Dann aber die Schelde. Die gut gekleideten Passanten, besser angezogen, als man in Berlin zu sehen bekommt. Das Licht, wie es jeden Quadratzentimeter der Haut ausleuchtet. Ich selbst in den Scheiben der Geschäfte, bleich, sonderbar aufgequollen wie etwas, das lange im Wasser gelegen hat, und blinzelnd in der gleißenden Sonne.
Ich bin doch noch gar nicht so weit, sage ich mir und schaue mir zu beim Gang durch Antwerpen. In mir ist noch Winter. Irgendwo hinter den Schläfen tickt es hastig und hohl. Ein Metronom vielleicht. Mag sein auch ein Kerl mit einem stählernen Hammer, und irgendwo brechen krachend Schollen aus Eis.
Wenn Sie gestern nachmittag am Münchener Flughafen im Duty Free Bereich herumstanden und vielleicht über eine Flache Whiskey nachgedacht haben oder an den Parfums herumschnupperten, dann haben Sie mich bestimmt gesehen: 1,70 groß. Schwarzhaarig. Schlammfarbener Mantel, braune Tasche, Stiefeletten. Ziemlich eilig hereingerauscht, ich bin ja nie so ganz pünktlich, und dann zielstrebig zu dem Regal ganz rechts bei der Kosmetik, wo sie La Prairie führen.
„Die kauft doch bestimmt nichts.“, haben sie sich noch gedacht, was auch Verkäuferinnen zu denken pflegen, weil aus irgendwelchen Gründen nie Verkäuferinnen kommen, wenn ich irgendwo stehe, weil sie mir an Nasenspitze ansehen, dass ich mich nur so ein bißchen umschaue, um es mir dann noch ein bißchen zu überlegen. An sich gehört man mit 35 ja zur besten Käuferklientel für La Prairie, weil man alt genug ist, um sich um seine Haut zu sorgen, aber noch jung genug, um nicht ausschließlich Anti-Faltencremes zu erwerben. Da stehe ich also und schaue die Regale rauf und runter.
Was Sie nicht sehen können: Ich kaufe diese Kosmetika nie. Ich glaube Stiftung Warentest, dass teure Cremes nichts bringen. Ich bin auch zu geizig, um € 238 für einen Topf Hautcreme auszugeben, ich schmiere mir jeden Morgen ein bißchen Dr. Hauschka Rosencreme für € 8 ins Gesicht, weil Schönheit jetzt eh nicht so meine Kernkompetenz darstellt, aber ich rieche die La Prairie Skin Caviar Creme (oder so ähnlich) für mein Leben gern. Also sehr gern. Aber zum Kaufen reicht es halt nicht.
Als ich mich ein bißchen umgedreht habe, waren Sie schon in Sorge. Die wird doch nicht …? Nein, wird sie natürlich nicht, auf keinen Fall würde sie, aber einen dicken Klecks auf die Hände, dann ganz sorgfältig verreiben, und von München bis Berlin immer wieder an den Händen schnuppern, weil diese Creme so super riecht, besser als alles, besser als meine Handcreme, besser als Buttercreme und Blumenfelder und überhaupt fast alles, was gut riecht.
Erst daheim habe ich mir die Hände gewaschen. Das konnten Sie natürlich nicht mehr sehen, und selbst wenn Sie daneben gestanden hätten in meinem Bad im Prenzlauer Berg, hätten Sie nicht mitbekommen, wie leid es mir getan hat um den Duft, als Lavendelseife aus dem Seifenspender quoll, und die Creme verschwand, verduftete, bis ich zum nächsten Mal irgendwohin fliege oder in irgendeiner Parfumerie bin, wo man unbeobachtet und unbeachtet bis zu den Probierflaschen von La Prairie gelangt.
Bis zur Berlinale geht es ja immer noch. Dann aber wird es zäh. Die Kälte. Die schmelzenden, dreckigen Schneehaufen. Die miese Laune der Berliner, Sie wissen schon: Diese Mienen, als hätte die ganze Stadt gerade schlechte Nachrichten erhalten, nichts Schlimmes, nur etwas Verdrießliches, und zu alledem auch noch eine alles durchdringende Feuchtigkeit.
im März wird es endlich wärmer. Hell. Morgens blinzelt man, wenn man aus dem Haus geht. Man kann Sonnenbrille tragen. Im Schrank kramt man ein bißchen hin und her, dann zieht man eine etwas leichtere Jacke hervor und geht so nach draußen. Ist noch etwas kalt so. Geht aber schon. Geht sogar ziemlich gut.
Morgens ist man nicht mehr so müde. Abends liegt man trotzdem länger wach. Als würden bei steigenden Temperaturen alle Vitalfunktionen hochgefahren, auch die eher so emotionale Empfindsamkeit, wird man etwa unruhig. Warum denn, beschwichtigt man sich. Passt doch alles, mehr oder weniger jedenfalls. Nicht weniger auf jeden Fall als vor ein paar Wochen. Langweilig ist es, das schon, aber auch nicht schlimmer als die letzten Monate, die freilich selbst für ein schon ziemlich berechenbares Dasein ganz besonders arm an Überraschungen verlaufen sind. Das ist normal so, schärft man sich ein. Ich werde ja jetzt alt.
Morgens treibt einen die Unrast nun etwas früher ins Bad. Heute geht’s los, denkt man manchmal mit Shampoo im Haar. Wenn man im Büro sitzt, das Diktiergerät in der Hand, fühlt es sich manchmal an, als würde es gleich donnern, und die Welt wäre dann eine andere.
Jedes Jahr im Frühling erwartest du einen nie stattfindenden Aufbruch, beruhigt man sich und schaut über die Dächer der Häuser hinweg in den leeren Himmel über Berlin. Nichts wird passieren, ebenso wie 2010 und 2009. Der Sommer wird kommen und gehen. Ein paar schöne Abende, Nächte, Nachmittage werden drin sein für dich. Nichts wird geschehen, was deine Welt verwandelt, und eines Morgens wird die Luft nach Moder riechen, nach Kühle, nach Winter, nach Ende und dann ist es aus.
Nach dem Essen kommt es dann doch raus: Die I. hat uns gar ncht zum Grillen eingeladen. In Wirklichkeit hat der M. seine Freundin, die M., das gemeinsame Kind, den J. und mich und sich selbst bei der I. eingeladen, indem er Freitag mittag einfach bei der I. angerufen und uns angekündigt hat, denn die I. hat einen Garten und wir nicht.
Wahrscheinlich weil die I. sich nicht so richtig gesträubt, sondern einfach eingekauft und aufgeräumt hat, hat der M. uns von dieser Vorgeschichte des Grillens gar nichts erzählt. Vielleicht wäre der J. dann auch nicht mitgekommen, weil er den Weg erst mit der M 4 und dann mit der S. 8 und dann mit dem Bus 260 so abstoßend findet, dass er nur dann gern zur I. fährt, wenn der Transfer per Kraftfahrzeug gewährleist ist. Ein Kraftfahrzeug besitzen wir aber alle nicht.
Irgendwann aber sitzen wir dann in der Sonne. Etwas kühl ist es noch, und die Beete sind noch recht kahl. Nur die Krokusse blühen lila und gelb und sehen nach Frühling nach, die Sonne scheint, und auf der Hollywoodschaukel der I. liegt die sechs Wochen alte C., das Kind von M. und M., und schaukelt ganz leicht hin und her. Vor der Schaukel liegt ein Berg Decken und Kissen für alle Fälle.
Es gibt Merguez und Steaks und Chicken Wings, die die I. mariniert hat. Es gibt auch Salat und Guacamole, es gibt Bier und Sekt und Bionade, und als der S. aus dem Büro nach Hause kommt, liegen wir zu fünft im Anbau auf den Sofas und erzählen uns träge und ziemlich verlangsamt irgendetwas über nichts. Ab und zu schauen wir im Internet, wie in Japan die Welt untergeht, und wundern uns ein bißchen, dass auch in echt alle Katastrophen aussehen wie von Roland Emmerich. „Unfassbar.“, sagen wir, weil man zu diesen Bildern nichts anderes sagen kann, als dass es so etwas nicht geben soll, und dann trinken wir noch etwas mehr und essen Nüsse und buchen für eine Woche alle zusammen im Juni ein Haus am Meer.
„Ich war noch nie auf Usedom.“, sage ich und schaue mir die Bilder von Usedom an, auf denen das Meer aussieht, als sei es zum Vergnügen da, und denke nicht an die Bilder, auf denen sich der Pazifik eine ganze Stadt nimmt mit Häusern und Autos und echten Menschen, weil es nicht auszuhalten ist, wie zerbrechlich das ist, was wir bewohnen, wie es schmelzen kann von einem Moment auf den anderen, und wie wenig Gewicht uns zukommt auf der Waage der Welt.
Tanja Dückers also. Tanja Dückers liest im .HBC. Ich habe nichts von Tanja Dückers gelesen. Ich habe nur etwas von Tanja Dückers gekauft, aber die ungelesenen Bücher stapeln sich gerade auf der weißen Kommode neben meinem Schmuck, und deswegen weiß ich nicht so richtig, was mich erwartet. Es geht um Westberlin, diese fremde, irgendwie gestrige Welt, einen Tunnel in die Welt meiner Kindheit. Es geht um das Jahr 1982, in dem ich zur Schule gekommen bin.
Ich bin ja ein Kind der Achtziger mit allem, was so landläufig dazugehört. Ich weiß noch, wie die Achtziger riechen, wie sie sich angefühlt haben, dieses handwarme, ewige Jahrzehnt, in dem ich erst ein kleines Kind war, dann ein Schulmädchen, schließlich ein Teenager. Das erste Mal verliebt. Die ersten Niederlagen. Erst ganz gut in der Schule, dann immer schlechter. 1990 war ich die Katastrophe, die sich 1995 schließlich sustantiell unverändert ein unglaubliches Abi abgeholt hat.
Hausers Zimmer spielt im linksliberalen Milieu Westberlins, irgendwo in Charlottenburg. Die Wohnung der Eltern der Ich-Erzählerin kann ich mir vorstellen. So ähnlich haben viele Leute gewohnt, die meine Eltern kannten. Auch das Mächen kann ich mir vorstellen mit seiner Neugierde, der schlecht getarnten Schüchternheit und der Neigung, alles Mögliche zu projizieren, sich ungalubliche Dinge auszudenken, weit jenseits der Grenzen der Realität.
Mit Frau Kitty rede ich ein bißchen über Westberlin, das ich nicht gut kenne wie sie. Sie hat da gewohnt, ich nie. Ich bin nach Berlin gezogen und in den Osten gezogen wie damals jeder. Der Osten fühlte sich damals fremd an, aufregend und voller Abenteuer, die dann niemals stattgefunden haben, aber sie schienen ein Jahrzehnt lang stets nur einen Schritt entfernt zu blühen.
Frau Dückers liest gut, weist die Moderatorin Ursula März resolut zurecht, gegen die ich eine leichte Antipathie fasse, ich weiß nicht wieso. Viellicht ist es nur ihre Art, die Haare zurückzustreichen. Unsympathisch sind mir auch die Kellnerinnen. Schlechter Service wird mir immer lästiger mit den Jahren, als würde die Grundtoleranz, die man der Welt entgegenbringt, nach und nach zusammenschnurren, kleiner und verletzlicher werden, und als wir nach der Lesung bei einem Vietnamesen um die Ecke sitzen, freue ich mich über die schnelle Eilfertigkeit, mit der Sommerrolle und Suppe erscheinen.
Das Buch von Tanja Dückers werde ich wahrscheinlich kaufen, überlege ich mir. Wahrscheinlich lese ich es auch, nehme ich mir vor. Fragt sich nur wann.
„Überhaupt, dieses Jahr gab’s gar keinen 29. Februar.“, sagt er und schüttelt missbilligend den Kopf. „Ups.“, sage ich. Na gut.
„Das merkt nur keiner, weil ohnehin niemand lesen will, wie du jeden Morgen ins Büro fährst, jeden Abend irgendwo essen gehst, und ab und zu schleppt sich deine dicke Katze durchs Bild.“, fährt er fort, und wenn er wirklich vor mir säße, stünde ich jetzt auf und ginge. Geht nur nicht. Der Nörgler wohnt in meinem Kopf. Den Nörgler schleppe ich mit, wohin ich auch gehe.
Was soll ich auch sagen. Donnerstag war ich mit dem M.2 etwas essen im Yum Cha Heroes. Das ist ein netter Laden am Weinbergsweg, gemütlich und nicht so besonders aufregend. Ganz gute Dim Sum gibt es da, und mit dem M.2 habe ich ein paar Stunden herumgesessen und hauptsächlich eine Tagung bewältigt, bei der wir beide waren, umgeben von lauter alten, toten Männern, die so unglaublich waren, dass wir auch vier Wochen später noch das Bedürfnis haben, uns gegenseitig zu versichern, dass wir nicht so sind wie jene. Nie im Leben, nie, und auch nicht danach.
Am Freitag war ich mit dem J. essen. Gemischte Vorspeisen, Polenta und geschmortes Rind, ein guter Chianti und eine fabelhafte Nachspeise aus Kastanienpüree und Sahne im Femmina Morta. Schön ist es da, Holz und dunkle Wände, Kronleuchter, ein für den Winskiez schon eher etwas älteres Publikum und einen Kellner, der aussieht wie ein entlaufener Pirat. Ich bin ganz gern da, am Freitag bin ich meistens zu fertig, um noch irgendwohin zu gehen, wo es nicht reicht, dass man einfach nur so ein wenig pflanzenhaft vor sich hin existiert, und weil die Woche so ermüdend war, lag ich um Mitternacht im Bett und träumte acht Stunden lang ziemlich krauses Zeug, das man niemandem weitersagen kann, weil die Leute sonst denken, man sei irre.
Samstag war dann am Schlimmsten. Morgens zum Ku’damm. Der J. soll einen Smoking bekommen. Außerdem hat der R. Geburtstag. Wir brauchen ein Geschenk. Auch alle anderen Berliner scheinen Geschenke kaufen zu wollen. Vielleicht wollen sie auch etwas für sich. Wie auch immer, sie drängeln und schubsen sich auf den Bürgersteigen, es ist grässlich voll. Mir wird erst unbehaglich, dann werde ich aggressiv, und als ich um 18.30 in Mitte beim Hasir erscheine, reicht es mir eigentlich mit anderen Menschen. Man weise mir eine Wüstenei. Ich werde noch heute Stylitin, irgendwo außerhalb von Berlin. Möge die Säule hoch sein und andere Menschen irgendwo anders.
Für die I., den R. und die C. immerhin reicht es noch mit meiner Menschenfreundlichkeit. Sogar der Film gefällt mir. Colin Firth sehe ich immer ganz gern, von mir aus auch als König. Der darf auch auf die Säule, denke ich mir. Irgendwann nachts sitze ich mit dem J. im Visite ma tente inmitten von Rauch und weichem, diffusem Licht. Ich trinke Kir. Ich schmecke der Säure nach und der Süße. Die Nächte sind das Beste an Berlin, sage ich mir, und der Nörgler in meinem Kopf schweigt und lehnt sich an die warme Innenseite aus Knochen und seufzt mir ins Ohr, als wolle er auch mir etwas sehr Nettes sagen.
Auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Die mit Farbe zu oft übermalte Rosette. Der neue Stuck, der nie ganz echt aussieht. Die grünen Vorhänge. Der Spalt zwischen Vorhang und Fenster, hinter dem die Nacht klafft wie ein schwarzes Loch. Da könntest du hineinfallen, sage ich mir, aber zum Fallen ist es viel zu spät. Die Nacht funkelt da draußen ohne mich.
Ein paar Seiten in Nicole Krauss Geschichte der Liebe, das schon ganz gut ist, aber nicht so gut, dass ich es in einem Zug durchlesen würde. Die ganzen Leute kenne ich schon, denke ich und lege mir das Buch mit dem Rücken nach oben auf den Bauch. Die Handlung ist recht simpel so an sich, und handelt von einem Buch, das ein junger Mann am Vorabend des zweiten Weltkriegs in Polen für seine große Liebe verfasst, bevor der Holocaust diese Welt verschlingt. Der junge Mann verliert seine Liebe, seine Heimat, sein Buch und seine Familie und wird schließlich ein alter Mann in New York. Sein Buch hat ein anderer unter seinem eigenen Namen publiziert. Entlang des anderen Strangs der Geschichte sucht ein junges Mädchen in New York, das den Namen der Romanheldin trägt, diese Frau und wickelt die Geschichte so vom hinteren Ende auf.
Krauss erzählt indes nicht linear. Die Geschichte springt von einer Ebene zur anderen, und auch wenn dies gelegentlich gut funktioniert und die einzelnen Strähnen zu einem straffen Zopf verflochten prangen, so wirken die Sprünge bisweilen doch arg artifiziell. Krauss hat Humor, das ist nett, aber manchmal versteigt das Buch sich in die Sphäre von reinem Kitsch. Gerade die Auszüge aus dem Buch, das der junge Mann für die Frau, die dann in New York einen anderen heiratet, schreibt, sind stellenweise schwer die Möwe Jonathan. Bisweilen werde ich entsetzlich müde über dem Buch und schließe die Augen.
Irgendwo in einer Ecke raschelt der Kater. Müde bin ich heute abend, müde bin ich meistens in diesen Tagen, angestrengt und ein wenig reizbar. Die Stadt strengt mich an. Die Kälte. Mein ganzer, etwas dünnflüssiger, etwas allzu vorhersehbarer Alltag langweilt mich, und selbst der Sonnenschein erscheint mir attrappenhaft und nicht ganz echt. Sieht ja nur warm aus. Ist trotzdem kalt.
Irgendwann schlage ich das Buch zu. Morgen werde ich weiterlesen, übermorgen vielleicht, aber so arg interessiert mich gerade nicht, wie es weitergeht. Ein paar der verzerrten Träume Adornos aus den bei Suhrkamp erschienen Traumprotokollen werde ich noch lesen, wie stets mit dem seltsam beklommenen Gefühl, in einen verbotenen Raum eingetreten zu sein, wie es ihn in meinem Dasein inzwischen kaum mehr gibt, in dem die Türen zugewachsen sind, die meine Welt mit den anderen Welten verbindet.
Auf dem Weg vom Büro zum Italiener schaue ich in den Spiegel. Ein bißchen blass siehst du aus, tadele ich mein Spiegelbild für die vielen Stunden in geschlossenen Räumen. Du solltest mehr vor die Tür gehen, rate ich und wuschele mir ein paarmal durchs Haar. Ich habe mehrere Kilo Haar, habe ich das Gefühl, und zwei bis drei Pfund von der Fülle stehen immer in die falsche Richtung ab.
Ein bißchen sehr hochgeschlossen ist das Kleid, das ich anhabe. Selbst für einen Montagabend sehe ich ein wenig langweilig aus. Schwarz und knielang ist das Kleid, schließt ab bis zum Hals, und auch wenn ich keinen hüftlangen Cardigan trüge, sähe man schlicht nichts von mir. Dieses Kleid ist der Tschador unter den Kleidern Berlins, stelle ich fest. Ich könnte ohne mich umzuziehen an einer katholischen Mädchenschule unterrichten, mustere ich mich im Spiegel und überlege kurz, welches Fach. Deutsch vermutlich. Deutsch und Latein. Über die fusseligen Wollstrumpfhosen dagegen diskutiere ich nicht einmal mit mir selbst. Einfach zu kalt ist es für feine 20 den tights, selbst mit den schwarzen Stiefeln viel zu kalt, zumal, wenn man immer Rad fährt, weil man ja nicht Auto fahren kann und nur sehr, sehr ungern die M 4 besteigt.
Jane Russell ist tot, lese ich auf dem iPhone im Fahrstuhl nach unten und schaue mir die Bilder der Toten an. So schön werde ich nie gewesen sein, schießt es mir durch den Kopf, und ich schelte mich ein bißchen für diesen albernen Gedanken. Ich bin doch Rechtsanwältin und nicht Göttin. So begehrt werde ich nie gewesen sein, schiebt sich leise und lächerlich ein Anschlussgedanke in meinen Kopf. Egal, herrsche ich mich an und trällere ein bißchen auf dem Weg zu meinem Rad. I’m looking for trouble, summe ich und stochere mit dem Schlüssel im Schloss.
Lebe hoch, mein Lieber, denke ich und schaue dem J. beim Aufwachen zu. Zwei Stunden haben wir noch Zeit, dann kommen die I. und der S., die M. und der M. mit ihrer kleinen Tochter, keinen Monat alt, die I. und der R. mit ihrer zwei Tage älteren ebenso kleinen Tochter und der S. und die M., die ohne Kind kommen, weil das Kind schon so groß ist, dass es die Freunde der Eltern nicht für gottgebene Quasiverwandte hält, sondern für alt.
Lebe hoch, sage ich nun halblaut und küsse den J. auf die Nase. Herzlichen Glückwunsch. Lebe laut, flüstere ich ihm zu. Lebe glücklich auch im neuen Lebensjahr. Feiere, dass das Leben gut zu Dir war und ist. Freue Dich Deiner Freunde, streichele Deine Katzen. Sei dankbar, dass Du keine Sorgen hast und die Ärzte auch dann nichts finden, wenn Du meinst, dass da was ist. Hau auf die Pauke, wo immer Du eine findest. Geh tanzen, solange Du tanzen magst und lass es Dir schmecken.
Lebe lustig, mein Lieber, ziehe ich den J. an den Ohren, bis er die Augen öffnet, denn wir müssen noch aufräumen bis elf. Sei besungen und gefeiert, lebe fröhlich zwischen rosa Wolken aus Leichtsinn und Glück. Steige hoch, mein Lieber, mit feuerfesten Flügeln aus Teflon. Lass die Drachen leben und spann sie allesamt vor Deinen Karren. Lebe hoch, mein Lieber, ziehe ich den J. in die Dusche, denn Du hast Geburtstag, und sei gesegnet, mein Lieber, unter den Männern der Stadt.
Am Freitag bringt man mir ein Päckchen ins Büro. Es ist an mich adressiert, das schon, allerdings enthält es kein Geschenk für mich, sondern ein Geschenk für den J. Der J. hat nämlich am 27.02. Geburtstag.
Das Geschenk ist von seinen Eltern. Seine Eltern wollen nicht, dass wir Samstag bei der Post anstehen müssen. Deswegen schicken sie Päckchen lieber ins Büro. Warum zu mir und nicht zum J. weiß allerdings der Teufel. Vielleicht haben sie Angst, er könne das Päckchen vorzeitig öffnen. Entsprechend bringt mir also eine der Damen vom Empfang das Päckchen von rund 20 x 25 x 15 cm Ausmaß in braunem Packpapier mit getipptem Adressaufkleber auf der Vorderseite in mein Büro. „Danke!“, sage ich und strecke die Hand nach dem Päckchen aus. Ich halte das Geschenk hoch und schüttele es vorsichtig. Man hört rein nichts.
Am Abend bringe ich das Päckchen mit und gebe es dem J. Der J., finde ich, soll es nun selber tragen. Auch der J. hält das Päckchen ans Ohr, er wiegt es in der Hand, er dreht und wendet das Päckchen. Das Päckchen ist undurchdringlich. Das Packpapier ist sichtlich von des J. Mutter um eine Schachtel gewickelt worden und gibt keinerlei Hinweis darauf, woher das Päckchen stammt.
Am Samstag steht das Päckchen auf dem Küchenschrank. Ich wirbele durch die Küche, backe erst einen Sauerkrautkuchen und dann eine Nougat-Karamell-Buttercremetorte, brate Bouletten und bereite kalte Platten für das Frühstück vor, zu dem der J. am nächsten Morgen geladen hat. Ab und zu wandert mein Blick zum Schrank. Den Eltern des J. traue ich an sich als Geschenk lediglich Geld und Heimtextilien zu. Für Bettwäsche oder Handtücher ist das Päckchen aber viel zu klein. Zeitweise fürchte ich einen Becher aus Bürgeler Keramik. Die Mutter des J. findet die klobigen, blauen, weißgetupften Becher super und hat entsprechend zu Weihnachten einen Becher erhalten, auf dem ihr Name stand. Möglicherweise hat sie sich – zutiefst erfreut – nun revanchiert. „Dann würde Zerbrechlich auf dem Päckchen stehen.“, verneint der J. diese Ansicht und schüttelt das Päckchen selbst noch ein paarmal.
Um Mitternacht gibt es Champagner. Der J. bekommt ein Geschenk von mir. Ich singe so laut und schön wie ich kann ein Geburtstagslied speziell für den J., wir stoßen an, und dann öffnet der J. das Päckchen. Es enthält keine Keramik. Es enthält keine Heimtextilien. Es enthält eine Flasche Molton Brown Duschgel, eine Parfumprobe und – oh Unfassbarkeit des menschlichen Geistes – ein kleines, grünes, steinernes Ei.
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