auch spät abends) der J. Träge glucksend soll Wasser auf Kies und Steine schlagen, ein par Katzen sonnen sich träge auf Stapeln von Holz, und die Stunden wehen unhörbar vorbei wie ein Duft nach frisch geschlagenen Bäumen, nach Harz und Rauch über Hügeln.

Unerträglichkeit am Sonntag

Jeden Sonntag steht in der Zeitung, die Gegenwart sei eigentlich nicht auszuhalten. Letzten Wochen heulten irgendwo die Dreißigjährigen, die Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Lebensmodellen machten sie depressiv. Heute behauptet ein bücherschreibender Pädagoge oder Kinderpsychiater oder so in der FAS, dass Eltern auch wegen der vielen schlechten Nachrichten in der Zeitung zu unentspannt seien und deswegen ihr Nachwuchs trotz größter Bemühungen psychisch missrate. Man müsse mehr intuitiv erziehen und den Katastrophenmodus verlassen. Nächste Woche weinen dann vermutlich wieder die Sozialverbände.

„Glaubst du, den Leuten geht es wirklich seelisch so dreckig?“, frage ich den J. und verteile den restlichen Orangensaft möglichst gerecht auf beide Gläser. „Ausgeschlossen ist das nicht.“, gähnt der J. und liest nicht ohne einen Anflug genießerischer Schadenfreude etwas über die Malaisen der Katholischen Kirche. Der geschätzte Gefährte ist evangelisch und freut sich – auch wenn er es nicht zugeben würde – gelegentlich ein bißchen über die schlechte Presse der Konkurrenz. Manche Leute, gibt er dann noch zu bedenken, seien halt einfach etwas empfindlicher als andere.

„Aber wieso schreiben dann immer nur die die Zeitungen voll?“, frage ich mehr mich als ihn und schneide möglichst gerade Scheiben vom Stilfser Käse. Der J. zuckt mit den Achseln und sagt nichts, weil man mit vollem Mund nicht sprechen kann, und verzehrt den letzten Rest eines sehr alten, kristallin erstarrten rot-goldenen Goudas.

„Das ist doch bestimmt eine ganz besonders raffinierte Strategie.“, fahre ich fort und schaufele mir weiteren Tomatensalat auf den Teller. Es ist doch kein Zufall, dass so etwas immer in den Sonntagsblättern steht. Da sitzen irgendwo die Redaktionen, planen ihr Blatt, und überlegen, was der Sonntagsleser ganz besonders gern lesen will, wenn er da so sitzt, morgens um elf mit wuscheligem Haar und Schlaf in den Augen und einem Latte Macchiato im Glas. Am Sonntag sind die meisten Leute ja mit sich total im Reinen. Alles, was man so machen muss, hat man – wenn man es denn tut – am Samstag erledigt. Der Kühlschrank ist voll. Das Diensthandy liegt saftlos und unbeachtet in einer Schreibtischschublade. Um die Hosenbeine streichen die Katzen, und um dieses Hochgefühl sonntäglichen Müßiggangs noch weiter zu steigern, schreiben die Zeitungen, wie schlecht es anderen Leuten geht, die Entspannungs- oder Entscheidungsprobleme haben.

Der Sonntagszeitungsleser soll sich dabei wohlig gruseln und ein klein wenig überlegen fühlen, weil er sich eigentlich immer und mühelos entspannt, sobald man ihn lässt. Außerdem hat er ein Gesprächsthema, wenn er mit dem Gefährten seines Frühstücks erörtert, ob es eigentlich wirklich Leute gibt, die sich von den Katastrophen, die in der Zeitung stehen, irgendwie beunruhigen lassen, und bestimmt – so vermutlich das Kalkül der Blattmacher – kauft er auch nächstes Wochenende eine Zeitung und freut sich seiner Existenz.

Ja, ausgerechnet Rhabarber!

Mit der Mode ist es ja eine Sache. Man will auf der einen Seite nicht jeder Mode hinterherrennen, weil man das für ein Zeichen für Dummheit hält, ganz unberührt bleibt man aber auch nicht auf der anderen Seite, denn man ist ja in der Welt, sogar sehr in der Welt, weil man halt nicht in einer abgelegenen Ecke eines Mittelgebirges in einem Dorf ansässig ist, sondern mehr so mitten in Berlin, und als Berlinerin steht man also am Sonntag früh beim vietnamesischen Supermarkt herum, eine FAS in der einen Hand, ein Stück Butter in die Zeitung geklemmt und obendrauf ein Liter Rhabarbersaft. Rhabarbersaft zur häuslichen Zubereitung von Schorle.

Weil der vietnamesische Supermarkt am Sonntag die quasi einzige Gelegenheit zwischen Greifswalder Straße und Volkspark ist, einzukaufen, ist die Schlange an der Kasse lang. Vor mir stehen vier Leute mit Körben in der Hand, teilweise mit kleinen Kindern, und weil ich neugierig bin, mustere ich die Körbe ein bißchen, was die anderen Leute so kaufen. Milch wird viel gekauft, registriere ich. Butter scheint auch bei anderen Leuten überraschend oft gerade am Wochenende auszugehen. Außerdem kauft man Saft, Rhabarbersaft, um genau zu sein, der in drei von vier Körben in der Schlange vor mir liegt, und ich kräusele ein bißchen unbehaglich die Nase, weil es ja – siehe oben – gerade nicht so ein angenehmes Gefühl ist, genau das zu kaufen, was alle kaufen, denn auch ich glaube nicht gern von mir, jeder Mode hinterherzulaufen, die gerade die Stadt durchquert, selbst wenn es eine so wenig auffällige Mode sein mag, wie der kollektive Umstieg von tout Berlin von Bionade auf Rhabarsaftschorle, der mir aus den kleinen gelben Körben in der Schlange an der Kasse entgegenspringt.

Dass auch alle anderen Leute Sonntags eine FAS kaufen, überrascht dagegen nicht, Was sollen sie auch sonst kaufen; das Sonntagszeitungswesen ist ja so ein bisschen monopolisiert, wenn man die WamS nicht kaufen will. Nur der erste Käufer in der Schlange hat keine FAS im Korb, sondern einerseits den Kicker und andererseits 11 Freunde. Nicht zum Abkassieren, sondern einfach so, hat er außerdem zwei Kinder dabei, augenscheinlich Zwillinge, circa vier, die beide in Polos und Chinos und Chucks zwar unterschiedlich bunt, aber ansonsten ganz gleich angezogen neben ihm lebhaft auf und nieder hopsen.

„Ja, ausgerechnet Rhabarber! Rhabarber verlangt sie von mir!“, brüllen die beiden kleinen Buben überraschend melodisch, und der eine, der mit dem roten Polo mit dem grünen Pferd, schwenkt einen Liter Bio-Rhabarbersaft so wild hin und her, dass wohl nicht nur ich schon größere Katastrophen wittere, die dann aber – Gott sei’s gedankt – nicht eintreffen.

„€ 8,65!“, sagt die Frau an der Kasse, und der andere Zwilling legt einen zerknitterten Zehner auf den Tisch.

In Ordnung

„Weiß nicht.“, sage ich. Ich arbeite zuviel. Ich habe so viel zu tun wie zuletzt 2007 und fühle mich dabei gar nicht wie irgendwas, sondern nur einfach so da. Das ist eine etwas merkwürdige Empfindung, ganz gut, aber emotional ein bißchen entkernt und vor allem bin ich meistens ein bißchen müde.

„Stell dich nicht so an.“, sage ich mir und schneide lustige Grimassen vor dem Spiegel, damit es auch mal was zu lachen gibt, mache die Dinge, weil sie anstehen und esse abends schweigend und erschöpft mit einer Zeitung in der Hand ein paar Tomaten oder eine Suppe oder etwas, was ich mir auf dem Heimweg hole, wenn der Thai um die Ecke noch offen hat und mir etwas kocht.

Früher war in solchen Nächten Sommer, denke ich auf dem Heimweg, kurz nach elf, und schaue in die schwarzen Bäume. Auch nächstes Jahr wird wieder Sommer sein, denke ich dann und überlege, wie das alles wohl wird, und fahre heim und mache weiter, denn navigare necesse est und alles in allem schon ganz okay.

Im Regen

Dann aber, am Sonntag nachmittag, in der Loggia zu stehen, als es regnet, als wolle es nie wieder aufhören, und in den Regen hinauszuschauen, der die Straßen füllt und die Räume zwischen den Häusern und Menschen. Das kleine Mädchen im nassen Kleid auf der Straße beinahe ein bisschen zu beneiden, dass freudig durch das Wasser springt, denn kalt ist es ja nicht, und es spritzt weiß und gischtig so hoch, wie das Kind gerade noch reicht.

Schon steht das Wasser bedrohlich hoch auf der Straße und füllt die Gullies wohl ganz. Schon läuft es in die ersten Keller. Heftig peitscht auch der Wind. Die Bäume vorm Haus schleudern ihr Laub hin und her wie Priester in ekstatischem Tanze. Immer dichter wird der Regen, immer mehr fällt und prasselt und drückt als heller Strahl durch die Straßen, als müsse alle Leere mit Bewegung gefüllt werden, und das Wasser drängt die Luft mit Macht in die offene Tür.

Schön wäre es jetzt wie das Kind da unten durch den rauschenden Regen zu laufen. Im Bikini auf dem Fahrrad zu fahren, durchnässt, heiter, johlend und lachend die Linden abwärts zu fahren, durch die Pfützen zu gleiten, nass bis auf die Unterseite der Haut. Warm sollte es sein, noch viel wärmer als heute, hell der Himmel trotz der strömenden Wasser, und ganz über die Ufer getreten auch ich, glitzernd vor Nässe und glitschig vor Glück und neugeboren und feucht dann schließlich am Abend in Ruhe zu Haus.