Gegen drei Uhr nachts wache ich schlagartig auf. Auf meinem Brustkorb sitzt mein Kater und grinst wie die Cheshire Cat persönlich, nur dass in diesem Fall nicht nur das Grinsen anwesend ist, sondern auch die Katze selbst, und die Katze ist schwer. Ich kaufe doch wieder Diätfutter, ächze ich und schubse den Kater vom Bett.
Zwei Stunden später bin ich wieder wach. Mag sein, es ist der Vollmond. Vielleicht ist es aber auch einfach nur ein wüster Traum, in dem ein loser Bekannter vorkommt, der sich vor mir auszieht, erst den Mantel, dann den Anzug (ich habe ihn kaum jemals im Anzug gesehen), schließlich die Wäsche (American Apparel, rot) und am Ende die Haut. Rot, blutig und abgezogen strahlt er mich an, nicht ganz so grinsend wie der Kater, aber sichtlich vergnügt. Als er nach mir langt, weiche ich zurück. Er setzt nach. Heftiges Herzklopfen. Ich flüchte angstvoll und angewidert aus dem Traum in die Dunkelheit meines Schlafzimmers. Leicht benommen in meinem Bett sitzend erinnere ich mich an die ziemlich gute Musik im Traum, etwas basslastig, aber wirklich gut, und auf dem neuen Katzenbett sitzt der Kater, hellwach auch er. Er grinst nach wie vor, als sei er mir einen entscheidenden Schritt voraus.
Als ich wieder erwache ist es halb neun. Der Kater steht an der Bettkante, die Vorderpfoten auf dem Rahmen. Er blinzelt. Auch er scheint müde zu sein. Gegrinst, so viel steht fest, wird hier nur nachts.
Man darf sich da nicht täuschen lassen: Es wird kalt. Von jetzt bis Ende April wird es brutal schneien und stürmen. Niederschläge in Berlins sind ja immer ein bißchen so wie Streuwaffeneinschlag. Außerdem wird es monatelang nicht richtig hell. Die Bürgersteige werden, weil keiner räumt, Eisbuckel tragen und sich auflehnen gegen die Fußgänger dieser Stadt. Wer das Haus verlässt wird auf der Stelle gefriergetrocknet werden, und wer irgendwohin hinfährt, gelangt höchstwahrscheinlich nicht mehr unbeschadet wieder heim. Es bedarf also Vorkehrungen. Der J. und ich haben uns bevorratet.
Was Lebensmittel angeht, haben wir im Wesentlichen Marmelade im Haus. Wir besitzen ungefähr 40 Gläser gute, hausgemachte Marmelade, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und außerdem sitzt im Erdgeschoss ein Bäcker. Was man aber im Haus haben sollte, ist etwas zu lesen. Ich war also im Antiquariat. Ich habe nun genug Bücher für sechs Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt. Ich habe Romane aus drei Jahrhunderten und vier Kontinenten gekauft. Ich habe dicke Bücher von französischen Strukturalisten, falls ich es diesen Winter schaffen sollte, ein bißchen gebildeter zu werden, als ich es bin. Ich habe Bücher über politische Theorie und New York. Ich habe Bücher über berühmte Leute und wahnsinnige Erfindungen. Ich habe genug zu lesen. Das ist beruhigend.
Weil man nicht den ganzen Winter lesen kann, habe ich auch DVDs erworben. Wir haben keinen Fernseher; das Medium interessiert mich nicht so. Ab und zu will ich trotzdem Filme sehe. Wir kaufen also Batman Begins, Beeing John Malkovich, Prestige, noch ein paar Klassiker, ein bißchen was zum Lachen und eine Staffel West Wing. Die schauen wir gleich.
Drei Folgen später ist es spät. Ich gähne. Müde bin ich, eigentlich könnte ich auch schlafen, aber wenn ich schlafen gehe am Samstag um zwei, dann bin ich schon fast tot, dann ist fast Winter, dann bin ich eine alte Frau mit einem Buch und einer Teetasse, und so ziehe ich mich noch einmal an, male mir die Lippen, lächele probehalber in den Spiegel und fahre los. Taxi. Erst in die Bar drei, dann ins Lass uns Freunde bleiben. Dann schlafe ich ein. Der Winter wird lang. Vielleicht wird er niemals enden.
Haben Sie sich eigentlich auch so erschreckt wie ich? Sie nesteln also so gegen 22.00 Uhr in Mitte an meinem Fahrrad herum, sie zerren an der Kette, reißen ein bißchen am Sattel, so etwa, und dann komme ich auf einmal um die Ecke. „Was machen sie denn da?“, frage ich, völlig perplex, und Sie schauen auf. Da stehe ich. Drei Meter entfernt. Klein, rundlich, blauer Dufflecoat, schwarze Haare, und schaue Sie an. Sie schauen zurück.
Für zwei, drei Sekunden fällt keinem von uns beiden etwas ein. „Wollen sie etwa mein Fahrrad stehlen?“, erscheint mir etwas plump, obwohl ersichtlich gerade dies Sinn und Zweck Ihres Treibens darstellt. Was Sie gern sagen würden, aber es nicht tun, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht würden Sie mich gern in Luft auflösen und mit dem Rad verschwinden. Vielleicht bezieht sich Ihr Wunsch mit der Auflösung in Luft aber momentan auch eher auf sich selbst. Sie schauen mich jedenfalls an wie die sprichwörtliche Kuh, wenn’s donnert.
„Ist das ihr Rad?“, fragen Sie mich irgendwann, als könnte da irgendein Zweifel bestehen. Gut, vielleicht bin ich ja auch nicht die Eigentümerin dieses Gefährts, sondern bloß eine konkurrierende Fahrraddiebin, aber bedenken Sie: Warum sollte jemand, der nicht so fertig aussieht wie Sie, ein dermaßen unscheinbares Fahrrad stehlen? Zur Sicherheit (und weil mir nichts Intelligenteres einfällt dazu) bestätige ich Ihre Vermutung. Sie trotten davon.
Falls mich jemand fragen würde, wie Sie aussehen, könnte ich Sie höchstens ziemlich ungefähr beschreiben. Ich denke, Sie sind so ca. 25. Sie sind so ein eher leptosomer Typ, blond, etwas farblos, und Ihre blaue Daunenjacke steht Ihnen nicht. Sie haben eine ganz ausgesprochen schlechte Haltung.
Sie haben aus meiner Sicht aber ohnehin ein Problem, finde ich. Sie sollten vor allem das mit den Rädern besser lassen. Das kann ziemlich unangenehm werden, wenn Sie mal an den Falschen geraten. Ich sage nur: Staatsanwalt. Vielleicht halten Sie sich einfach besser an ein eigenes Rad oder gehen zu Fuß. Außerdem, aber dies nur am Rande, brauchen Sie einen anständigen Friseur und sollten etwas gegen Ihren Haltungsschaden unternehmen, Sport, was weiß ich, Sie wissen schon, das haben Ihnen bestimmt schon andere gesagt. Ich sage es Ihnen nicht, ich bin schlicht froh, dass Sie weg sind, ich schließe mein Fahrradschloss auf und fahre heim. Es ist dunkel und kalt.
Auf der Torstraße treffe ich einen großen, roten Fuchs, der mich anschaut. Chaos regiert, raunt der Fuchs mir zu, und ich sehe ihm nach auf dem Weg durch die Nacht.
Morgens wache ich auf und habe einen sehr speziellen Appetit. Ananas vielleicht, Litschi, denke ich und reibe mir ganz verschlafen die Augen. Fruchtig soll es sein, auf diese spezielle Weise aromatisch wie manches Obst. Keine Zitrusfrucht, auch kein Apfel, erst recht keine Banane, aber auch nicht so sommerlich wie Melonen oder Beeren. Obst soll es sein. Aber Ananas oder etwas Exotisches ist es bei näherer Betrachtung dann doch nicht.
Im Büro weitere Halluzinationen von Früchten. Gegen Mittag wird es würziger, Ingwer wäre gut, ein Saft vielleicht. Rote Beete, Ingwer, Orange und eine Banane, damit es nahrhafter wird. Ich habe Hunger. Leider ist es nichts dergleichen greifbar.
Nachmittags wird mein Appetit heftiger. Schärfe stelle ich mir, auch gern etwas salzig, denke ich nun und schaue in den kalten, grauen Tag hinaus. Gleichzeitig soll es frisch sein und moussierend am besten, ein würziges Sorbet vielleicht, keinesfalls cremig oder mehlig. Etwas Stumpfes würde mich abstoßen. Ein Knödel etwa, eine gebratene Ente: Auf keinen Fall.
Abends daheim koche ich einen Kürbis. Mit einer roten Currypaste und ein bißchen Meersalz wird der Kürbis püriert, das schmeckt gut, aber das, was ich haben will, ist es immer noch nicht. Gesättigt, aber nicht zufrieden gehe ich schlafen. Keine Träume, erst recht nicht von Obst.
„Ihr seid zwei sehr nette Katzen.“, sage ich zu den Katzen, weil sonst keiner da ist, mit dem ich sprechen könnte und reiße die Kühlschranktür weit auf. Es ist 22.30 Uhr, mein Kühlschrank enthält Senf, ein paar Currypasten, Käse und Butter, aber weil ich kein Brot mehr habe, schließe ich den Kühlschrank und gehe ohne Essen schlafen. So spät essen ist eh ungesund, tröste ich mich und bestaste meinen Bauch. Ich sollte häufiger nichts essen, sage ich mir, aber das hilft auch nichts.
Im Bett lese ich ein wenig unkonzentriert im neuen, sehr schlechten Bret Easton Ellis. Bret Easton Ellis habe ich mal geliebt, vor vielen, vielen Jahren, aber das ist so lange her, dass ich es kaum mehr glauben kann, und Bret Easton Ellis hat seither wenig dafür getan, diese Neigung aufrechtzuerhalten. „Mir ist langweilig.“, sage ich dem Kater, der auf seinem roten Kissen liegt und seufzt, als ginge es ihm nicht anders. Die Katze dagegen sitzt, nein: thront auf dem neuen Himmelbett, das riesengroß an der Schmalseite des Schlafzimmers steht. Einen zufriedenen Eindruck macht die Katze, so, als gebe es außer Trockenfutter und einem Himmelbett nicht mehr zu wünschen auf Erden, und für einen Moment beneide ich das Tier um die Erfüllbarkeit seiner Wünsche.
Mein Urlaub ist zuende. Statt irgendwann so gegen Mittag stehe ich deshalb um 8.30 auf und schleppe mich in die Dusche. Ich dusche immer ganz, ganz lange. Nach und nach drehe ich den Hebel immer weiter Richtung „heiß“. Es ist kalt geworden. Im halb beschlagenen Spiegel schaue ich mir in die Augen. Nicht meine Zeit, blinzelt mein Spiegelbild mich an.
Immerhin ist es morgens noch hell. Zehn Minuten brauche ich zur Arbeit, die Greifswalder abwärts fahre ich seit ein paar Monaten, nicht mehr die Schönhauser entlang. An der Ampel am Alexa treffe ich Mek. Schottland, finde ich, hört sich gut an. In Gedanken bin ich schon im Büro, gleich darauf betrete ich tatsächlich die Halle, den Fahrstuhl, 1 – 2 – 3 – 4 – 5, dann bin ich da. Kaffee. Hunderte E-Mails. Ja, schön war’s. Nur ein bißchen verregnet, sage ich ganz oft nach rechts und nach links und freue mich tatsächlich ein bißchen, dass alle noch da sind, und ich bin es auch.
13 Stunden später spuckt mich der Fahrstuhl wieder aus. Es ist spät geworden. Zu Hause wartet der J. und spricht von Schnitzeln im Alt Wien, aber dann sind es doch Tagliatelle misto mare bei Brot und Rosen, weil Montag ist und im Alt Wien alles dunkel.
Alles wie immer, sage ich zum J., und der J. nickt.
Ich bin müde. Ich bin vormittags drei Stunden durch Mitte gelaufen und habe dem Stiefsohn unseres Besuchs Berlin gezeigt. Ich habe zu wenig geschlafen und hätte gern noch ein bißchen länger gefrühstückt und dabei Zeitung gelesen. Ungelesen liegt die Süddeutsche neben dem Sofa und wartet auf eine ruhige halbe Stunde.
Jetzt aber wird es dunkel in der Schaubühne. Die Bühne wird durch Leuchtstäbe illuminiert. Die Bühne selbst ist überflutet, das scheint gerade modern zu sein, im Prinz von Homburg vor ein paar Monaten im Deutschen Theater sah das auch schon so aus, nur rot und nicht schwarz, und Was Ihr wollt spielte in einer Arena aus Schlamm.
Auf der Bühne stehen ein paar Stühle im U. Auf den Stühlen sitzen Othello und Desdemona, Cassio und Jago sitzen nebeneinander, und im Laufe des Abends wird die Bühne mal gekippt, mal begibt man sich zu Heimlichkeiten zwischen die durchsichtigen Wände aus Leuchtstäben, und auch wenn Desdemona ein wenig blaß bleibt, auch wenn die Musik sich bisweilen einen Moment zu lange gefällt, nimmt die Geschichte um Ausgrenzung und Rivalität, falsche Freunde und echte Liebe mich mit. Ich schelte Othello für seine Gutgläubigkeit, ich ärgere mich über den törichten Rodrigo, ich hasse Jago aus ganzem Herzen und werde dann doch für Sekunden zum Intriganten iauf der Bühne, der mit feinnerviger, gieriger Sensibilität für die Schwäche Othellos spielt, siegt und doch alles verliert. Als Desdemona werde ich sterben.
Kalt ist es dann, als ich spät vor der Schaubühne stehe. Der Lehniner Platz ist so weit weg von daheim in diesem viel zu frühen Winter, und zu Hause schlafe ich ein, um etwas Fremdes, Verworrenes zu träumen, das nach Zimt und Muskat riecht, nach Benzin und dem Staub von Bahnhöfen am anderen Ende der Welt und wünsche mir, halb schon erwacht, ich wäre mehr gereist in den letzten zwei Wochen.
Ein Himmelbett. Donnerschlag. Ich besitze seit dem 16.10.2010 um vier Uhr nachmittags ein Himmelbett für Katzen. Ich habe das Himmelbett nicht selbst gekauft, ich hätte diese Anschaffung auch eher nicht so getätigt, aber ein alter Freund des J. besucht uns samt seinem Stiefsohn, dessen Mutter mit solcherlei Tierzubehör handelt und bringt unseren lieben Haustieren das Himmelbett mit. Es ist riesengroß. Ich habe keine Ahnung, wohin mit dem guten Stück.
Der Besuch strengt mich an. Der Studienfreund vom J. ist aus dem Ruhrgebiet und so ungefähr das, was man mit der Phrase mit dem weichen Kern und der rauhen Schale umschreibt. Unsere gemeinsamen Interessen belaufen sich auf glatt null, und weil der Freund vom J. auch keine Anstalten macht, durch das, was man so gemeinhin und zu Unrecht leicht abwertend als „small talk“ bezeichnet, die etwas angestrengte Atmosphäre zu glätten, verordne ich mir Höflichkeit, lächele freundlich und freue mich auf meinen eigenen Besuch. Ich habe die I. und den S. eingeladen. Sie kommen um sieben.
Der Freund vom J. ist zu diesem Zeitpunkt unterwegs und besucht eine Exfreundin. Der – wirklich reizende – Stiefsohn ist bei uns, wir plaudern ein bißchen, ich koche, und als mein Besuch erscheint, bin ich mit Kochen fertig. Es gibt eine Blumenkohlcreme mit Pinien, ganz wenig Ingwer und etwas mehr Zitrone, Entenbrust mit Feigensenf und Feigen, Polenta und einen Käsekuchen. Den Käsekuchen essen wir ganz schnell und gehen dann -der S., die I. und ich – ins Kino. Den Stiefsohn nehmen wir mit. Der J. trifft sich mit seinem Besuch.
Wider Erwarten ist der Film ziemlich gut. Es geht um facebook, nein, es geht eigentlich um Freundschaft, um Verrat, um Macht, um Geld, und weil der Drehbuchschreiber rasante, sehr präzise Dialoge kann, mag ich den Film ziemlich gern. Wie immer, wenn in Filmen die properen Unis der Ivy League auftauchen, beneide ich die Studenten ein wenig. Ich habe an Bruchbuden studiert, meine Kommilitonen waren zu einem gar nicht so kleinen Teil bodenlose Rindviecher und selbst an den (ziemlich angesehenen) Lehrstühlen, an denen ich gearbeitet habe, war die Ausstattung mehr so lala.
Zu den mir alles in allem nicht nachvollziehbaren Kommilitonen meines Studiums gehörte einmal die Exfreundin des Besuchs, eine schon Mitte der Neunziger Jahre schwer hysterische Frau von kaum nachvollziehbaren, aber schwer erträglichen Stimmungsschwankungen. Meine Abneigung beruhte schon damals auf Gegenseitigkeit, und so bin ich sehr erstaunt und ein bißchen verärgert, als diese Frau nach dem Kino in Begleitung von J. und seinem Besuch auf einmal bei uns auftaucht. Was das soll, zische ich dem J. zu. Sie habe sich nicht abschütteln lassen, zischt der J. zurück. Nun gut, sage ich mehr zu mir als zu ihm und atme tief durch. Trinken, höre ich. Wir sollten etwas trinken.
In der Cocktailbar ein paar Häuser weiter schickt man uns weg. Wir haben – so hat es der Besuch beschlossen – den Stiefsohn dabei, in der Bar wird geraucht, und der Stiefsohn ist erkennbar keine 18. Er ist, glaube ich, ungefähr zwölf. Die Exfreundin des Besuchs hebt an, mit dem Doorman zu diskutieren. Offenbar nimmt sie wirklich an, die unglaublich verqualmte Bar sei ein geeigneter Aufenthaltsort für das Kind. Der J. zieht sie förmlich von der Tür weg.
In einer Weinbar etwas weiter finden wir einen rauchfreien Tisch. An hebt eine unglaubliche Diskussion, nein, eher so eine Art Monolog der Exfreundin, den niemand versteht. Sie gerät in emotional offenbar recht aufgewühltes Fahrwasser, es scheint um facebook zu gehen, wobei die Haare in der Suppe, die andere Leute irritieren, offenbar nicht diejenigen sind, die ihr missfallen. Ich kapituliere. Es ist auch egal.
Schwer erschöpft gehen der J., der Stiefsohn und ich nach Hause. Der Besuch, so kündigt er an, komme später nach. Ich schlafe traumlos den Schlaf einer tiefen Erschöpfung.
Menschen von teuflisch schlechtem Geschmack haben ganz offensichtlich die farbige Beleuchtung markanter Gebäude in der ganzen Stadt beschlossen. Die Wirkung ist frappierend: Vom Fernsehturm bis zum Brandenburger Tor sieht ganz Berlin aus wie eine ziemlich billige Attrappe seiner selbst, wie sie etwa in einem Vergnügungspark herumstehen könnte.
Vor den bunten Bauwerken stehen, gehen und staunen Touristen die Stadt an und photographieren. Ich finde Touristen an sich sehr gut, weil irgendwer schließlich diesen nicht gerade vor Produktivität platzenden Ort finanzieren muss, aber ab einer gewissen Konzentration von Menschen pro qm sieht man auch grundsätzlich willkommene Menschen weniger gern als sonst. Der Weg von der abendlichen Lesung im Tucher zurück erst in eine Kneipe an der Auguststraße und dann in den Prenzlauer Berg ist ein wenig, nun, mühsam.
Am Ende gibt es nicht einmal mehr etwas zu essen für den hungrigen Herrn Neft, denn hier, östlich der Prenzlauer Allee, wird es dunkel und leer. Hier stehen keine Touristen und photographieren. Hier trinken keine zwanzigjährigen Briten. Hier feiern die Spanier nicht, hier geht das Umland nicht aus. Hier geht man einfach zu Bett. Einsam leuchtet hier und dort noch ein verlorenes Fenster. Es ist noch nicht einmal eins.
Zugegeben, es hört sich etwas albern an, wenn man klagt, es habe die ganze Zeit geregnet, während man in Portugal war, so als glaube man, einen Anspruch auf einen regenfreien Aufenthalt zu haben, wenn man in Urlaub fährt, was man eher so einem Urlaubstypus zuschreibt, den man jetzt vielleicht so alles in allem nicht so besonders toll findet, weil er komisch aussieht und sich auch nicht so gut benimmt. Es war aber trotzdem nicht so schön mit dem Regen, denn zum einen sieht so eine Stadt im Regen natürlich nicht gut aus, und zum anderen geht man nirgendwo gern hin, wenn es so schrecklich nass ist. Man kann Taxi fahren, schön, aber wo soll man schon groß hin, wenn es so regnet.
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Vor lauter Tristesse habe ich von Lissabon bis Porto die große Augustus-Biographie von Jochen Bleicken in drei Tagen zu Ende gelesen. In den letzten Wochen davor bin ich etwas mühsam vom Tode Caesars bis zum Tode Ciceros gelangt, aber nun geht es schnell. Actium, Prinzipat, Livia, die beiden Iulien werden verbannt, und schon liegt Augustus auf dem Sterbebett, ein letztes Selbstlob, und dann ist das Buch zuende. Keinen Fetzen sympathischer als vor der Lektüre ist mir Augustus auf den paar hundert Seiten zuvor geworden. Ein kalter, machthungriger, bigotter Kerl, ein bißchen ordinär, aber schlau, und dass diese Einschätzung sich nicht nur mir aufdrängt, illustriert ganz besonders der Umstand, dass Bleicken selbst auf den letzten Seiten Augustus gegen den Vorwurf mangelnden Charismas verteidigt.
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Portugal hat – das habe ich im Reiseführer gelesen – sehr, sehr niedrige Löhne, aber gleichzeitig mit die höchsten Lohnstückkosten Europas. Tatsächlich teilt sich dies an allen Ecken und Enden mit. Von dem sehr, sehr langsamen Mitarbeiterstab des Corinthia Hotels in Lissabon bis zu der opernhaft wogenden Runde in so einem Fischrestaurant irgendwo mehr so Richtung Wasser bewegen sich die Potugiesen deutlich langsamer als alle anderen mediterranen Bevölkerungsgruppen, so als sei der Atlantik an sich irgendwie anstrengender als das Mittelmeer und brauche die Energie der Portugiesen gleichsam vollständig auf.
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Über Portugal zu berichten gibt es vermutlich berufenere Stimmen, also für das, was man so gemeinhin das Atmosphärische nennt, das rostrote Mosaik der Dächer der Alfama, so etwa, die leeren Fadolokale im Oktober und der gebratene Fisch. Was aber mitzuteilen bleibt, ist der Ruhm der portugiesischen Zuckerbäcker, deren Blätterteig, die sahnige Füllung der Pastéis de Nata in Belém, im Park mit einem Kaffee von Mc Donalds und einer FAS. Die Frischkäsetaschen in Coimbra (gerade ging es mit Marc Anton rapide abwärts), und die letzten halb zerdrückten, klebrigen Gebäckteilchen im Flug nach Berlin.
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Von Lissabon bis Berlin Alexander Osangs Königstorkinder gelesen, eine so halb auf den letzten Seiten zurückgenommene Affäre zwischen einem ganz, ganz gescheiterten Ostjournalistenstudienabbrecher und einer westdeutschen, auf ihre Art vermutlich ebenso gescheiterten Mutter, die in den neuen weißen, durchaus etwas abschreckenden Häusern bei uns um die Ecke am Friedrichshain wohnt. Die Story über das Phänomen, das Soziologen – warum auch immer schrecklich missbilligend – Gentrifizierung nennen, plätschert so dahin, es geht um West und Ost, als seien das noch interessante Kategorien für irgendwen, und ich habe ein wenig gelangweilt ein paarmal mächtig gegähnt und lange, lange mit dem Finger in der Seite aus dem Fenster geschaut auf die Wolken über Spanien, Frankreich und schließlich Berlin. Berlin.
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